Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 09. November 2022

Zeitenwechsel

Das Bild zeigt eine Menge an Demonstrierenden vor einem Gebäude. Eine Person hält ein Amnesty-Schild mit der Aufschrift: "Abortion is a human right".

Protestaktion vor dem Obersten Gerichtshof in der US-Hauptstadt Washington für das Recht auf sichere und legale Schwangerschaftsabbrüche (1. Dezember 2021)

Schwangerschaftsabbrüche sind in konservativ regierten US-Bundesstaaten nicht mehr erlaubt. Das zwingt betroffene Frauen, in weniger restriktive Staaten zu reisen. Hoffnung macht Aktivist*innen, dass gemäßigte ­Konservative sich vermehrt gegen ein absolutes Verbot stellen.

Aus Oakland Arndt Peltner

"Ich habe seit 20 Jahren damit gerechnet. Aber als Donald Trump gewählt wurde, war mir klar: Das war’s. Ich habe meinem Mann damals gesagt, das Grundsatzurteil 'Roe gegen Wade' ist durch, denn das war seit Langem der Plan." Das sagt Tarah Demant, die derzeit bei Amnesty International in den USA für nationale Programme zuständig ist.

Auch Bergen Cooper von Fòs Feminista, einer internationalen Allianz für das Grundrecht auf Abtreibung, war nicht überrascht, als der Oberste Gerichtshof im Juni 2022 "Roe gegen Wade" als allgemeines Grundrecht in allen 50 Bundesstaaten ersatzlos strich. "Ich habe es zwar kommen sehen, dennoch hat mich die Entscheidung persönlich verletzt. Wir, die wir schon lange für das Abtreibungsrecht kämpfen, konnten in den vergangenen 40 Jahren ganz deutlich verfolgen, wie Gesetzgeber in verschiedenen Bundesstaaten an diesem Grundsatzurteil rüttelten."

Fast 50 Jahre galt Abtreibung als Teil der Privatsphäre

Gefällt hatte der Supreme Court das Urteil am 22. Januar 1973. Hintergrund war der Fall von Norma McCorvey, die in den Gerichtsunterlagen nur als Jane Roe geführt wurde. Sie war 1969 zum dritten Mal schwanger geworden und wollte die Schwangerschaft beenden. Doch in Texas, wo sie lebte, war eine Abtreibung nur bei Gefahr für das Leben der Mutter möglich.

McCorvey schaltete zwei Anwältinnen ein, die Klage gegen den Bezirksstaatsanwalt Henry Wade einreichten. Nachdem "Jane Roe" vor dem Distriktgericht für das nördliche Texas gewonnen hatte, ging die Staatsanwaltschaft in die Revision, und der Fall landete schließlich beim Supreme Court. Mit sieben zu zwei Stimmen entschieden die Richter, dass der 14. Verfassungszusatz das Recht auf Privatsphäre garantiere und dass hierunter auch der – zeitlich begrenzte – Schwangerschaftsabbruch einer Frau falle. Interessanterweise votierten damals fünf Richter, die von republikanischen Präsidenten ein­gesetzt worden waren, für das Recht auf Abtreibung.

Fast 50 Jahre lang war "Roe gegen Wade" gültig, wurde jedoch von Teilen der Bevölkerung nie akzeptiert. Ende der 1970er Jahre gewannen evangelikale Gruppen wie die American Family Association Einfluss auf die republikanische Partei. Die christlichen Fundamentalis­t*in­nen verlangten, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch müsse ersatzlos und ohne Ausnahmen gestrichen werden. "Seit 1973 wurden unzählige Gesetze in den verschiedenen Bundesstaaten verabschiedet, die das Recht auf Abtreibung einschränkten", erklärt Amnesty-Expertin Demant. Gerade für ärmere Frauen in ländlichen Gegenden und für Mädchen wurde der Zugang begrenzt. "Schon vor dem Ende von Roe wurde das Recht auf Abtreibung nicht überall in den USA gleich ausgelegt." Frauen, deren Krankenversicherung aus Bundesmitteln finanziert wird, da­run­ter Veteraninnen, Native Americans und Alaska Natives, aber auch Schwangere, die über die staatliche Basiskrankenversicherung Medicaid versichert sind, bekamen Abtreibungen nicht erstattet. Medicaid übernimmt die Kosten einer Abtreibung zum Beispiel nur im Fall von Inzest, Vergewaltigung oder Gefahr für das Leben der Frau. Allerdings haben 16 demokratisch regierte Bundesstaaten diese Vorgaben seit Langem ausgehebelt und finanzieren den betroffenen Frauen einen Abbruch auch ohne diese Gründe.

