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"Solidarität lässt sich nicht einsperren"
Ein knappes halbes Jahr nach seiner Freilassung aus dem türkischen Gefängnis blicken Peter Steudtner und seine Partnerin Magdalena Freudenschuss, Trainerin in der politischen Bildungsarbeit, auf ihre Erfahrungen während dieser Zeit zurück. Ein Gespräch über Widerstand, Repression, Sorge und Solidarität.
Peter Steudtner: Im vergangenen Sommer führten Ali Gharavi und ich in der Türkei einen Workshop über den Umgang mit Stress und Trauma sowie Datensicherheit für die türkische Menschenrechtsplattform IHOP durch. Eigentlich sollte er nur dreieinhalb Tage dauern. Doch daraus wurden dreieinhalb Monate Haft: Gemeinsam mit den acht teilnehmenden Menschenrechtsverteidiger*innen wurden wir wegen Terrorunterstützung angeklagt.
Damit bekam für mich ein Satz von Audré Lourde, den wir im Handbuch zu unserem Holistic-Security-Ansatz zitieren, ganz neue Bedeutung: "Caring for myself is not an indulgence, it is self-preservation and that is an act of political warfare." Oder in anderen Worten: "Wellbeing is resistance", Wohlfühlen heißt Widerstand. Während der Haft war das ein Leitsatz, den ich mit Sport, Entspannungsübungen, Yoga, Lesen, Schokolade und Kontakt zu den wenigen Mitgefangenen umsetzte. Dabei wurde mir bewusst, wie sehr mir meine teilweise seit Jahren eingeübten Routinen halfen, auch in der Haft für mich zu sorgen. Und so verwandelte sich der Leitsatz zu "Wellbeing is Resilience", Wohlfühlen heißt Widerstandskraft. Als wir nach meiner Freilassung darüber nachdachten, kamen wir darauf, dass "Care is Resistance" es vielleicht besser trifft, also: Fürsorge bedeutet Widerstand.
Magdalena Freudenschuss: So würde ich auch deine Beziehungen zu den Mitgefangenen verstehen. Wenn du davon erzählst, dass du in deinem Zellenflur Entspannungsübungen vermittelt hast, dann drückt sich darin ein Sorgen umeinander aus. Dieses Sich-Einander-Zuwenden ist eine Form des Widerstands gegen Repression. Sorgearbeit als Widerstand, davon haben auch Ali Gharavis Partnerin Laressa Dickey und ich uns tragen lassen. Unsere Sorgearbeit richtete sich auf euer Wohlbefinden: so viel Liebe durch ein kleines Nadelöhr zu schicken wie möglich. Sorgearbeit als Widerstand bedeutete für uns außerdem, das Wohlbehaltenbleiben von weiterer und näherer Familie und Freund*innen zu stärken – Sorge im Sinne von Alltagsstrukturen am Laufen halten, emotionale Nähe bieten, Informationen weitergeben, die Sorgen anderer anhören. In der Krisensorge lag für mich die unmittelbarste Auswirkung dieser Art von Repression. Diese dreieinhalb Monate, das waren aber auch vier Zahnpastatuben, die ich in deiner Abwesenheit geöffnet habe, viermal ist unsere Küchenputzuhr über deinen Namen gedreht worden, den Sommer haben wir letztes Jahr irgendwie verpasst. In diesem Dich-Vermissen im Alltag – vom Lachen und Reden über das Kochen bis hin zum Kinderbegleiten – machte sich dein Fehlen bemerkbar.
Steudtner: Aus dem Alltag mit dir, Familie, Freund*innen und Kolleg*innen herausgeschnitten zu sein, keinerlei Bestätigung, Zuwendung, Reflexion oder Inspiration zu bekommen, bedeutete für mich ebenfalls eine Ebene von Repression. Dazu gehörte auch, mich nicht mehr kümmern zu können, weder um Beziehungen noch um die Alltags- und Familienarbeit. Da hatte ich ein schlechtes Gewissen, dich zur Alleinerziehenden zu machen.
