Amnesty Journal Vereinigte Staaten von Amerika 16. November 2021

Mehr als Musik

Eine schwarze junge Frau mit Goldkette und Dreadlocks sitzt auf einem Stuhl und hält ihre rechte Hand auf ihrem Herz.

Dichterin, Musikerin, Aktivistin: Moor Mother.

Zorn auf die Unterdrückung von Frauen und Schwarzen: Moor Mothers eigenwillige Musik ist politisch und auf ihrem neuen Album erstaunlich zugänglich.

Von Thomas Winkler

Im vergangenen Jahr war Camae Ayewa beim JazzFest in Berlin. Sie war nicht vor Ort präsent, denn das JazzFest war – wie die meisten anderen Kulturveranstaltungen 2020 – ein virtuelles Event, bei dem Künstler_innen und Publikum nur online zusammenkamen. Also saß sie in ihrer Heimatstadt Philadelphia vor einem abrissreifen Haus, blickte in die Kamera, rauchte eine Zigarette und trug ein Gedicht mit dem Titel "Untitled" vor. Während man im Hintergrund deutlich den vorbeirauschenden Straßenverkehr hören konnte, raste Ayewa mit eindringlicher Stimme durch eine poetische Bestandsaufnahme der aktuellen Welt, streifte soziale Ungerechtigkeiten, die aktuelle Pandemie, Machtgeilheit, Klimawandel, die "globale Software-Maschine", Instagram als "Friedhof der Erinnerungen" und vieles mehr, um schließlich doch noch Hoffnung zu finden in der Feststellung: "At least we can still make music".

Abgeklärter Zorn und experimenteller Noise

Ja, zumindest kann man noch Musik machen, so wie Ayewa dies unter ihrem Künstlerinnennamen Moor Mother seit knapp zehn Jahren tut. Selten ist ihre Musik allerdings so zugänglich wie auf ihrem neuen Album "Black Encyclopedia Of The Air". Ihre bisherigen Veröffentlichungen, die allesamt im Selbstverlag erschienen, waren schwer verdauliche, sperrige Exkursionen in den experimentellen Noise, verschränkt mit Litaneien voller sprachlicher und politischer Sprengkraft, in denen sie die jahrhundertealte Unterdrückung des weiblichen Geschlechts und die rassistische Diskriminierung der Schwarzen Community in abgeklärtem Zorn beschrieb.

Im Vergleich dazu wirkt "Black Encyclopedia Of The Air", das bei einem renommierten Independentlabel erschien, auf dem neben Punkrockbands auch Tom Waits oder die Soullegende Mavis Staples ihre Platten herausbringen, geradezu eingängig. Schon das Eröffnungsstück "Temporal Control of Light Echoes" legt einen verschwörerisch-flauschigen Klangteppich aus, der alte Klischees von rauchigen Jazz-Kneipen heraufbeschwört, aber im Text die Knochen der Toten zählt.

Zum Jazz hat Moor Mother auch als Texterin und Vokalistin des derzeit sehr angesagten New-Jazz-Kollektivs Irreversible Entanglements eine intensive Verbindung, doch ist dies nicht ihr einziger musikalischer Bezugspunkt. Soul, HipHop und R&B sind mindestens ebenso wichtig, und immer sind es die goldenen, meist schon vergangenen Zeiten der Genres, auf die sie sich bezieht.

Bühne für Underground-Rapper

Doch weil sie die alten Klänge in experimentelle Zusammenhänge stellt und keine Angst vor Sperrigkeit hat, klingen die bekannten Versatzstücke plötzlich wie runderneuert, ja zeitgemäß. Den Kontakt zur Moderne hält Moor Mother zudem, indem sie auch anderen Stimmen Raum gibt und eine ganze Riege junger Underground-Rapper auftreten lässt, die dem im Mainstream kaum noch hörbaren, politisch bewussten Conscious Rap neues Leben einhauchen.

