Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 12. November 2023

Dr. Hern macht weiter

Gegnerinnen von Abtreibung stehen auf einer Straße in Colorado, USA, ältere Männer und Frauen, sie tragen Winterjacken, auf einem Schild steht "Pray to end abortion".

In den USA hob der Supreme Court im Juni 2022 das landesweite Recht auf Schwangerschaftsabbruch auf. In einigen Bundesstaaten sind Abbrüche seither illegal. Der Arzt Warren Hern praktiziert im liberalen Colorado. In seine Praxis kommen mehr Patientinnen denn je.

Von Madeleine Londene

"Dieses Fenster wurde eingeworfen von denen, die Freiheit hassen", steht auf einem Plakat, das mit Klebeband an einer Wand befestigt ist. Neben dem Fenster ist ein Mann mit Schnauzer und verschränkten Armen zu sehen, die Augenbrauen hinter der Brille sind zusammengezogen. Auf seinem Arztkittel ist ein Namensschild befestigt: Dr. Warren Hern. Die Aufnahme aus dem Jahr 1985 erinnert daran, wie ein Backsteinziegel durch die Scheibe seiner Praxis in Boulder im US-Bundesstaat Colorado flog.

Es war nicht der einzige Angriff auf Hern. Seit der Eröffnung seiner Praxis 1973 wurde der Arzt regelmäßig mit Hassbriefen und nächtlichen Anrufen terrorisiert. Man werde ihn umbringen, wenn er nicht mit den Schwangerschaftsabbrüchen aufhöre. "Ich hatte Todesangst, schlief mit einem Gewehr neben dem Bett, aber ich wusste, dass ich mit meiner Arbeit weitermachen muss." 50 Jahre später arbeitet er immer noch – und hat mehr Patientinnen denn je.

Selbst im Fall von Vergewaltigung

Grund dafür ist das Urteil, das der Supreme Court im Juni 2022 fällte: Mit fünf zu vier Stimmen hob das Oberste Gericht der USA das Grundsatzurteil "Roe vs. Wade" aus dem Jahr 1973 auf, das Frauen ein Recht auf Abtreibung eingeräumt hatte. Weil das landesweit gültige Recht gekippt wurde, können die Bundesstaaten jetzt eigene gesetzliche Regelungen treffen. Mittlerweile haben 24 der 50 Bundesstaaten das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche stark eingeschränkt bzw. Schwangerschaftsabbrüche weitgehend verboten – selbst im Fall von Vergewaltigung, Inzest oder gesundheitlicher Gefährdung der Mutter. Weitere Staaten wollen es ihnen gleichtun.

Viele Ärzt*innen sind deswegen in ­einen anderen Bundesstaat gezogen. Bei einer Befragung gaben junge Frauenärz­t*in­nen an, sich nicht in Bundesstaaten mit restriktiver Gesetzgebung niederlassen zu wollen. Eine Ärztin landete vor Gericht, weil sie bei einem minderjährigen Vergewaltigungsopfer einen Abbruch vornahm.

In Teilen der USA herrschen Zustände wie im 19. Jahrhundert. Frauen werden sterben und der Staat schaut zu.

Dr Hern
Arzt, kämpft seit den 1970er Jahren für ein liberales Abtreibungsrecht

"In Teilen der USA herrschen Zustände wie im 19. Jahrhundert", sagt Hern bei einem Telefongespräch. "Frauen werden sterben und der Staat schaut zu." Colorado ist einer von sieben Bundesstaaten, in denen es keine zeitliche Begrenzung für Abbrüche gibt. Und Hern zählt zu den ganz wenigen Ärzt*innen, die Abtreibungen auch nach der 21. Schwangerschaftswoche vornehmen. Diese in den USA sogenannten "späteren Abbrüche" machen landesweit nur etwa ein Prozent aller Abtreibungen aus. Sie sind ethisch umstritten. Derzeit ist ein Fötus ab der 22. Woche lebensfähig. Auf der anderen Seite steht das Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung der Frau. Daher geben weltweit viele Staaten Fristen vor, innerhalb derer eine Schwangerschaft beendet werden darf.

Ein Arzt mit grauem Haar, Brille und in Kittel gekleidet, steht in einem Behandlungszimmer avor einer Liege.

Hern kämpft seit den 1970er Jahren für ein liberales Abtreibungsrecht. Als Medizinstudent arbeitete er 1963 nachts im Colorado General Hospital in Denver, und was er dort sah, prägte ihn: Frauen wurden mit einem septischen Schock ­eingeliefert, manche drohten zu sterben, weil sie auf unsichere Art versucht hatten, abzutreiben – mit Stricknadeln und Kleiderbügeln, die sie in die Gebärmutter einführten, mit Drogen und hochdosierten Hormonen. Eine Frau, erinnert sich Hern, schoss sich in den Bauch und fuhr in die Notaufnahme.

