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"Einen Krieg anzufangen, muss strafbar sein"

Oleksandra Matwijtschuk und ihre Organisation Center for Civil Liberties (CCL) setzen sich für den Rechtsstaat und die Zivilgesellschaft in der Ukraine ein und dokumentieren russische Kriegsverbrechen. 2022 nahm sie für das CCL den Friedensnobelpreis entgegen.
Interview: Tanja Dückers-Landgraf
Wie kann Ihre Nichtregierungsorganisation unter Kriegsbedingungen arbeiten?
Es ist eine herausfordernde Zeit. Mein Team und ich haben jetzt im Krieg keine Handhabe, die vielen Menschenrechtsverletzungen, die wir beobachten, auch juristisch zu verfolgen. Wir haben keine rechtlichen Mittel, um russische Kriegsverbrechen zu stoppen und den Menschen zu helfen. Deshalb liegt unser Augenmerk derzeit auf der Dokumentation der zahlreichen Verbrechen, darunter Folter und Tötungen. In den ersten beiden Kriegsjahren haben wir rund 75.000 Fälle dokumentiert. Es ist die größte existierende Datensammlung über Kriegsverbrechen in der Ukraine. Auch während des Kriegs müssen wir die Beweise für jede einzelne Tat so gut wie möglich sichern. Die Verantwortlichen für Terror und Gräuel müssen vor Gericht kommen. Solche Straftaten verjähren nicht.
Wie müsste die juristische Aufarbeitung aussehen?
Das ist eine historische Aufgabe für unsere Generation: Wenn wir in Zukunft Kriege verhindern wollen, müssen wir die Staaten bestrafen, die solch einen Horror beginnen. Es gab im 20. Jahrhundert die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg und Tokio. Aber sie fanden erst nach der Katastrophe statt. Wir leben im 21. Jahrhundert, wir müssen weiterkommen, wir müssen jetzt anfangen, besondere Tribunale abzuhalten, um Herrschende sofort zu bestrafen, wenn sie einen Krieg beginnen. Das muss auch anders ablaufen als beispielsweise bei den Sondertribunalen für Sierra Leone oder das ehemalige Jugoslawien: Dort wurde bestraft, wer Menschen nicht gemäß dem geltenden Kriegsrecht getötet hat. Aber wir müssen jeden Angriffskrieg an sich verurteilen. Einen Krieg anzufangen, muss strafbar sein, muss verboten werden! Wir müssen zeigen: Krieg macht keinen Sinn, er bringt nichts, er zieht nur politische und juristische Konsequenzen nach sich. Wer solche verbrecherischen Aggressionen an den Tag legt, wird von der Weltgemeinschaft bestraft!

Ankunft von Flüchtlingen aus dem besetzten Cherson (Saporischschja, Ukraine, 2022)
© Florian Bachmeier
Hat der Westen zu lange gezögert, Hilfe anzubieten?
Er hat Russland und auch das systematische Vorgehen Russlands im Osten der Ukraine vielleicht zu lange unterschätzt. Russland verbreitet Terror, Angst und Schrecken, um den Widerstand der Leute zu brechen. Es ist wichtig zu verstehen: Wir sitzen jetzt hier in der Hölle, weil Russland immer mit allem straflos davonkam. Moldau lebt seit 30 Jahren mit russischen Truppen in Transnistrien; hinzu kommt die von Russland geprägte Situation in Georgien, Tschetschenien, Libyen, Mali, Syrien. Dann die Besetzung der Krim, ein unglaublicher Vorgang, der Krieg im Osten unseres Landes seit 2014, dem die internationale Gemeinschaft wenig Beachtung geschenkt hat, die Liste ist lang. Und nie passierte wirklich etwas, Russland wurden keine Grenzen aufgezeigt, Putin konnte davon ausgehen, mit allem durchzukommen. Dazu passt ein russisches Sprichwort: "Der Appetit wächst mit dem Essen." Kolleg*innen von mir haben eine brillante Studie über das Muster der russischen Kriegsführung erstellt. Grosny, Aleppo: Das waren die Vorlagen für Mariupol.
Russland steht nicht allein da …
Es ist wichtig zu sehen, wie und von wem Russland unterstützt wird. Nordkorea liefert Munition, der Iran Drohnen, China Technologie. Autoritäre Staaten haben sich zusammengeschlossen, die bei allen Unterschieden eines gemeinsam haben: Den Wunsch nach größtmöglicher Kontrolle über jedes Individuum. Das steht in völligem Gegensatz zu dem, was wir uns für die Zukunft der Ukraine wünschen. Es ist jedoch eine seltsame Situation, um Waffen zu bitten. Wir haben ein Recht auf Selbstverteidigung. Es ist schwierig, uns mit nackten Händen zu verteidigen. Ja, wir brauchen Waffen, so bitter das ist. Als Menschenrechtsanwältin weiß ich aber auch, dass Institutionen wie die Vereinten Nationen friedlich arbeiten. Wir müssen also erst einmal die rechtliche Ordnung wieder herstellen, damit auf dieser Ebene überhaupt mit der Arbeit begonnen werden kann.

