Amnesty Report Algerien 29. April 2015

Algerien 2015

 

Die Behörden schränkten vor allem unmittelbar vor den Präsidentschaftswahlen im April 2014 die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit ein, lösten Demonstrationen auf und schikanierten Menschenrechtsverteidiger. Frauen wurden vor dem Gesetz und im täglichen Leben diskriminiert und waren trotz angekündigter Gesetzesreformen weiterhin nur unzureichend gegen Gewalt geschützt.

Die Verantwortlichen für schwere Menschenrechtsverletzungen während der 1990er Jahre sowie Personen, die sich der Folter und Misshandlung von Häftlingen in den Jahren danach schuldig gemacht hatten, gingen nach wie vor straffrei aus. Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus wurden diskriminiert, misshandelt und willkürlich ausgewiesen. Bewaffnete Gruppierungen verübten Anschläge, bei denen Menschen ums Leben kamen. Todesurteile wurden verhängt, Hinrichtungen gab es jedoch nicht.

Hintergrund

2014 kam es erneut zu sozialen Unruhen aufgrund von Spannungen zwischen der Gemeinschaft der Mozabiten und der arabischen Bevölkerung der Stadt Ghardaïa. Im erdöl- und erdgasreichen Süden des Landes fanden Demonstrationen gegen Arbeitslosigkeit, Armut und Korruption statt. Weitere Protestaktionen richteten sich gegen Präsident Abdelaziz Bouteflikas Entscheidung, zu den Wahlen im April 2014 erneut anzutreten.

Nach den Präsidentschaftswahlen eröffnete die Regierung einen Konsultationsprozess zu den vorgeschlagenen Verfassungsänderungen. Einige politische Parteien boykottierten diesen Prozess jedoch, und die meisten unabhängigen Organisationen der Zivilgesellschaft waren davon ausgeschlossen. Ende 2014 geriet der Konsultationsprozess ins Stocken.

Vor allem im Süden und Osten Algeriens flammten Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und bewaffneten Gruppen wieder auf, allen voran Al-Qaida im islamischen Maghreb (AQIM).

Im Januar 2013 griffen bewaffnete Gruppen die Erdgasförderanlage von In Aménas an, töteten zahlreiche Menschen und nahmen Hunderte von Geiseln, darunter auch ausländische Arbeitskräfte. Daraufhin verstärkten ausländische Regierungen ihre Zusammenarbeit mit Algerien in Sicherheitsfragen. Im September 2014 entführte eine bewaffnete Gruppe namens Jund al-Khalifa (Soldaten des Kalifats) in der Region von Tizi-Ouzou einen französischen Staatsbürger. Dort war es zuvor bereits zu Entführungen mit Lösegeldforderungen gekommen. Später veröffentlichte die Gruppe im Internet ein Video, das die enthauptete Geisel zeigte. Die Ermordung war allem Anschein nach eine Vergeltungsaktion für die Teilnahme Frankreichs am Kampf gegen die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat im Irak unter Federführung der USA. Im Dezember 2014 teilte die Regierung mit, ihre Streitkräfte hätten den Anführer von Jund al-Khalifa und zwei seiner Handlanger getötet.

Im Januar 2014 wurde Algerien Mitglied des UN-Menschenrechtsrats. Trotzdem verweigerte die Regierung noch immer die seit Langem geforderten Besuche der Vertreter von UN-Organen und von Experten zu den Themen Folter, Kampf gegen den Terrorismus, Verschwindenlassen und Vereinigungsfreiheit. Mitarbeiter von Amnesty International erhielten keine Einreiseerlaubnis nach Algerien.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Journalisten und Regierungskritiker wurden von den Behörden in ihrer Arbeit eingeschränkt und in schikanierender Weise strafrechtlichen Verfahren ausgesetzt. Am 12. März 2014 schalteten Sicherheitskräfte den privaten Fernsehsender Al-Atlas TV ab, der über Protestaktionen gegen die Regierung berichtet und einer Reihe von Regierungskritikern Sendezeit eingeräumt hatte. Die Behörden warfen Al-Atlas TV vor, ohne Genehmigung gesendet zu haben.

