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History repeating
Immer wieder werden in den USA Menschen durch exzessive Polizeigewalt verletzt oder getötet. Seit Jahren gibt es Versuche, den Polizeiapparat zu reformieren. Aber ist die US-Polizei überhaupt reformierbar?
Von Tobias Oellig
Zwölf Kugeln schießt der Polizist Darren Wilson im Sommer 2014 auf den unbewaffneten Teenager Mike Brown. Mindestens sechs davon treffen den 18-Jährigen, der zuvor Zigarillos in einem Laden gestohlen hatte. Er stirbt noch auf der Straße. Wochenlange Proteste und weitere Polizeigewalt erschüttern Ferguson/Missouri, die Behörden verhängen nächtliche Ausgangssperren und entsenden die Nationalgarde.
Sechs Jahre später kniet am 25. Mai 2020 der Polizist Derek Chauvin auf dem Nacken von George Floyd, der immer wieder um Luft fleht, bevor er das Bewusstsein verliert. Drei weitere Polizisten sehen ihrem Kollegen dabei zu. Floyd hatte zuvor in einem Laden mit einer falschen Zwanzigdollarnote bezahlt. Wenig später wird er im Krankenhaus für tot erklärt.
Wieder sind das Entsetzen und die Wut groß. Diesmal weltweit. Das Video von George Floyds Tod, Zeugnis rassistischer Polizeigewalt, treibt die Menschen auf die Straßen. Und wieder wird die Nationalgarde entsandt, wieder reagiert die US-Polizei auf die Proteste gegen Polizeigewalt mit – Polizeigewalt.
Menschenrechtsverletzungen durch US-Polizei
Bereits 2014 forderte Amnesty International die Behörden auf, die Menschen- und Grundrechte zu wahren. Der damalige UN-Generalsekretär Ban Ki-moon verlangte, die internationalen Standards für den Umgang mit Demonstranten zu befolgen. Die Ereignisse setzten in den USA eine Debatte über Polizeigewalt in Gang, aus den Protesten ging die Bürgerrechtsorganisation "Black Lives Matter" hervor. Damals schien es so, als ob Reformen der Obama-Administration – Einführung von Körperkameras, bessere Ausbildung und mehr Transparenz – helfen würden, das Problem schrittweise zu lösen.
Aber die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Auch 2020 kommt es in den USA bei Demonstrationen zu Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte. Im Mai und Juni 2020 setzten sie nach Angaben von Amnesty ohne Not körperliche Gewalt, Schlagstöcke, Tränengas und Pfefferspray sowie Gummigeschosse ein, um friedliche Proteste aufzulösen. Amnesty in den USA zählt in einem Bericht zahlreiche Beispiele auf, die "unverhältnismäßige und oft exzessive Gewalt" gegen Menschen in 40 US-Bundesstaaten und der Hauptstadt Washington (D.C.) belegen.
Amnesty USA fordert ein härteres Vorgehen gegen gewalttätige Polizeikräfte und deren Vorgesetzte. Die Vorgänge müssten unabhängig untersucht und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem fordert die Organisation Wiedergutmachungen für die Opfer und Überlebenden.
"Das Recht auf Meinungsfreiheit mit körperlicher Gewalt, Tränengas und Pfefferspray zu verweigern, ist ein Zeichen von Unterdrückung", sagt Brian Griffey von Amnesty USA. "Auf allen Ebenen sind tatsächliche, systematische und dauerhafte Polizeireformen erforderlich. Menschen im ganzen Land sollten sich sicher fühlen, auf die Straße zu gehen und ihre Meinung frei und friedlich zu äußern."
Reformresistenter Polizeiapparat?
Doch davon scheinen die USA derzeit weit entfernt. Der Tod George Floyds, die Menschenrechtsverletzungen bei den Demonstrationen, weitere von der Polizei niedergeschossene Bürgerinnen und Bürger und die Tatsache, dass jährlich nach wie vor mehr als 1.000 Menschen durch Polizeigewalt sterben, zeigen, dass viele Reformversuche gescheitert sind. Und es drängt sich die Frage auf, ob die US-Polizei überhaupt reformierbar ist.
"Defund the police!" ("Streicht der Polizei das Geld!"), lautet eine Forderung der "Black Lives Matter"-Proteste. Dahinter verbirgt sich die Idee einer modernen Sozialarbeit. Für einen Großteil der Aufgaben, mit denen die US-Polizei betraut ist, seien die Beamten weder ausgebildet, noch erforderten sie Waffeneinsatz, so das Argument.
