Amnesty Report Aserbaidschan 24. April 2024

Aserbaidschan 2023

Amnesty-Logo: Kerze umschlossen von Stacheldraht.

Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023

Aserbaidschans Blockade der einzigen Straßenverbindung in die abtrünnige Region Bergkarabach gefährdete das Leben Tausender Menschen. Eine darauf folgende Militäroffensive zwang die Mehrheit der dort lebenden armenischen Bevölkerung zur Flucht aus der Region. Die Regierung ging verstärkt gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung vor. Journalist*innen, Menschenrechtsverteidiger*innen und zivilgesellschaftliche Aktivist*innen wurden wegen ihrer legitimen Tätigkeiten festgenommen. Friedliche Proteste wurden unterdrückt und die Arbeit von Medien und unabhängigen Organisationen über Gebühr eingeschränkt. Frauen und Mädchen waren nach wie vor geschlechtsspezifischen Drangsalierungen und Gewalt ausgesetzt.

Hintergrund

Am 19. September 2023 startete Aserbaidschan eine große Militäroffensive, um die De-facto-Behörden in der abtrünnigen Region Bergkarabach zu entwaffnen und aufzulösen. Die aserbaidschanischen Streitkräfte erlangten innerhalb weniger Stunden die Kontrolle über die gesamte Region zurück. Mehr als 100.000 Menschen – und damit praktisch alle ethnischen Armenier*innen – flohen in einem Zeitraum von nur wenigen Tagen im September und Oktober 2023 nach Armenien. Die Vertriebenen sahen sich mit wirtschaftlicher Not und Ungewissheit konfrontiert, da Aserbaidschan bis zum Jahresende keine nennenswerten Fortschritte gemacht hatte, ihr Recht auf Rückkehr in Sicherheit und Würde zu gewährleisten (siehe Länderkapitel Armenien).

Die aserbaidschanischen Behörden versprachen, Personen, die auf der Seite der De-facto-Behörden in Bergkarabach gekämpft und keine Kriegsverbrechen verübt hatten, eine Amnestie zu gewähren. Mehrere führende armenische Politiker*innen von Bergkarabach wurden festgenommen und wegen Kriegsverbrechen angeklagt, als sie versuchten, die Region in Richtung Armenien zu verlassen. Im Dezember 2023 ließ Aserbaidschan 32 armenische Kriegsgefangene frei, nachdem es sich bereit erklärt hatte, auf ein Friedensabkommen mit Armenien hinzuarbeiten. Die mit dem Nachbarland getroffenen Vereinbarungen ebneten Aserbaidschan auch den Weg für die Ausrichtung der UN-Weltklimakonferenz (COP29), die im November 2024 stattfinden wird.

Die Regierung nutzte den militärischen Sieg, um ihre Macht weiter zu zementieren und die Unterdrückung Andersdenkender zu verschärfen.

Im November 2023 wurde die Menschenrechtslage in Aserbaidschan im Rahmen der Allgemeinen Regelmäßigen Überprüfung durch den UN-Menschenrechtsrat (UPR-Prozess) begutachtet.

Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht

Vor der Militäroffensive im September 2023 hatte die aserbaidschanische Blockade der einzigen Verbindungsstraße Bergkarabachs mit Armenien (Latschin-Korridor) neun Monate lang zu einem kritischen Engpass bei lebenswichtigen Gütern wie Nahrungsmitteln, Medikamenten und Treibstoff geführt und eine humanitäre Krise in der abtrünnigen Region ausgelöst. Eine im Februar 2023 vom Internationalen Gerichtshof (IGH) erlassene Anordnung, den "ungehinderten Verkehr" in beide Richtungen sicherzustellen, wurde ignoriert. Die aserbaidschanischen Behörden bestanden darauf, dass Bergkarabach nur aus dem von Aserbaidschan kontrollierten Gebiet beliefert werden dürfe oder die Lieferungen aus Armenien einer gründlichen Kontrolle unterzogen werden müssten, was die armenische Seite ablehnte.