Wie bewerten Sie die Arbeit von Amnesty in der Ukraine?
Ich bin Amnesty sehr dankbar für die Arbeit zur Ukraine. Amnesty gehört zu den Organisationen, die helfen, all die Menschenrechtsverletzungen hier zu dokumentieren. Und ich bin froh, dass Amnesty nun auch wieder ein Büro in der Ukraine hat. Es ist wichtig, dass es hier weiterhin oder wieder NGOs gibt, deren Mitarbeitende mit eigenen Augen sehen, was passiert. Es findet nicht nur ein militärischer Krieg statt, sondern auch einer, der mit den Mitteln der Information und der Unterdrückung von Informationen geführt wird. Russland hat enorm viel investiert in Systeme, die Fehlinformationen aller Art liefern. Ich habe auch deswegen großen Respekt vor der Arbeit von Amnesty, weil sich die Organisation vehement gegen Desinformation und das Vertuschen von Menschenrechtsverletzungen einsetzt. Die Wahrheit muss eben auch verteidigt werden.
Sind die Menschenrechts-NGOs innerhalb der Ukraine gut vernetzt?
Wir haben eine sehr lebendige, engagierte Menschenrechtsszene mit vielen Akteur*innen. Wir alle warten nicht, bis der Krieg endet. NGOs wie Vostok SOS, mit denen wir kooperieren, machen andere, hervorragende, wichtige Arbeit. Sie leisten medizinische und psychologische Hilfe, helfen bei Evakuierungen und dabei, ein neues Zuhause oder zumindest ein Dach über dem Kopf zu finden. Im Moment ist es bei uns so: Gewöhnliche Leute machen außergewöhnliche Dinge. Wenn wir für die Menschenwürde kämpfen, können wir am Ende stärker sein als diese große russische Militärmaschinerie. Ich bin Optimistin, ich kämpfe seit mehr als 20 Jahren für die Menschenrechte. Wenn man pessimistisch veranlagt ist, kann man in diesem Bereich nicht so lange arbeiten.

Welche Hoffnungen verbinden Sie und ihre Organisation mit der Europäischen Union?
Ich hatte Hoffnung, aber Hoffnung ist keine Strategie. Wir müssen daraus etwas Aktives, Reales ableiten. Die Ukraine hat in der Vergangenheit schon einige positive Zeichen setzen können. Es gab auf dem Maidan Millionen friedlicher Demonstrant*innen. Ich war damals im Koordinationsteam. Wir wollten einen Staat, der Studierende nicht länger verprügelt oder Schlimmeres mit ihnen anstellt, einen verlässlichen, freiheitlichen, demokratischen Staat. Dafür haben wir einen hohen Preis gezahlt. Jeden Tag wurden Hunderte Menschen geschlagen, eingesperrt, zum Teil gefoltert; auf dem Maidan starben auch Menschen.
Russland begann die Invasion in der Ostukraine im Jahr 2014, um uns auf genau diesem Weg auszubremsen. Die Ukraine hatte damals eine Chance, demokratische Reformen einzuleiten und zu etablieren. Genau in diesem Moment intervenierte Russland. Ich hörte später immer wieder: "Putin hatte Angst vor der NATO". Nein. Im Jahr 2014 hatte die Ukraine keine Chancen, der NATO beizutreten. Putin hatte keine Angst vor der NATO, sondern vor der Freiheit, die näher an die russische Grenze rückte. Es geht in Wirklichkeit weniger um Institutionen und Bündnisse als um ähnliche oder unterschiedliche menschliche und zivilgesellschaftliche Werte. Die Menschen in der Ukraine haben keine Ahnung, wie die EU im Inneren funktioniert. Aber sie sehen sie als eine Chance zur Rückkehr in zivile Dimensionen. Dahin wollten wir schon 2014. Aber wir sind immer noch eine Gesellschaft im Wandel; einem Wandel vom alten sowjetischen System zu den auf Freiheit und auf Menschenrechten basierenden europäischen Demokratien. Wir haben uns während der Revolution der Würde, im Jahr 2014, für diesen Weg entschieden.
Wie ist es um Ihre eigene Sicherheit bestellt?
Niemand ist in der Ukraine sicher. Meine Kolleg*innen dokumentierten unlängst einen traurigen Fall: Eine Familie floh von Kiew nach Winniza, aus Sicherheitsgründen, aus Angst um ihre Tochter. Aber dann bombardierte die russische Armee diese Stadt und die vierjährige Lisa wurde dabei getötet. Es gibt in der Ukraine keinen sicheren Ort mehr, für niemanden.