Dass einem immer noch die Musik bleibt, zumindest als Trost, damit will sich Ayewa aber nicht zufrieden geben. Die Dichterin und Musikerin versteht sich auch als Aktivistin, die Platten und Gedichtbände herausgibt, Theaterstücke inszeniert, Kulturfestivals organisiert, bei Benefiz-Veranstaltungen auftritt und als Mitglied des queeren Künstlerkollektivs Black Quantum Futurism Literatur- oder Freestyle-Rap-Workshops organisiert, um das Selbstbewusstsein in den Schwarzen Stadtvierteln zu stärken. 2016 gründete das Kollektiv im Norden von Philadelphia als Zeichen gegen die dort einsetzende Gentrifizierung ein "Afrofuturist Community Center". Manchmal müssen der Musik eben auch Taten folgen.

Mehr Info und Reinhören unter: Moor Mother: Black Encyclopedia Of The Air (Anti/Indigo).

Thomas Winkler ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Indigene Klanglandschaften

von Thomas Winkler

Auf der philippinischen Insel Luzon leben die Aeta. In den abgeschiedenen, vom Dschungel überwucherten Bergregionen konnten einzelne Gruppen ihre Kultur des Jagens und Sammelns, ihre Sprache und ihre traditionelle Religion erhalten. Der Filmemacher Carlos Casas hat während eines Aufenthalts bei den Aeta ihre Musik und die Geräusche des Waldes eingefangen – und verarbeitet diese nun in einer Serie von Veröffentlichungen. Sie reichen von Field Recordings, die als Download zur Verfügung stehen, über eine Single, die ein Interview mit einem Fledermausjäger enthält, bis zum Album "Kamana" mit seinen ruhig fließenden, schwerelosen Klanglandschaften. In seinen Filmen, die man visuelle Meditationen nennen kann, hat sich der spanische Regisseur bislang mit indigenen Walfänger_innen in der Arktis, dem Leben im Pamir-Gebirge oder einem Slum in Rio de Janeiro beschäftigt. Als Musiker organisiert Casas das Originalmaterial in einer losen Struktur, möglichst ohne es zu kommentieren oder gar zu verfälschen. Zusätzliche musikalische Mittel setzt er nur sparsam ein, die Elektronik soll nicht im Mittelpunkt stehen, sondern nur unterstreichen. Die naheliegende Idee, einen spektakulären Zusammenprall der Kulturen zu inszenieren und authentische Geräusche mit Technobeats zu kontrastieren, hat Casas bewusst vermieden, stattdessen entführen uns diese Kompositionen in eine fremde, vom Untergang bedrohte Welt, ohne die Anmutung eines anthropologischen Lehrstücks anzunehmen.

Carlos Casas: "Kamana" (Discrepant)

Nun spricht die Wut

von Thomas Winkler

Deutschland? Ist ein "Drecksland". Könnte so schön sein, wenn alle Tiere freigelassen, die Polizei abgeschafft, die Bundeswehr entwaffnet und die Banken enteignet wären. Es ist eine sehr naive, aber schöne Utopie, die Akne Kid Joe in ­ihrem Song "Gestern Heute Morgen" entwerfen, schließlich handelt es sich bei ihnen ja auch um keine Partei, sondern um eine Band. Das Quartett aus Nürnberg lässt auf seinem neuen, dritten Album vor allem zwei Dinge sprechen: seine Gitarren und seine Wut. Beide sind seit den späten 1970er Jahren die wichtigsten Zutaten für eine zünftige Punkband. So gesehen sind Akne Kid Joe Traditionalisten. Im Gegensatz zum allergrößten Teil der Punk-Subkultur hierzulande sind sie jedoch ironiefähig, was sich bereits am Albumtitel "Die Jungs von AKJ" ablesen lässt. Denn sie sind mitnichten alle Jungs, den Ton gibt vielmehr Sängerin und Gitarristin Sarah Lohr an. Immer kurz vor dem Stimmbandriss schreit sie an gegen den "dummen alten Mann", belanglosen Small Talk und den doofen Kapitalismus. Auch Impfgegnerschaft und Weltverschwörertum bekommen ihr Fett ab. Als sich Akne Kid Joe im vergangenen Jahr gegen Corona-Leugner_innen aussprachen, von denen es nicht zuletzt in der eigenen, autoritätskritischen Punk-Szene viele gibt, ernteten sie noch einen Shitstorm. Nun stehen sie in den Charts.

Akne Kid Joe: "Die Jungs von AKJ" (Kidnap Music/Cargo)

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