Oder wie es einer der führenden akademischen Verfechter der Abschaffung der Polizei ausdrückt: "Das Problem ist ihr Auftrag." Der Soziologe Alex S. Vitale leitet am Brooklyn College der City University of New York das Policing and Social Justice Project und forscht seit 25 Jahren zu Polizeithemen. 2017 erschien sein Buch "The End of Policing". Vitale unterstützt die Idee des "defunding". Statt die Polizei loszuschicken, um gesellschaftliche Probleme zu lösen, die die Polizei gar nicht lösen könne, müssten andere Wege gefunden werden.
Man müsse den von der Regierung ausgerufenen "Krieg gegen Drogen" beenden, hochwertige Dienste für psychische Gesundheit und Drogenberatung bereitstellen, Nachhilfe und außerschulische Aktivitäten anbieten, in Arbeitsplätze und Jugenddienste investieren und gemeinschaftsbasierte Initiativen zur Bekämpfung von Gewalt ins Leben rufen. Vor allem in jenen Stadtteilen, in denen es häufig zu Kleinkriminalität und vielen Polizeieinsätzen kommt. "Während wir diese gezielten Interventionen durchführen, müssen wir uns auch mit den größeren strukturellen Problemen befassen, die die systematische Ungleichheit in den USA reproduzieren, einschließlich der Wiedergutmachung", sagt Vitale.
Militarisierung fördert Gewalt
In vielen US-Städten übersteigen die Ausgaben für die Polizei die Mittel für andere kommunale Dienstleistungen bei Weitem. Allein der Jahresetat der größten Polizeidirektion des Landes, des New York Police Department, beträgt sechs Milliarden US-Dollar. Viele "Defunding"-Befürworter halten die US-Polizei für überausgestattet. Auch deren Militarisierung steht immer wieder im Zentrum der Kritik. Durch das Programm 1033 des Verteidigungsministeriums wird die Polizei mit ehemaliger Militärausrüstung aus Afghanistan und dem Irak versorgt.
Nach Ansicht der American Civil Liberties Union trägt das zur Eskalation bei, Amnesty USA fordert starke Kürzungen oder eine Einstellung des Programms.
Neu ist die Idee des "defunding" nicht. Historisch wurzelt sie in der Bewegung der Sklavereigegner. In manchen Südstaaten erwuchs die Polizei aus Patrouillen, die geflohene Sklaven finden und gefangen nehmen sollten. Bislang war die Forderung eher am politischen Rand angesiedelt. Der Tod George Floyds hat sie in den gesellschaftlichen Mainstream katapultiert.
Aber auch wenn die Mehrheit der US-Bevölkerung "Black Lives Matter" unterstützt, lehnt die Öffentlichkeit laut einer Umfrage der Washington Post/ABC News generell Aufrufe ab, einen Teil der Polizeifinanzierung auf soziale Dienste zu verlagern. 84 Prozent der Republikaner seien gegen eine Verlagerung der Mittel, während 59 Prozent der Demokraten sie unterstützten.
Experten wie Maria Haberfeld sehen die Defunding-Strategie kritisch. Die Professorin vom John Jay College of Criminal Justice in New York, einer der renommiertesten Akademien für Polizeioffiziere, erkennt als größtes Problem eine dezentrale Organisation. "Eine Reform muss einheitliche Standards sowie eine zentrale Regulierung schaffen, beispielsweise die Hoheit der Polizei auf die Einzelstaaten übertragen." Etwa 18.000 unabhängige Polizeiabteilungen gibt es derzeit in den USA. Solange sich das nicht ändere, werde keine Reform wirksam sein, sagte Haberfeld in einem Interview.
Alex S. Vitale hält solche Reformansätze für verfehlt: "Polizei und Gefängnisse sind Instrumente, um mit jenen umzugehen, die auf der Verliererseite ausbeuterischer Systeme gelandet sind. Und deshalb sind sie weitgehend immun gegen Reformen." Was die USA stattdessen brauchen, sei "ein neues Verständnis von Recht und Gerechtigkeit, das nicht auf Bestrafung und Rache gründet, sondern versucht, Beziehungen wiederherzustellen und Menschen und Communities zu stärken."
Tobias Oellig ist freier Reporter und Autor.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.