Bei der Untersuchung der in den vergangenen Jahren verübten mutmaßlichen Kriegsverbrechen und Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht konnten keine nennenswerten Fortschritte erzielt werden. Es handelte sich u. a. um unverhältnismäßige und wahllose Angriffe des aserbaidschanischen Militärs sowie Gewaltverbrechen einschließlich Tötungen von Zivilpersonen und Kriegsgefangenen durch die aserbaidschanischen Streitkräfte, für die glaubhafte Beweise vorlagen. Angesichts der Straflosigkeit für diese Verbrechen gab es weiterhin Grund, daran zu zweifeln, dass bei den aserbaidschanischen Behörden die Bereitschaft bestand, den Schutz der Zivilbevölkerung in Bergkarabach zu gewährleisten.

Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit

NGOs wurden durch restriktive Gesetze weiterhin Steine in den Weg gelegt. So wurde manchen Menschenrechtsorganisationen willkürlich die Registrierung verweigert oder der Erhalt von Finanzmitteln erschwert.

Die Medien unterlagen auch 2023 strengen Einschränkungen. Regierungskritiker*innen, Journalist*innen, Medienvertreter*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen waren in verstärktem Maße mit Gewalt, Schikanen und willkürlichen Festnahmen konfrontiert. Aserbaidschanische Menschenrechtsorganisationen berichteten, dass mehr als 230 Personen wegen politisch motivierter Vorwürfe inhaftiert wurden, doppelt so viele wie im Vorjahr.

Ein im Jahr 2022 verabschiedetes restriktives Mediengesetz schrieb vor, dass sich Medienunternehmen bei den Behörden registrieren lassen müssen. Berichten zufolge soll die Medienaufsichtsbehörde ab November 2023 rechtliche Schritte eingeleitet haben, um unabhängige Medienunternehmen zu schließen, denen die Registrierung willkürlich verweigert worden war.

Der bekannte Oppositionelle Bakhtiyar Hajiyev befand sich seit seiner Festnahme im Dezember 2022 wegen politisch motivierter Vorwürfe in Haft. Im März 2023 beendete er einen Hungerstreik, kurz nachdem seine Social-Media-Konten geleakt worden waren und intime Fotos und Videos von Frauen sowie Nachrichten, die er mit Frauen ausgetauscht hatte, an die Öffentlichkeit gelangten (siehe auch "Geschlechtsspezifische Gewalt").

Gubad Ibadoghlu, ein renommierter Wissenschaftler und Antikorruptionsaktivist, wurde am 23. Juli 2023 in der Hauptstadt Baku willkürlich von Polizist*innen in Zivil unter dem Vorwurf des "religiösen Extremismus" und des "Erwerbs oder Verkaufs von Falschgeld" festgenommen. Er wurde zusammen mit seiner Frau, die später wieder freigelassen wurde, willkürlich inhaftiert. Kurz zuvor hatte er sich an der Gründung einer Stiftung für die Ausbildung Jugendlicher beteiligt, die u. a. durch Gelder finanziert werden soll, die unter Anwendung der Korruptionsbekämpfungsgesetze beschlagnahmt wurden. Der Gesundheitszustand von Gubad Ibadoghlu verschlechterte sich zunehmend aufgrund der prekären Haftbedingungen und der unzureichenden medizinischen Versorgung.

Im September und Oktober 2023 wurden Berichten zufolge zahlreiche zivilgesellschaftliche Aktivist*innen im Rahmen von Verwaltungsverfahren inhaftiert, weil sie die Regierung und ihre militärischen Einsätze in Bergkarabach kritisiert hatten. Fünf Männer wurden festgenommen, weil sie in den Sozialen Medien Beiträge gegen die militärische Offensive in Bergkarabach gepostet hatten. Drei weitere Männer Nurlan Gahramanli, Emin Ibrahimov und Nemet Abbasov  wurden zu 30 Tagen Verwaltungshaft verurteilt, weil sie "schädliche Informationen" verbreitet und Anordnungen der Polizei nicht befolgt haben sollen. Der Gewerkschaftsführer Afiaddin Mammadov kam unter dem konstruierten Vorwurf der Körperverletzung in Haft. Im Falle einer Verurteilung drohten ihm bis zu fünf Jahre Gefängnis. Ende 2023 befand er sich noch in Untersuchungshaft.