Die Fälle, die auf der Agenda stehen, lassen das Schlimmste befürchten. Es handelt sich um Klagen gegen gleichgeschlechtliche Ehen oder den Zugang zu Verhütungsmitteln.

Tarah
Demant
Amnesty USA

Je mehr die Evangelikalen an Einfluss in der republikanischen Partei gewannen, desto wichtiger wurde das Thema Abtreibung in der US-Politik. In allen Wahlkämpfen mussten Kandidatinnen wie Kandidaten die Frage nach ihrer Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch beantworten. Republikaner*innen, die anfangs noch das Grundsatzurteil "Roe gegen Wade" unterstützt hatten, sahen sich nun als Teil einer "Pro Life"-Partei, die den Kampf um das ungeborene Leben an vorderste Stelle rückte. Abtreibung wurde zu einem hochpolitischen Thema. Und das, obwohl sich in Umfragen immer wieder gut 70 Prozent der Bevölkerung für die Möglichkeit eines legalen Abbruchs aussprechen. "Auf lokaler und bundesstaatlicher Ebene wurden Leute in Positionen gewählt, die die Grenzen der Wahlbezirke neu zogen. Das führte zu Wahlergebnissen mit konservativen Mehrheiten, die nicht die eigentlichen politischen Verhältnisse in den Bundesstaaten widerspiegelten", erläutert Tarah Demant von Amnesty. Oftmals wurde in der Folge auch der Zugang zu Verhütungsmitteln eingeschränkt.

Diskussion über Reiseverbote für Schwangere

Nach dem Urteil des Supreme Court im Juni 2022 setzten 13 Bundesstaaten umgehend sogenannte Trigger Laws in Kraft. Diese Gesetze waren bereits vorab verabschiedet worden für den Fall, dass "Roe gegen Wade" abgeschafft würde, und ­verboten Abtreibungen. Der Oberste ­Gerichtshof hatte mit seinem Urteil Abtreibungen nämlich nicht generell ver­boten, sondern vielmehr den einzelnen Bundesstaaten die Entscheidung überlassen. Nun gibt es also in den USA einen ­Flickenteppich in Sachen Abtreibung: Der Großteil der republikanisch regierten Bundesstaaten verbietet Schwangerschaftsabbrüche, zum Teil sogar bei Inzest oder Vergewaltigung. Demokratisch regierte Staaten bereiten sich hingegen darauf vor, dass betroffene Frauen aus einem Bundesstaat mit Abtreibungsverbot zu ihnen kommen werden.

Zarte Hoffnungen

Kalifornien und New York haben bereits öffentliche Mittel für Reise- und Behandlungskosten bereitgestellt.

Abtreibungsgegner*innen sehen sich durch das Urteil bestätigt und werden nun ein generelles Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen in den gesamten USA fordern, befürchtet Tarah Demant von Amnesty. In einzelnen Bundesstaaten wird sogar über Reiseverbote für schwangere Frauen diskutiert. Außerdem blickt Demant mit Sorge auf weitere Urteile des Obersten Gerichtshofs, die im kommenden Jahr erwartet werden: "Die Fälle, die auf der Agenda stehen, lassen das Schlimmste befürchten. Es handelt sich um Klagen gegen gleichgeschlechtliche Ehen oder den Zugang zu Verhütungsmitteln. Auch der Fall 'Lawrence gegen Texas', in dem es um das Verbot von Analverkehr geht, soll verhandelt werden." Immer mehr konservative Bundesstaaten führen zudem Gesetze ein, die sich gegen die Rechte der LGBTI+-Community richten – stets mit der Begründung, dass diese nicht ausdrücklich in der Verfassung erwähnt seien.

Doch Tarah Demant will sich trotz allem nicht geschlagen geben: "Ich bin entschlossen zu kämpfen. Genau das ist unser Job." Hoffnung bereitet ihr das Ergebnis eines Referendums im konservativen Kansas Anfang August: 59 Prozent der Wählerinnen und Wähler stimmten gegen ein striktes Abtreibungsverbot in ihrem Bundesstaat. Und inzwischen stellen sich auch vermehrt gemäßigte Republikaner*innen gegen die drastischen Forderungen ihrer Partei.

Arndt Peltner ist freier USA-Korrespondent und lebt in Oakland/Kalifornien. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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