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Aserbaidschan 2020
Berichtszeitraum: 1. Januar 2020 bis 31. Dezember 2020
Der Ausbruch heftiger Kämpfe zwischen aserbaidschanischen und armenischen Kräften in Bergkarabach im September 2020 hatte zur Folge, dass die Zivilbevölkerung zahlreiche Menschenrechtsverstöße erlitt. Die mit dem Konflikt verbundene Gewalt führte zu Toten, Verletzten sowie Binnenvertriebenen und zerstörte Lebensgrundlagen. Die Behörden nutzten den Konflikt mit Armenien und die Corona-Pandemie als Vorwand, um noch härter gegen Kritiker_innen vorzugehen. Dutzende Oppositionelle und Aktivist_innen wurden willkürlich festgenommen und inhaftiert. Die Rechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit wurden angesichts wachsenden öffentlichen Unmuts weiter eingeschränkt, das Recht auf Vereinigungsfreiheit blieb stark beschnitten. Rechtsbeistände wurden schikaniert. Es gab weiterhin zahlreiche Berichte über Folter und andere Misshandlungen von Regierungskritiker_innen in Haft.
Wahllose Angriffe
Am 27. September 2020 brachen in der abtrünnigen aserbaidschanischen Region Bergkarabach schwere Kämpfe zwischen Aserbaidschan einerseits und Armenien sowie von Armenien unterstützten Kräften andererseits aus. Alle Konfliktparteien setzten in dicht besiedelten Gebieten schwere Explosivwaffen mit großflächiger Wirkung ein, unter anderem ballistische Raketen und bekanntermaßen ungenaue Salven von Artillerieraketen, die Todesfälle und Verletzungen bei Zivilpersonen sowie umfangreiche Zerstörungen in Wohngebieten verursachten. Es lagen Beweise vor, die dafür sprachen, dass beide Seiten Streumunition einsetzten, die nach dem humanitären Völkerrecht verboten ist. Dies betraf unter anderem einen Angriff am 4. Oktober auf die Hauptstadt von Bergkarabach Stepanakert/Khankendi und einen Angriff am 28. Oktober auf die unter aserbaidschanischer Kontrolle stehende Stadt Barda (siehe Länderbericht Armenien).
Kriegsverbrechen
Aserbaidschanische Streitkräfte verübten in Bergkarabach Kriegsverbrechen. Mehrere Videos, deren Echtheit überprüft wurde, zeigten die Misshandlung von Kriegsgefangenen und anderen Gefangenen, Enthauptungen und die Schändung von Leichnamen feindlicher Soldaten.
Recht auf freie Meinungsäußerung
Die Behörden verschärften 2020 ihr hartes Vorgehen gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung angesichts einer wachsenden Zahl von Menschen, die ihren Unmut auf Demonstrationen, in den sozialen Medien und auf anderem Wege äußerten.
Mehr als ein Dutzend Personen, darunter Journalist_innen und oppositionelle Aktivist_innen, die den Umgang der Behörden mit der Corona-Pandemie kritisiert hatten, wurden aufgrund falscher Anschuldigungen zu 10 bis 30 Tagen sogenannter Verwaltungshaft verurteilt, unter anderem wegen Missachtung polizeilicher Anordnungen oder Verstößen gegen Lockdown-Maßnahmen.
Die Behörden inhaftierten vermehrt Personen auf Grundlage politisch motivierter Anklagen. Nachdem Präsident Ilham Aliyev am 19. März 2020 angekündigt hatte, die Opposition "isolieren" und "entfernen" zu wollen, wurden Regierungskritiker_innen reihenweise festgenommen. Am 25. März inhaftierten Sicherheitskräfte den bekannten Oppositionellen Tofig Yagublu unter dem konstruierten Vorwurf des Rowdytums. Nachdem er zunächst zu vier Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt wurde, wandelte das Berufungsgericht in der Hauptstadt Baku die Haftstrafe am 18. September mit sofortiger Wirkung in Hausarrest um. Der Menschenrechtsverteidiger Elchin Mammad wurde am 30. März festgenommen und des Diebstahls bezichtigt. Am 18. Oktober verurteilte ihn ein Gericht in Sumgait zu vier Jahren Haft. Beide Männer hatten öffentlich Kritik an den Behörden geübt. Am 9. November starb der Aktivist Farkhaddin Abbasov im Gefängnis, mutmaßlich durch Suizid. Er gehörte der ethnischen Minderheit der Talisch an und befand sich in Haft, weil er die Behörden kritisiert hatte. Ende des Jahres war noch keine wirksame Untersuchung seiner Todesumstände erfolgt.
Die Schikanen gegen die Opposition erreichten ihren Höhepunkt, als der Präsident die oppositionelle Volksfrontpartei Aserbaidschans für die Massenproteste am 15. Juli in Baku verantwortlich machte und ihr vorwarf, einen Aufstand zu inszenieren. Vierzig Aktivist_innen der Volksfrontpartei, darunter vier ranghohe Funktionäre, wurden aufgrund politisch motivierter Anschuldigungen festgenommen. Diese reichten von Verstößen gegen die öffentliche Ordnung bis zu Widerstand gegen die Staatsgewalt.