Vor Jahren haben Sie Ihren ursprünglichen Berufswunsch Theaterregisseurin zurückgestellt, um Jura zu studieren und sich dem Schutz der Menschenrechte in Ihrem Land zu widmen. Gab es ein spezielles Ereignis, das Ihre Entscheidung beeinflusst hat?
Wäre ich in einem Land wie Deutschland oder der Schweiz geboren worden, dann wäre ich wohl dem Wunsch gefolgt, ans Theater zu gehen. Aber mein damaliges Gymnasium lud ein paar ehemalige Dissident*innen aus der Sowjetzeit zu uns ein. Es waren Philosoph*innen, Schriftsteller*innen, Physiker*innen, Intellektuelle. Solche Besuche gab es in den 1990er Jahren öfter, sie alle erzählten uns Schüler*innen ihre Geschichten. Ich war so beeindruckt von ihnen. Diese Menschen waren inhaftiert und gefoltert worden, sie wurden in die Polarregion abgeschoben oder in psychiatrische Einrichtungen gesteckt. Ihre Familien wurden bedrängt oder erlebten Repression. Und doch waren diese Leute so mutig! Sie kämpften gegen das totalitäre Sowjetregime, und sie gaben nicht auf. Man kann sagen, viele dieser Dissident*innen waren nicht erfolgreich mit dem, was sie taten, sie landeten immer wieder im Gefängnis, ihre Ansichten wurden unterdrückt. Und doch gaben sie ihre Botschaft weiter. Wegen solchen Menschen wurden die Ukraine und andere Länder unabhängig und frei. Insbesondere der Sowjetdissident Jewhen Swerstjuk mochte mich, er nahm sich Zeit und erzählte mir viel. Swerstjuk war ein wunderbarer Mensch. Er starb leider vor zwei Jahren, aber die Begegnung mit ihm hat mein Leben verändert. Ich habe Jura studiert statt Theater und bin Menschenrechtsaktivistin geworden, um für Freiheit und Menschenwürde zu kämpfen.
Hier geht es zur Website vom Center for Civil Liberties.
Tanja Dückers-Landgraf ist Autorin und Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.
Der Fotograf Florian Bachmeier, vom dem wir hier einige Bilder zeigen, dokumentiert die Entwicklung in der Ukraine seit 2013 in einem Langzeitprojekt. Ein Teil seiner Arbeit wurde 2021 in dem Buch "In Limbo. Ukraine 2013–2021" (Verlag Buchkunst Berlin) veröffentlicht.
HINTERGRUND
Oleksandra Matwijtschuk, 1983 in Kiew geboren, ist eine der prominentesten ukrainischen Menschenrechtsverteidiger*innen. Matwitjschuk lebt in Kiew. Die studierte Juristin gründete im Jahr 2007 das Center for Civil Liberties (CCL), das sich seither für die ukrainische Zivilgesellschaft, den Aufbau nachhaltiger demokratischer Strukturen und Institutionen, für Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsbildung und gegen Bürgerrechtsverletzungen durch Behörden einsetzt.
Die Organisation erlangte 2013 und 2014 größere Bekanntheit, als sie während der gewaltsamen Niederschlagung der Euromaidan-Proteste Menschenrechtsverletzungen dokumentierte und Rechtshilfe leistete. Im Bereich des internationalen Rechts engagiert sich das CCL seit Langem für den Beitritt der Ukraine zum Internationalen Strafgerichtshof.
Es dokumentiert Menschenrechtsverletzungen und bereitet somit die rechtliche Aufarbeitung von Kriegsverbrechen vor, die seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine im Februar 2022 begangen wurden.
Im Jahr 2022 erhielt das CCL gemeinsam mit der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial und dem Menschenrechtler Ales Bialiatski aus Belarus den Friedensnobelpreis.
Wie sieht das Leben der Menschen in der Ukraine inmitten des Kriegs aus? Wie gestalten sie trotz großer Gefahren ihren Alltag? Wie versuchen sie, Hoffnung zu bewahren? Amnesty International hat gemeinsam mit der Fotoagentur Ostkreuz und der ukrainischen Menschenrechtsaktivistin Oleksandra Bienert eine Fotoausstellung entwickelt, die Einblicke in den Alltag der Menschen in der Ukraine gibt.
An diesen Orten wird sie noch zu sehen sein:
Volkshochschule Bargteheide (2.10. bis 19.11.)
Volkshochschule Dortmund (4.11. bis 7.12.)
Alter Schlachthof, Soest (14.11. bis 5.12.)
Bürger- und Kulturhaus, Gauting (21.1. bis 23.3.2025)
Weitere Termine in Planung.