Am 10. Juni 2014 verurteilte ein Gericht Youcef Ouled Dada zu zwei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe. Er hatte ein Video im Internet veröffentlicht, das Polizeibeamte beim Diebstahl in einem Laden in Ghardaïa während dort stattfindender Zusammenstöße zeigte. Das Gericht befand ihn für schuldig, Fotos und Videos veröffentlicht zu haben, die nicht im nationalen Interesse waren, und eine staatliche Einrichtung diffamiert zu haben. Das Urteil wurde im Berufungsverfahren bestätigt.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Die Behörden untersagten weiterhin alle Demonstrationen in der Hauptstadt Algier. Trotzdem ließen die Sicherheitskräfte einige Kundgebungen zu und griffen nicht ein. In anderen Fällen trieb die Polizei Demonstrierende gewaltsam auseinander, insbesondere Anhänger der Barakat!-Bewegung (barakat = genug), die gegen die Entscheidung des Präsidenten protestierten, im April 2014 für eine vierte Amtszeit zu kandidieren. Einige Demonstrierende wurden festgenommen und meist nach ein paar Stunden in Gewahrsam wieder freigelassen. Auch in anderen Städten löste die Polizei Kundgebungen unter Anwendung von Gewalt auf.

Am 20. April 2014 setzte die Polizei unverhältnismäßige Gewalt bei der Auflösung einer Demonstration in der Stadt Tizi Ouzou ein. Die Protestierenden hatten an die gewaltsame Niederschlagung von Demonstrationen in der Region Kabylei im Jahr 2001 erinnern wollen. Zeugen sagten aus, dass Polizisten unbewaffnete Teilnehmer der Kundgebung geschlagen und Plastikgeschosse auf sie abgefeuert hätten. Eines davon traf Lounis Aliouat am Auge. Er ist seither auf diesem Auge blind. Die Behörden teilten mit, dass fünf Polizeibeamte bis zum Abschluss der Untersuchung der Vorfälle vom Dienst suspendiert worden seien, die Ermittlungsergebnisse wurden jedoch nicht veröffentlicht.

Im Mai 2014 verhängte ein Gericht eine sechsmonatige Freiheitsstrafe auf Bewährung gegen den Studenten Mohand Kadi und den tunesischen Staatsangehörigen Moez Benncir. Die Anklagen lauteten auf "Teilnahme an einer unbewaffneten Versammlung zur Störung der öffentlichen Ordnung". Die Polizei hatte die beiden Männer am 16. April 2014 in der Nähe einer Demonstration der Barakat!-Bewegung in Algier festgenommen. Beide Angeklagten stritten ihre Beteiligung an der Protestaktion ab. Mohand Kadis Urteil wurde im Berufungsverfahren bestätigt.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Im Januar 2014 lief die Frist für die Registrierung existierender Vereinigungen gemäß Gesetz 12-06 ab. Das Gesetz enthält weitreichende und willkürliche Einschränkungen für Vereinigungen wie NGOs und Organisationen der Zivilgesellschaft. Die Mitgliedschaft in einer nicht registrierten, vorübergehend geschlossenen oder aufgelösten Organisation wird mit einer Gefängnisstrafe von bis zu sechs Monaten und einem Bußgeld belegt. Einigen Vereinigungen gelang es, sich registrieren zu lassen, andere mussten auf die Bearbeitung ihrer Zulassungsanträge warten und bewegten sich währenddessen in einer rechtlichen Grauzone.

Die algerische Sektion von Amnesty International war eine von vielen unabhängigen NGOs, die ihre Zulassung ordnungsgemäß nach Gesetz 12-06 beantragt hatten, jedoch trotz wiederholter Nachfragen weder eine Bestätigung über den Empfang ihres Antrags noch eine anderweitige Antwort von den Behörden erhielten.

