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Anliegen von Amnesty International zur Frühjahrstagung der ständigen Konferenz der Innenminister und -Senatoren der Länder vom 17. bis 19. Juni 2020
LANDESAUFNAHMEPROGRAMME FÜR SCHUTZSUCHENDE AUS GRIECHENLAND
Die Situation für die über 38.000 Schutzsuchenden auf den griechischen Inseln ist unverändert katastrophal. Der Ausbruch der Corona-Pandemie hat die Lage abermals deutlich verschärft, da der Zugang zu hygienischer oder medizinischer Versorgung kaum gewährleistet ist. Deshalb hatten sich im Februar 2020 einige europäische Mitgliedstaaten, u.a. Deutschland, dazu bereiterklärt, insgesamt 1.600 besonders Schutzbedürftige im Wege der solidarischen Umverteilung innerhalb der EU (Relocation) aus den Lagern aufzunehmen. Bislang sind allerdings in Deutschland nur 47 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge angekommen. Amnesty International hat die geplanten Zusagen grundsätzlich begrüßt. Angesichts der menschenunwürdigen Zustände in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln ist es aber geboten, deutlich mehr Schutzsuchende auch hier in Deutschland aufzunehmen [1]. Neben der zügigen Herstellung der Familieneinheit unter der Dublin III-Verordnung und der zeitnahen Aufnahme weiterer Schutzbedürftiger im Rahmen der Relocation durch den Bund stellen Landesaufnahmeprogramme einen wichtigen Beitrag zur Lösung der humanitären Krise dar.
Amnesty International bittet die Innenminister_innen und –senatoren deshalb eindringlich, zügig Landesaufnahmeprogramme zur Aufnahme besonders Schutzbedürftiger aus Griechenland zu starten.
Keine Abschiebehaft während der Corona-Krise
Mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie wurden zunehmend Grenzen und Flughäfen geschlossen. Abschiebungen von abgelehnten Asylsuchenden aus Deutschland in deren Herkunftsländer wurden aus diesem Grund bald unmöglich. Trotzdem sind nach gegenwärtigem Kenntnisstand noch immer nicht alle Menschen aus der Abschiebungshaft entlassen worden. Nach Auffassung von Amnesty International kommt eine Abschiebungshaft grundsätzlich nur als letztes Mittel in Betracht, wenn keine weniger einschneidenden Maßnahmen angewandt werden können. Deshalb sollten Modelle für Alternativen zur Abschiebungshaft entwickelt werden. Auch setzt die Abschiebungshaft eine durch die Haft zu sichernde Abschiebung voraus. Vor dem Hintergrund dessen, dass – wie zur Zeit der Corona-Krise – Abschiebungen für einen unbestimmten Zeitraum nicht möglich sein werden, sind die Inhaftierten umgehend aus der Haft zu entlassen [2]. Sobald der zwangsweisen Rückführung ausreisepflichtiger Personen keine Grenz- oder Flughafenschließungen mehr entgegenstehen, sollte zudem im Einzelfall geprüft werden, inwiefern die in Folge der Pandemie ggfs. angespannte Situation im Gesundheitswesen des Zielstaates eine Abschiebung unverhältnismäßig erscheinen lässt.
Amnesty International fordert die Innenminister_innen und –senatoren auf, anzuordnen, dass ausreisepflichtige Personen, die sich noch in Abschiebungshaft befinden, obgleich deren Abschiebung derzeit nicht möglich ist, umgehend aus der Haft entlassen werden.
Schutz von Bewohner_innen von Flüchtlingsunterkünften in der Corona-Krise
Die Corona-Krise hat auch Einfluss auf die Unterbringung von Schutzsuchenden in den Bundesländern. In den Unterbringungseinrichtungen der Länder sind oft Hunderte von Menschen ohne Einzelzimmer, separate Küchen oder Sanitärbereiche untergracht. Für besonders gefährdete Personengruppen wie ältere Menschen oder solche mit Vorerkrankungen stellt dies eine besondere Gefahr dar. Sofern die Belegungsdichte, die von der Regierung vorgegebenen Maßnahmen im Hinblick auf Abstands- und Hygieneregeln nicht zulässt, appelliert Amnesty International an die Landesinnenminister_innen und -senatoren durch geeignete Maßnahmen, wie z.B. eine Umverlegung der betroffenen Personen zu reagieren [3]. Der Zugang zu einer adäquaten medizinischen und psychologischen Versorgung wie auch zu für die Betroffenen verständlichen Informationen ist in allen Fällen zu gewährleisten.