Ob im peruanischen Amazonasgebiet, in Panama oder in Brasilien – überall, wo Hern ein Praktikum machte oder für das Friedenscorps arbeitete, war es dasselbe. "In der brasilianischen Stadt Salvador gab es eine Station für frisch Entbundene und zwei Stationen für Frauen, die nach unsicheren Abbrüchen eingeliefert wurden." Die Hälfte von ihnen starb an Verletzungen und Komplikationen, erzählt Hern. Später wurde er medizinischer Leiter der ersten gemeinnützigen Abtreibungsklinik in Colorado. "Dabei wurde mir klar, dass mein wichtigster Beitrag in der Medizin darin besteht, sichere Abbrüche vorzunehmen." Eine Frau habe ihn gebeten, er solle nie mit seiner Arbeit aufhören. Also machte Hern weiter. Radikalen Abtreibungsgegner*innen ist der Arzt ein Dorn im Auge. Seine Praxis hat einen ­geschützten Zugang und ist kugelsicher ausgerüstet, nachdem eine seiner Angestellten 1988 beinahe an der Rezeption ­erschossen worden wäre.

Ärzt*innen riskieren ihr Leben

Seit der Entscheidung des Supreme Court im Juni 2022 kommen viele ungewollt schwangere Frauen nach Colorado. Nach Angaben der Society of Family Planning wurden in dem Bundesstaat ­allein in den ersten neun Monaten nach dem Urteil 4.500 zusätzliche Abbrüche vorgenommen. Hern berichtet von einer Frau, die im Herbst 2022 aus Texas in seine Praxis kam. Sie hatte bereits vier Kinder und konnte sich kein weiteres leisten. Sie war zunächst 1.400 Meilen nach Florida gefahren, um sich eine Abtreibungspille zu besorgen. Zuhause hatte sie erst spät gemerkt, dass sie nicht wirkte. "Das kommt nicht selten vor", sagt Hern. In Bundesstaaten mit restriktiver Gesetzgebung könnten Frauen keine Arztpraxis für eine Nachkontrolle aufsuchen, denn dann würden sie sich strafbar machen. Die Frau habe daraufhin monatelang gespart, um nach Colorado fahren zu können. Als sie bei Hern eintraf, war sie bereits in der 31. Schwangerschaftswoche. "Das ist kein Einzelfall, er ist vielmehr typisch für die Frauen, die ich hier behandle", sagt Hern. Die neue rigide Abtreibungspolitik in vielen Staaten führe zu einer größeren Gefährdung der Frauen und zu höheren Kosten, sagt der Arzt. Je später man den Eingriff vornehme, desto riskanter und stressvoller, zeitintensiver und teurer sei er. Die Kosten für den Eingriff liegen zwischen 10.000 und 25.000 US-Dollar, das sind umgerechnet 9.400 bis 23.400 Euro.

Hern ist besorgt, dass Donald Trump die nächsten Präsidentschaftswahlen gewinnen könnte. "Wenn das passiert, werden reproduktive Gesundheitsleistungen und sichere Schwangerschaftsabbrüche komplett wegfallen", sagt er. Der 85-Jährige will weiterarbeiten, so lange er kann. Er bildet Ärzt*innen aus, die seine Praxis weiterführen können. Sie zu übernehmen, bedeutet jedoch, das eigene Leben zu riskieren. "Mein Name steht immer noch auf allen einschlägigen Listen", sagt er. In den vergangenen 20 Jahren wurden fünf Ärzt*innen ermordet, die spätere Schwangerschaftsabbrüche vornahmen, darunter auch Herns enger Freund George Tiller. 2009 schoss ein fanatischer Abtreibungsgegner ihm während eines Gottesdiensts ins Gesicht. Vier Tage nach dem Mord hielt Hern in Colorado eine Rede zum Gedenken an den Freund.

Sie endete mit den Worten "Wake up, America".

Madeleine Londene ist freie Reporterin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

HINTERGRUND

Schwangerschafts­abbrüche in Europa

In vielen Ländern der Europäischen Union ist ein Schwangerschaftsabbruch innerhalb gesetzlich geregelter Fristen legal oder wird nicht strafrechtlich verfolgt.

In Deutschland sind Abbrüche strafbar, aber ­unter Bedingungen (etwa nach Beratung und Bedenkzeit) bis zur 12. Schwangerschaftswoche für Ärzt*innen und Schwangere straflos. Ab­brüche nach einer Vergewaltigung oder bei ­medizinischer Indikation sind gesondert ­geregelt.

Spanien garantiert Abbrüche bis zur 14. Woche in öffentlichen Gesundheitszentren. Sie sind ohne elterliche Zustimmung ab 16 Jahren möglich. Die obligatorische Beratung und Bedenkzeit wurden abgeschafft.

In Polen gilt jedoch seit Januar 2021 de facto ein Abbruchsverbot für Ärzt*innen und Unterstützer*innen, außer bei Vergewaltigung, Inzest und Gefahr für das Leben der Mutter. Die Frauenrechtsaktivistin Justyna Wydrzyńska wird strafrechtlich verfolgt, weil sie einer Schwangeren zu einem sicheren Abbruch verholfen hat. Amnesty International setzt sich im aktuellen Briefmarathon für Wydrzyńska ein.

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