Frauenrechte

Die Regierung unternahm einige Schritte zur Verbesserung der Rechte von Frauen. Am 1. Februar 2014 trat das Dekret 14-26 in Kraft. Danach sind die staatlichen Behörden zum ersten Mal verpflichtet, Entschädigungszahlungen an Frauen zu leisten, die während des Binnenkonflikts in den 1990er Jahren von Angehörigen bewaffneter Gruppen vergewaltigt worden waren. Die genaue Zahl der Frauen, die Entschädigungszahlungen erhalten haben, war Ende 2014 noch nicht bekannt.

Im Juni brachte die Regierung eine Gesetzesvorlage ein, wonach Gewalt gegen die Ehefrau strafrechtlich verfolgt wird sowie die sexuelle Nötigung einer Frau, sofern sie in der Öffentlichkeit stattgefunden hat. Gemäß der Gesetzesvorlage soll es ebenfalls strafbar werden, eine Ehefrau zu verstoßen oder Nötigung und Einschüchterung anzuwenden, um an das Vermögen der Ehefrau zu gelangen. Ein Gesetzentwurf zur Gründung eines Hilfsfonds für geschiedene Frauen, die das Sorgerecht für ihre Kinder haben und deren ehemalige Ehemänner keinen Unterhalt zahlen, wurde am 26. November vom Parlament verabschiedet. Bis Ende 2014 waren die Gesetzesänderungen jedoch noch nicht in Kraft getreten.

Trotz dieser positiven Entwicklungen boten die bestehenden Gesetze Frauen noch immer keinen ausreichenden Schutz vor Gewalt und sexuellen Übergriffen. So blieb beispielsweise die gesetzliche Bestimmung in Kraft, dass Männer, die ein Mädchen unter 18 Jahren vergewaltigt haben, straffrei ausgehen, wenn sie ihr Opfer ehelichen. Frauenrechtlerinnen führten ihren langen Kampf für eine umfassende Gesetzgebung zur Eindämmung von Gewalt gegen Frauen weiter. Frauen wurden durch das Familienrecht außerdem noch immer hinsichtlich Heirat, Scheidung, Sorgerecht für die Kinder und Erbrecht benachteiligt.

Straflosigkeit

Die Behörden leiteten noch immer keine Schritte zur Untersuchung und Klärung des Schicksals von Tausenden Menschen ein, die während des Binnenkonflikts in den 1990er Jahren dem Verschwindenlassen oder anderen Menschenrechtsverletzungen zum Opfer gefallen waren. Die Familien der "Verschwundenen" forderten weiterhin Auskunft über das Schicksal ihrer Angehörigen, so auch am Jahrestag der Verabschiedung der Charta für Frieden und Nationale Versöhnung (Charte pour la Paix et la Réconciliation Nationale). Dieses Gesetzeswerk gewährt den Sicherheitskräften Straffreiheit und stellt jede Form von öffentlicher Kritik an ihrem Vorgehen unter Strafe.

In fünf Fällen von Verschwindenlassen kam der UN-Menschenrechtsausschuss 2014 zu einer Entscheidung und forderte die Behörden nachdrücklich auf, diese Fälle gründlich zu untersuchen, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen und den Angehörigen der "Verschwundenen" den Zugang zu wirksamen Rechtsbehelfen zu ermöglichen.

Die Behörden unternahmen keine Schritte zur Umsetzung der Empfehlungen des UN-Ausschusses gegen Folter, die im November 2013 anlässlich des Todes von Mounir Hammouche ausgesprochen worden waren. Der Mann war im Dezember 2006 im Gewahrsam des Geheimdienstes (Département du Renseignement et de la Sécurité – DRS) gestorben. Der Ausschuss forderte eine unparteiische Untersuchung der Umstände seines Todes, die strafrechtliche Verfolgung derjenigen, die für die Folterungen verantwortlich sind, sowie umfassende Entschädigungszahlungen an die Verwandten des Verstorbenen.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Bewaffnete Gruppierungen verübten 2014 eine Reihe von Anschlägen auf Angehörige der Sicherheitskräfte. Im September entführte die bewaffnete Gruppe Jund al-Khalifa den französischen Staatsangehörigen Hervé Gourdel und tötete ihn. Im Internet tauchte kurz darauf ein Video auf, das ihn nach seiner Enthauptung zeigte.