Sicherheitslage in Syrien – Abschiebungsstopp Verlängern
Amnesty International ist weiterhin besorgt über die katastrophale Menschenrechtslage in Syrien. Der am 11. Mai 2020 veröffentlichte Amnesty-Bericht "Nowhere is safe for us: Unlawful attacks and mass displacement in north-west Syria" dokumentiert bei der jüngsten Offensive im Nordwesten Syriens eine Fortsetzung des Musters gezielter Angriffe der syrischen Regierung, unterstützt von Russland, auf die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen wie Schulen und Krankenhäuser. Bei diesen Angriffen handelt es sich um Kriegsverbrechen. Die jüngsten Angriffe auf Idlib zwangen zwischen Dezember 2019 und März 2020 nahezu eine Million Menschen – mehr als 80% davon Frauen und Kinder – zur Flucht in Gebiete in der Nähe der türkischen Grenze. In den von ihr kontrollierten Gebieten geht die Assad-Regierung weiterhin gegen tatsächliche oder mutmaßliche Oppositionelle vor. Amnesty International hat mehrfach systematische Folter, außergerichtliche Hinrichtungen, willkürliche Festnahmen und Verschwindenlassen durch syrische Sicherheitskräfte dokumentiert.
Die Ausbreitung des Corona-Virus würde die ohnehin verheerende Menschenrechtslage in Syrien, u.a. in den Gefängnissen, noch verschlechtern. Es steht außerdem zu befürchten, dass sich das Corona-Virus in den Flüchtlingscamps im Nordwesten Syriens aufgrund der extrem beengten und unhygienischen Bedingungen unkontrolliert ausbreiten könnte. Die jüngsten Entwicklungen zeigen, dass es keine sicheren Gebiete in Syrien gibt.
Angesichts der unverändert dramtischen Menschenrechts- und Sicherheitslage fordert Amnesty International die Innenminister_innen und -senatoren auf, den seit 2012 geltenden Abschiebungsstopp nach Syrien aufrechtzuerhalten. Humanitäre Aufnahmeprogramme einzelner Bundesländer für syrische Flüchtlinge sollten fortgeführt und in weiteren Bundesländern aufgelegt werden.
Keine Abschiebungen nach Afghanistan
Amnesty International begrüßt, dass Abschiebungen nach Afghanistan aufgrund der aktuellen Corona-Krise ausgesetzt sind.
Aber auch die aktuelle Sicherheitslage erlaubt nach Auffassung von Amnesty International Rückführungen in das Land nicht: Laut der UN Mission in Afghanistan (UNAMA) wurden im Jahr 2019 3.403 Zivilpersonen getötet und 6.989 verletzt. Zum sechsten Mal in Folge dokumentiert UNAMA somit über 10.000 zivile Opfer im Verlauf eines Jahres. Juli 2019 war der tödlichste Monat in den vergangenen zehn Jahren des Konflikts [4]. Für den Großteil der zivilen Opfer waren erneut "aufständische Gruppen", insbesondere die Taliban, verantwortlich. Außerdem sorgten Luft- und Sucheinsätze von regierungsnahen Kräften für einen Anstieg von Todesopfern. Auch nach Abschluss des am 29. Februar verabschiedeten Abkommens zwischen den Taliban und den USA bleibt die Lage unverändert instabil. UNAMA verzeichnet einen starken Anstieg der Gewalt für März 2020, welcher veranschaulicht, dass Afghanistan nach wie vor zu den tödlichsten Konfliktländern weltweit zählt. Am stärksten betroffen war abermals Kabul. Dies unterstreicht, dass die Hauptstadt keine "interne Schutzalternative" für Rückkehrende bietet [5]. Diese sind besonders gefährdet, nach ihrer Rückkehr gezielt Opfer von Gewalt zu werden [6].
An die ohnehin dramatische Sicherheitslage im Land reiht sich nun die Ausbreitung des Corona-Virus, welche angesichts eines überlasteten Gesundheitssystems, das lediglich über 300 Beatmungsgeräte verfügt und in dem es an medizinischem Personal und Testmöglichkeiten mangelt, eine lebensbedrohliche Situation für alle Afghaninnen und Afghanen darstellt. Besonders von einer Erkrankung gefährdet sind unter anderem Frauen, die ohnehin von struktureller Diskriminierung betroffen sind, Inhaftierte, Binnenvertriebene sowie Tagelöhnerinnen und –löhner [7].