Freudenschuss: Deine Inhaftierung hat sich auch auf andere in unserem Umfeld ausgewirkt: auf Menschen, die sich intensiv ins Krisenmanagement und die Solidaritätsarbeit eingebracht haben. Mit etwas Abstand wird mir bewusst, an wie vielen Stellen die Druckwellen der Repression Beziehungen verändert haben. Es gab unglaublich viele bestärkende, tiefe Momente in der Solidarisierung. Bestärkendes, Wunderbares ist aus der Krise erwachsen, so auch die Begegnung mit Laressa. Andere Beziehungen bekamen dagegen Risse, erlitten Schaden – weil ich zeitlich und emotional beschäftigt war mit eurer Inhaftierung.
Steudtner: Für mich haben die Begegnungen während der Haftzeit mit Mitgefangenen, meinen Anwält*innen und Unterstüzter*innen zu einer tiefen Verbindung in die Türkei geführt. Das würde ich nun gerne in konkretes Engagement umsetzen. Dabei spüre ich die stärksten Auswirkungen der Repression: Ich kann mich in der Öffentlichkeit jetzt nicht so eindeutig äußern, wie ich das vielleicht gerne täte, um unseren Prozess und die Sicherheit der anderen nicht zu gefährden. Die Schere im Kopf ist nicht nur ungewollt, sondern auch anstrengend: Jedes Wort will auf seinen möglichen Schadensgehalt hinterfragt werden, ebenso jede Veranstaltungsteilnahme.
Freudenschuss: Sich dieser Frage mit solcher Beharrlichkeit zu stellen, ist vielleicht auch heilsam. Es stärkt unsere Sensibilität für die Macht unserer Worte und Taten, auch dann, wenn diejenigen, die die Auswirkungen davon spüren, nicht Menschen sind, die uns nahestehen. In den Monaten deiner Inhaftierung war diese Entscheidung zwischen Schaden und Nutzen eine sehr existentielle Frage. Sie war immer wieder mit der Angst behaftet, dass unsere Entscheidungen eure Situation verschlechtern. Diese Angst kann eine Bremse sein, die wiederum für Frust bei jenen sorgt, die manchmal vielleicht auch mit gutem Grund mutiger gewesen wären als ich. Um keinen Schaden anzurichten, war meine öffentliche Rolle während deiner Inhaftierung sehr auf die Rolle der Partnerin, auf das Narrativ der Familie beschränkt. Ich habe meine Person sehr häufig auf diesen einen Aspekt reduziert. So bleibt nicht nur die zentrale Rolle der Sorgearbeit als Antwort auf Repression marginalisiert, sondern auch wir, die wir diese Sorge- und Krisenarbeit geleistet haben, wurden von diesen Unsichtbarkeiten eingesperrt.
Steudtner: Solidarität lässt sich aber nicht einsperren. Am stärksten war sie für mich gleich am Anfang spürbar im Kontakt mit meinen Mitgefangenen im unterirdischen Anti-Terror-Gewahrsam des Polizeipräsidiums von Istanbul: Wir teilten unser Essen und unsere Tränen, sangen miteinander, rezitierten gemeinsam den Koran und beteten zusammen. Diese Solidarität drinnen wurde bald ergänzt durch die von außen: in Form von Mahnwachen und Andachten, Brief- und anderen Kampagnen. Dabei trug mich auch das innere Gefühl des Dazugehörens zur internationalen Community der Menschenrechtsverteidiger*innen.
Freudenschuss: Auch draußen waren die vielen Formen der Solidarität essenziell: Die gemeinsame Arbeit mit deinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Umfeld der Holistic Security-Arbeit, aus der Kurve Wustrow und bei Hivos war von Solidarität getragen. Auch der Alltag war von aufmerksamem Zugewandtsein geprägt: ein Glas Wein mit Laressa nach einem langen Arbeitstag, vorbeigebrachte Blumen, eine anerkennende Zeile einer Mail, Spenden, um die Anwaltskosten zu decken, oder die Zeit, die so viele Menschen uns als Familie geschenkt haben. All diese Akte der Solidarität bedeuteten und bedeuten weiter Widerstand gegen Repression. K