Regierungs- und Medienberichten zufolge töteten die Sicherheitskräfte 2014 zahlreiche Angehörige bewaffneter Gruppierungen. Die näheren Umstände blieben im Dunkeln, und es steht zu befürchten, dass es sich bei einigen Vorfällen um außergerichtliche Hinrichtungen handeln könnte.

Trotz Berichten über interne Machtkämpfe unter den Entscheidungsträgern verfügte der Geheimdienst über umfassende Befugnisse, was die Festnahme und Inhaftierung von Terrorverdächtigen anging. Die Verdächtigen wurden häufig ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten, was Folter und anderen Misshandlungen Vorschub leistete. Im Juni 2014 erließ der Präsident das Dekret 14-183 zur Einrichtung einer internen Untersuchungskommission des Geheimdienstes. Zu ihren Aufgaben gehören die Verhinderung und Bekämpfung von terroristischen Aktivitäten, von Handlungen zur Unterwanderung der staatlichen Sicherheit und von Aktivitäten internationaler krimineller Vereinigungen, die als eine Bedrohung der nationalen Sicherheit Algeriens angesehen werden.

Im März 2014 überstellten die US-Behörden Ahmed Belbacha aus der Hafteinrichtung Guantánamo Bay auf Kuba nach Algerien. Er war ohne Anklage oder Gerichtsverfahren seit über zwölf Jahren in Guantánamo inhaftiert gewesen. 2009 hatte ihn ein algerisches Gericht in Abwesenheit zu 20 Jahren Haft verurteilt. Im Dezember 2014 wurde Ahmed Belbacha vor dem Strafgericht in Algier von dem Verdacht terroristischer Handlungen freigesprochen.

Rechte von Flüchtlingen und Migranten

Migranten waren nach wie vor Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Sie wurden diskriminiert und willkürlich ausgewiesen. Die Regierung gab nicht bekannt, wie viele Personen 2014 ausgewiesen wurden. Berichten zufolge handelte es sich jedoch um Hunderte Migranten, von denen viele ohne Gewährleistung des Rechtsstaatsprinzips und von Verfahrensgarantien das Land verlassen mussten.

Migranten ohne regulären Aufenthaltsstatus oder ohne Papiere waren besonders gefährdet, Opfer von Gewalt, Fremdenfeindlichkeit oder Ausweisung zu werden. Im Januar 2014 wurde eine Frau aus Kamerun festgenommen, weil sie sich ohne regulären Aufenthaltsstatus in Algerien aufhielt. Sie war zur Polizei in Oran gegangen, um Anzeige zu erstatten, weil sie vergewaltigt worden war.

Erneut versuchten Tausende Algerier als Migranten (sogenannte harragas) auf dem gefährlichen Weg über das Mittelmeer von Algerien nach Europa zu gelangen. Auch ausländische Staatsbürger, meist aus den Ländern südlich der Sahara, brachen von Algerien aus nach Europa auf. Ein Gesetz von 2009 hatte die "illegale" Ausreise aus Algerien mit gefälschten Dokumenten und die Ausreise über andere Grenzübergänge als die offiziellen Ausreisehäfen unter Strafe gestellt.

Todesstrafe

Gerichte in Algerien verhängten auch 2014 Todesurteile. Es gab jedoch keine Hinrichtungen.

Im November 2014 stimmte Algerien für eine Resolution der UN-Generalversammlung für ein weltweites Todesstrafenmoratorium.

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