Infolge der weiterhin dramatischen Sicherheitslage in Afghanistan fordert Amnesty die Innenminister_innen und –senatoren auf, sich gegenüber der Bundesregierung auch über die Corona-Krise hinaus für einen Abschiebungsstopp einzusetzen und keine weiteren Rückführungen dorthin durchzuführen, bis sich die Lage vor Ort signifikant verbessert hat.
Schutz vor rassistischen Straftaten
Amnesty fordert die Innenminister_innen und -senatoren dazu auf, sich auch und gerade in Zeiten der besonderen Herausforderungen durch Covid-19 für einen besseren Schutz vor Rassismus und rassistischen Straftaten einzusetzen. Das Gewaltpotential durch Rechtsextreme und Rassisten ist nach wie vor unvermindert hoch.
Der rassistisch motivierte Anschlag mit elf Toten in Hanau am 19. Februar diesen Jahres hat das Land erschüttert. Er hat in erschreckender Weise bestätigt, dass Menschen mit Migrationshintergrund und People of Color in Deutschland besonders gefährdet sind, Opfer von Gewalttaten zu werden. Es ist die zentrale Aufgabe der Sicherheitsbehörden dafür zu sorgen, dass sich alle Menschen in Deutschland sicher fühlen können. Dafür müssen die Sicherheitsbehörden eine gemeinsame Kraftanstrengung zur Bekämpfung rechtsextremer Netzwerke und rassistischer Gewalt unternehmen.
Der Medienberichterstattung ist zu entnehmen, dass die Statistik zu Politisch Motivierter Kriminalität (PMK) für das Jahr 2019, die im weiteren Verlauf des Monats Mai veröffentlicht werden wird, einen besorgniserregenden Anstieg der Straftaten im Themenfeld Hasskriminalität zeigt. So sind zum Beispiel antisemitische Straftaten um insgesamt dreizehn Prozent gestiegen. In diesem Bereich muss außerdem das hohe Dunkelfeld berücksichtigt werden, da viele Betroffene Angriffe gar nicht anzeigen. Immer wieder wird die rassistische Tatmotivation nicht erkannt und die Taten finden daher keinen Eingang in die Statistik. In jedem Fall bildet die PMK-Statistik nur einen Teil der tatsächlich begangenen rassistischen Straftaten ab. Umso mehr müssen die hohen Fallzahlen als dringender und klarer Handlungsauftrag gesehen werden.
Amnesty International fordert die Innenminister_innen und -senatoren dazu auf, die Bekämpfung rassistischer Gewalt als prioritäres Thema zu behandeln und gemeinsame Handlungsansätze zu finden. Verbindliche Trainings und Schulungen zur Sensibilisierung für Rassismus und Diskriminierung müssen für alle an der Ermittlung von Straftaten beteiligten Stellen und ihre Mitarbeiter_innen Gegenstand der Ausbildung und kontinuierlichen Weiterbildung sein.
[1] https://www.amnesty.de/mitmachen/petition/jetzt-menschen-aus-den-lagern-griechenland-evakuieren
[2] In diesem Sinne auch der Appell der Menschenrechtskommissarin des Europarats, Dunja Mijatovic am 26.3.2020: https://www.coe.int/en/web/commissioner/-/commissioner-calls-for-release-of-immigration-detainees-while-covid-19-crisis-continues
[3] Die EU-Kommission hat in ihrer Mitteilung vom 16. April 2020 COVID-19: Guidance on the implementation of relevant EU provisions in the area of asylum and return procedures and on resettlement (C(2020) 2516 final) dies angeregt: https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020XC0417(07)&from=EN
[4] Amnesty International, "Amnesty Report - Afghanistan 2019," Januar 2020, https://www.amnesty.de/ jahresbericht/2019/afghanistan
[5] Vergl. auch Flüchtlingsrat, "Neue UNHCR-Richtlinien zu Afghanistan: Keine interne Schutzalternative in Kabul," 07.09.2018, https://www.frnrw.de/themen-a-z/unsicheres-afghanistan/artikel/f/r/neue-unhcr-richt linien-zu-afghanistan-keine-interne-schutzalternative-in-kabul.html
[6] Friederike Stahlmann, Studie zum Verbleib und zu den Erfahrungen abgeschobener Afghanen, in Asylmagazin, Zeitschrift für Flüchtlings-und Migrationsrecht 8-9/2019, S.276-285
[7] Amnesty International, "Afghanistan: Government should prioritize the release of women prisoners in efforts to tackle COVID-19", 10.04.2020, https://www.amnesty.org/en/latest/news/2020/04/afghanistan-should-prioritize-release-of-women-prisoners/