Im November und Dezember 2023 nahm die Polizei im Vorfeld der für Februar 2024 erwarteten vorgezogenen Präsidentschaftswahlen mindestens 13 Personen wegen Anschuldigungen fest, die offenbar als Vergeltung für ihre Kritik an den Behörden konstruiert worden waren. Der bekannte Oppositionspolitiker Tofig Yagublu wurde wegen mutmaßlicher Dokumentenfälschung festgenommen. Ulvi Hasanli, Direktor des unabhängigen Medienunternehmens Abzas Media, und seine Mitarbeiter*innen Sevinj Vagifgyzy, Nargiz Absalamova und Mahammad Kekalov sowie der Investigativjournalist Hafiz Babali wurden unter dem Vorwurf des Schmuggels inhaftiert, nachdem Abzas Media über mutmaßliche Regierungskorruption berichtet hatte. Die unabhängigen Journalisten Teymur Karimov, Ibrahim Humbatov, Arshad Ibrahimov, Aziz Orujov und Rufat Muradli sowie die zivilgesellschaftlichen Aktivisten Mohyaddin Orujov und Ilhamiz Guliyev kamen wegen Anschuldigungen in Haft, die von illegalen Bauarbeiten bis hin zu Drogenbesitz und Erpressung reichten.

Recht auf friedliche Versammlung

Die Behörden schränkten das Recht auf friedliche Versammlung weiterhin willkürlich ein. Am 20. Juni 2023 löste die Polizei einen friedlichen Protest im Dorf Söyüdlü im Bezirk Gadabay gewaltsam auf, bei dem lokale Umweltschützer*innen gegen den geplanten Ausbau einer Goldmine demonstrierten. Filmaufnahmen zeigten, wie Polizeikräfte Demonstrierende mit Knüppeln schlugen und mehreren von ihnen einen chemischen Reizstoff direkt ins Gesicht sprühten. Ungefähr zehn Personen wurden verletzt und ein Dutzend weitere in Verbindung mit dem Protest vorübergehend festgenommen. Darunter befanden sich mindestens drei Journalist*innen, die während ihrer Berichterstattung über die Protestveranstaltung von der Polizei kurzzeitig festgenommen und geschlagen wurden, sowie mehrere Aktivist*innen, die danach wegen kritischer Beiträge in den Sozialen Medien festgenommen wurden. Berichten zufolge blockierte die Polizei ab dem 22. Juni 2023 mindestens drei Wochen lang den Zugang nach Söyüdlü. In dieser Zeit soll es nur Einwohner*innen und regierungsnahen Medien erlaubt gewesen sein, das Dorf zu betreten.

Geschlechtsspezifische Gewalt

Frauen waren nach wie vor mit verschiedenen Formen geschlechtsspezifischer Gewalt konfrontiert, die u. a. als Mittel politischer Vergeltung eingesetzt wurden.

Aktivistinnen vor Ort äußerten sich besorgt über die Sicherheit mehrerer Frauen, deren intime Fotos, Videos und Nachrichten von den privaten Social-Media-Konten des inhaftierten Oppositionellen Bakhtiyar Hajiyev geleakt worden waren (siehe "Rechte auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit"). Die Aktivistinnen beschuldigten die Regierung, hinter den Leaks zu stecken und die betroffenen Frauen durch die Veröffentlichung ihrer Namen, Bilder und in einem Fall auch ihrer Wohnadresse zur Zielscheibe von Gewalt zu machen, die auch von ihren eigenen Familien ausgehen konnte. Die Untersuchung dieses mutmaßlichen Falls von Internetkriminalität war Ende des Jahres noch nicht abgeschlossen.

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