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Safaritourismus statt Weidewirtschaft
Im Norden Tansanias sind mehr als 70.000 Massai von Vertreibung bedroht. Die Regierung spricht von Umsiedlung auf freiwilliger Basis, das Land sei überlastet.
Von Bettina Rühl, Nairobi
Auf den verwackelten Handyaufnahmen sind Schüsse zu hören, weißer Rauch steigt auf. Männer aus der indigenen Gemeinschaft der Massai, erkennbar an ihren traditionellen Gewändern, laufen aus dem Bild heraus, um sich in Sicherheit zu bringen. Abgefeuert werden die Schüsse von tansanischen Armeeangehörigen, die damit protestierende Massai auseinandertreiben wollen.
Der von Katar finanzierte Sender Al Jazeera zeigte die Amateuraufnahmen im Juni dieses Jahres, dem Monat, in dem ein lange schwelender Konflikt zwischen der tansanischen Regierung und der Gemeinschaft der Massai in der Stadt Loliondo im Norden des Landes eskalierte. In dem Konflikt geht es um ein etwa 1.500 Quadratkilometer großes Gebiet, das zum angestammten Weideland der Massai gehört, die von Viehzucht leben. Das Areal liegt in der Nähe des Ngorongoro-Kraters und grenzt an das Serengeti-Mara-Ökosystem.
Schüsse auf Frauen und alte Menschen
Bei der Auseinandersetzung im Juni wurde laut der Regierung ein Polizist durch einen Speer tödlich verletzt. Die staatlichen Sicherheitskräfte hätten ihrerseits mehr als 30 Männer verwundet, sagte Yannik Ndoinyo, ein Ältester der Massai, im Interview mit Al Jazeera. Die Opfer hätten unter anderem Schussverletzungen und Knochenbrüche davongetragen, außerdem seien Polizei und Armee mit Tränengas gegen die Protestierenden vorgegangen. Die Sicherheitskräfte hätten sogar auf Frauen und alte Menschen geschossen, erzählte eine Geflüchtete, die anonym bleiben wollte, dem Deutschlandfunk. 25 Menschen wurden festgenommen und später wegen Verschwörung zum Mord an dem Polizisten angeklagt. Unabhängige Rechtsexpert*innen der UNO verurteilten den gewaltsamen Einsatz der tansanischen Sicherheitskräfte.
Mehr als 70.000 Massai laufen Gefahr, von ihrem angestammten Weideland vertrieben zu werden. Indigene Aktivist*innen und internationale Menschenrechtsorganisation wie Amnesty International sind davon überzeugt, dass die Massai einem Reservat für Safaritourismus und Trophäenjagd Platz machen sollen. Die tansanische Regierung argumentiert hingegen mit dem Ersuchen der Unesco, das Gebiet zu entlasten: Die Massai müssten weichen, weil der wachsende Bevölkerungsdruck den Nationalpark gefährde. Nicht nur die Zahl der Menschen habe zugenommen, sondern auch die Größe ihrer Herden und der beackerten Flächen. Außerdem vertreibe sie die Massai nicht, argumentiert die Regierung, sondern biete eine freiwillige Umsiedlung auf alternative Flächen an. Diese werden jedoch von den Massai nicht akzeptiert, weil sie außerhalb des Lands ihrer Vorfahren liegen. Die Afrikanische Menschenrechtskommission hat das Vorgehen der tansanischen Regierung bereits 2018 verurteilt.
Häuser niedergebrannt
Um das Gebiet gibt es seit Langem Streit. 1992 verpachtete die Regierung das gesamte Areal von Loliondo als Jagdgebiet an ein Unternehmen namens Otterlo Business Corporation aus den Vereinigten Arabischen Emiraten. Berichten zufolge war das Abkommen gedacht als Gegenleistung für Millionen Dollar, die an die tansanischen Streitkräfte flossen. Dieses Abkommen hat Tansania im November zwar 2017 beendet, doch blieb das Unternehmen dennoch im Land und wurde von verschiedenen führenden Politiker*innen unterstützt. Zwischen 2009 und 2022 versuchten Sicherheitskräfte viermal, die indigene Massai-Bevölkerung von ihrem Weideland in Loliondo zu vertreiben. Im Jahr 2009 wurden bei einer Reihe von Vertreibungen mehr als 200 Häuser der Massai niedergebrannt. Der damalige UN-Sonderberichterstatter für indigene Völker, James Anaya, berichtete, dass die Massai-Dorfbewohner*innen "obdachlos und ohne Nahrung, Kleidung, Land, Wasser, medizinische und andere soziale Grundversorgung" zurückgelassen wurden.
Auch im August 2017 kam es zu Vertreibungen. Häuser der Massai wurden niedergebrannt, ihr Vieh beschlagnahmt. Kurz darauf veröffentlichte die Internationale Arbeitsgruppe für indigene Angelegenheiten (IWGIA) einen kurzen Bericht über die Vertreibungen. Sie drängte darauf, die Vertreibungen zu stoppen, und empfahl, die Vertriebenen zu entschädigen. In der Folge gab es mehrere politische Entscheidungen zugunsten der Massai. So stoppte der damals neue Minister für natürliche Ressourcen, Hamisi Kigwangalla, Ende Oktober 2017 die Räumungsaktionen und ordnete an, dass alle Rinder, die während der Vertreibung beschlagnahmt worden waren, an ihre Besitzer*innen zurückgegeben werden sollten. Medien zitierten Kigwangalla mit den Worten:
Mittlerweile verfolgt die Regierung jedoch einen anderen Kurs. Statt von Vertreibung sprach sie zuletzt zunehmend von "Umsiedlung auf freiwilliger Basis". Im Gespräch mit dem südafrikanischen Sender SABC wies der Menschenrechtsanwalt Joseph Moses Oleshangay diese Darstellung entschieden zurück. Oleshangay arbeitet für das Legal Human Rights Center (LHRC) und ist selbst Massai aus dem Distrikt Ngorongoro. In der umstrittenen Region gebe es für die 93.000 dort lebenden Menschen weder ein funktionierendes Wasser- noch ein Gesundheitssystem. Nun habe die Regierung auch noch angeordnet, sechs Gesundheitszentren und neun staatliche Sekundarschulen zu zerstören – offensichtlich, um den angeblichen "Wunsch" der Massai nach Umsiedlung zu befördern. "Sie zerstören sogar staatliche Infrastruktur, um ihr Ziel zu erreichen", sagt er. "Das Ergebnis einer solchen Maßnahme hat nichts mit einer freiwilligen Entscheidung zu tun."
Warum die Massai sich so hartnäckig weigern, die Region zu verlassen, erklärt der Älteste Ndoinyo: "Die Community braucht dieses Land. Die Betroffenen haben zugunsten des Naturschutzes 1959 bereits auf die Serengeti verzichtet. Dieses Land brauchen sie jetzt zum Überleben." Amnesty fordert von den tansanischen Behörden, den Einsatz in Loliondo sofort zu beenden, die Festgenommenen unverzüglich freizulassen und alle Beschlagnahmungspläne aufzugeben.
Bettina Rühl ist freiberufliche Journalistin und arbeitet schwerpunktmäßig zu Afrika. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.