Auf internationaler Ebene herrschte weiterhin Besorgnis angesichts der Unterdrückung kritischer Stimmen. Im Januar verurteilte die Parlamentarische Versammlung des Europarates "Strafverfolgungen aus Vergeltung" und ein "beunruhigendes Muster aus willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen von Regierungskritiker_innen". In mindestens drei separaten Fällen erkannte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Laufe des Jahres politische Motive hinter der willkürlichen Inhaftierung von Regierungskritiker_innen. Die Fälle betrafen die Aktivisten Bayram Mammadov und Giyas Ibrahimov, die prominenten Menschenrechtsverteidiger_innen Leyla und Arif Yunus sowie die investigative Journalistin Khadija Ismayilova.
Am 4. September 2020 stellte das Ministerkomitee des Europarats das gegen Aserbaidschan eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren ein, nachdem der Oberste Gericht des Landes die Verurteilung von Ilgar Mammadov und Rasul Jafarov aufgehoben hatte. Die beiden hatten sich mit einer Beschwerde an den EGMR gewandt, der entschieden hatte, dass sie wegen ihrer Kritik an der Regierung zu Unrecht inhaftiert worden waren. Die Urteile gegen sechs weitere Beschwerdeführer, unter ihnen bekannte Menschenrechtsverteidiger, deren Fälle ähnlich gelagert waren, wurden nicht aufgehoben, obwohl das Ministerkomitee dies gefordert hatte. Sie mussten weiterhin unter den negativen Folgen ihrer willkürlichen Verurteilung leiden, wie zum Beispiel Reiseverboten und eingefrorenen Bankkonten.
Recht auf Vereinigungsfreiheit
In einem Aktionsplan für eine offene Regierung, der im Februar 2020 verabschiedet wurde, versprach die Regierung, die Anforderungen für die Zulassung von Nichtregierungsorganisationen und das Verfahren für den Erhalt von Finanzmitteln aus dem Ausland zu vereinfachen. Die Hindernisse für die Zulassung unabhängiger NGOs blieben jedoch bestehen, und es kam weiterhin zu willkürlichen Ablehnungen von Zulassungs- und Förderanträgen. Unabhängige NGOs konnten ihre Arbeit nicht wieder aufnehmen, und ihre Führungskräfte waren weiterhin mit Strafen aufgrund unbegründeter strafrechtlicher Verurteilungen konfrontiert, was sie auch daran hinderte, bei Wahlen zu kandidieren.
Menschenrechtsanwält_innen mussten aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit nach wie vor Schikanen erdulden, was ihre Unabhängigkeit und ihre Bereitschaft, Menschenrechtsfälle zu übernehmen, beeinträchtigte. Im Juni 2020 wurde der Anwalt Javad Javadov von der Anwaltskammer willkürlich verwarnt, nachdem er in den sozialen Medien Informationen über die mutmaßliche Misshandlung seines Mandanten Kerim Suleymanli in Polizeigewahrsam veröffentlicht hatte. Ebenfalls im Juni entschied der EGMR im Fall des bekannten Anwalts Khalid Bagirov, dass seine Suspendierung und sein Ausschluss durch die Anwaltskammer gegen seine Rechte auf Privatleben und auf freie Meinungsäußerung verstoßen hätten. Khalid Bagirov hatte die Fairness eines Gerichtsurteils im Falle eines Mandanten infrage gestellt.
Recht auf Versammlungsfreiheit
Das Recht auf Versammlungsfreiheit blieb 2020 stark eingeschränkt. Demonstrierende wurden weiterhin allein wegen ihrer friedlichen Teilnahme an öffentlichen Versammlungen bestraft.
Am 11. und 16. Februar beendete die Polizei Proteste vor der Zentralen Wahlkommission in Baku, die sich gegen Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen richteten, mit Gewalt, schlug auf Demonstrierende ein und nahm sie fest.
Am 15. Juli setzte die Polizei exzessive Gewalt ein, um eine am Vortag begonnene Demonstration aufzulösen, bei der sich Tausende friedlich vor dem Parlamentsgebäude in Baku versammelt und als Reaktion auf Zusammenstöße an der Grenze ein stärkeres militärisches Vorgehen gegen armenische Kräfte gefordert hatten. Die Proteste schlugen in Gewalt um, als eine kleine Gruppe Demonstrierender ohne Erlaubnis in das Parlamentsgebäude eindrang. Polizei und andere Sicherheitskräfte gingen mit übermäßiger Gewalt gegen die Eindringlinge vor und nutzten unter anderem Wasserwerfer, um die Menschenmenge vor dem Gebäude auseinanderzutreiben. Bei den anschließenden Zusammenstößen wurden mehrere Demonstrierende und Journalist_innen verletzt. Die Polizei beschlagnahmte außerdem die Ausrüstung einiger Journalist_innen, die über die Proteste berichteten. 70 Personen wurden direkt nach der Demonstration festgenommen.
Folter und andere Misshandlungen
Berichte über Folter und andere Formen der Misshandlung waren nach wie vor weit verbreitet.
Im Februar 2020 urteilte der EGMR im Fall Imbrahimov und Mammadov gegen Aserbaidschan, die beiden Aktivisten hätten "Misshandlungen durch die Polizei erlitten, die sie dazu zwingen sollten, schwere Straftaten zu gestehen", und die Behörden hätten die Foltervorwürfe nicht effektiv untersucht.
Personen, die nach den Protesten vom 15. Juli festgenommen worden waren, wurden in überbelegten, heißen und nicht belüfteten Polizeizellen festgehalten und erhielten nicht genug zu essen und zu trinken. Berichten zufolge wurden sie geschlagen und misshandelt, ohne die Möglichkeit zu haben, Kontakt zu ihren Rechtsbeiständen und ihren Familien aufzunehmen.