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Befehlskette gegen die Menschlichkeit
Die Beweise für schwere Verbrechen des Regimes von Baschar al-Assad sind überwältigend. Im Frühjahr steht in Koblenz zum ersten Mal ein syrischer Geheimdienstfunktionär wegen Folter von Tausenden Gefangenen vor Gericht – ein Modell für Gerechtigkeit für die Opfer des Krieges.
Von Markus Bickel
Anwar al-Bunni konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, woher er das Gesicht kannte, so sehr er auch grübelte. In den Straßen rund um das Aufnahmelager Marienfelde im Süden Berlins hatte der syrische Menschenrechtsanwalt den Mann wiedererkannt, irgendwann Ende 2014, Anfang 2015 war das. Wann genau, weiß al-Bunni nicht mehr, schließlich hatte er mit seiner Frau gerade selbst erst Berlin erreicht, nach schwieriger Flucht aus dem Bürgerkriegsland. Alles war neu, das Land, die Leute, alles im Fluss.
Doch als al-Bunni den Mann ein paar Wochen später beim Einkauf von Möbeln und Matratzen in einem Baumarkt am Hermannplatz in Berlin wiedersah, dämmerte es ihm langsam: Es war Anwar Raslan, der ihn im Mai 2006 in Damaskus vor seinem Haus verhaftet hatte. Kurz zuvor hatte al-Bunni gemeinsam mit Dutzenden syrischen und libanesischen Intellektuellen die Beirut-Damaskus-Erklärung unterzeichnet, die zu einer Normalisierung zwischen den beiden Staaten aufrief – ein Affront für die politische Führung um Präsident Baschar al-Assad.
Es war bereits der zweite Anlauf der syrischen Zivilgesellschaft, Reformen und Rechtsstaatlichkeit in der Einparteiendiktatur einzufordern. Erstmals hatte sie während des Damaszener Frühlings ihre Stimme erhoben, nach dem Tod von Baschars Vater Hafez al-Assad im Juni 2000. In der Folge waren viele Dissidenten inhaftiert worden.
Al-Bunni stand zum Zeitpunkt seiner Verhaftung im Jahr 2006 kurz davor, Direktor des Zentrums für die Entwicklung der Zivilgesellschaft zu werden, das von der Europäischen Union finanziell unterstützt wurde und die Verfolgung von Oppositionellen durch Assads Sicherheitsapparat kritisierte. Er kam in das Adra-Gefängnis nördlich von Damaskus und wurde nach einem knappen Jahr Untersuchungshaft im April 2007 zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe wegen "Verbreitung staatsgefährdender Falschinformationen" verurteilt. Der Menschenrechtsanwalt hatte unter anderem Folter und schlechte Haftbedingungen in syrischen Gefängnissen angeprangert. Außerdem erhielt er eine Strafe von umgerechnet 2.000 US-Dollar, weil das Zentrum keine offizielle Erlaubnis besessen habe.
Während al-Bunni seine Strafe im Adra-Gefängnis verbüßte, machte ebenjener Anwar Raslan, den er Jahre später in Berlin unweit des Aufnahmelagers Marienfelde wiedertreffen sollte, Karriere: Als im März 2011 die Revolution gegen das Assad-Regime begann, war der Beamte, der al-Bunni fünf Jahre zuvor verhaftet hatte, Leiter der berüchtigten Ermittlungseinheit Branch 251 im Al-Khatib-Gefängnis nahe Damaskus geworden.
Eine Generation, zwei Lebenswege
Beide Männer gehören derselben Generation an. Ihre Lebenswege hätten unterschiedlicher nicht sein könnten und doch kreuzten sie sich Jahre später in Deutschland wieder. Hier al-Bunni, der seit den 1990er Jahren Menschenrechtsaktivisten und politisch Verfolgte in Verfahren vor dem syrischen Staatssicherheitsgericht verteidigt und das Free Political Prisoners Committee gegründet hatte, der Vorstandsmitglied des Syrischen Zentrums für Rechtsstudien und Forschung war und an einer Verfassung für die Zeit nach einem Ende der Alleinherrschaft der Baath-Partei arbeitete. Dort Anwar Raslan, der zum leitenden Geheimdienstfunktionär in Assads Folterstaat aufstieg, ehe er sich 2012 absetzte und über Ägypten nach Deutschland kam.
Ganz ruhig sei er geblieben, als er bei der zweiten Begegnung merkte, wen er da vor sich habe, erzählt al-Bunni fünf Jahre nach der Zufallszusammenkunft fernab der syrischen Heimat. "Ich wusste, dass seine Zeit kommen wird, dass er der Gerechtigkeit zugeführt wird", sagt er in einem alten Backsteingebäude in Ostberlin, wo er ein kleines Büro unterhält. Zwei, drei Laptops, eine Handvoll Stühle und zwei einfache Holztische. Und am Fenster steht eine kleine Skulptur: Der Menschenrechtspreis des Deutschen Richterbundes, der ihm 2009 verliehen wurde, während er noch in Haft saß.
Die Chancen, dass Raslan der erste syrische Geheimdienstmitarbeiter weltweit sein könnte, der wegen Folter verurteilt wird, stehen nicht schlecht: Im Frühjahr beginnt vor dem Oberlandesgericht Koblenz der Prozess gegen ihn und einen Mitarbeiter, unter anderem wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nicht zuletzt deshalb, weil al-Bunni gemeinsam mit syrischen Folterüberlebenden und Anwälten des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin seit Jahren beharrlich daran arbeitet, Beweise für Verbrechen zu sammeln, die von Assads Funktionären verübt wurden. Bereits 2018 erließ die Bundesanwaltschaft unter anderem auf Grundlage ihrer Recherchen einen internationalen Haftbefehl gegen Jamil Hassan, der bis Juli 2019 Leiter des syrischen Luftwaffengeheimdienstes war. Und im Oktober 2019 reichte dann die Karlsruher Behörde Anklage gegen Anwar Raslan und seinen Mitarbeiter Eyad al-Gharib vor dem Oberlandesgericht Koblenz ein.
Die beiden waren im Februar in Berlin und Rheinland-Pfalz verhaftet worden und sitzen seitdem in Untersuchungshaft. Dem 56-jährigen Raslan und seinem 42-jährigen Untergebenen werden Verbrechen gegen die Menschlichkeit beziehungsweise Beihilfe dazu vorgeworfen. Sie hatten sich 2012 und 2013 aus Syrien abgesetzt. Raslan soll allein von April 2011 bis September 2012 für die Folter von 4.000 Menschen verantwortlich gewesen sein, mindestens 58 Gefangene seien an den Folgen der Folter gestorben. Al-Gharib wird vorgeworfen, mindestens 30 Demonstranten in die von Raslan geleitete Al-Khatib-Abteilung des Gefängnisses gebracht zu haben.
Weil die UN-Vetomächte Russland und China eine Überstellung ähnlich gelagerter Fälle an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag blockieren, lässt sich Straflosigkeit in Syrien derzeit nur mittels des sogenannten Weltrechtsprinzips bekämpfen. Dieses macht es nationalen Staatsanwaltschaften möglich, auch bei im Ausland begangenen Verstößen gegen das Völkerstrafrecht aktiv zu werden. Das ECCHR hatte bereits 2017 gemeinsam mit al-Bunni und dessen syrischem Anwaltskollegen Mazen Darwish vier Strafanzeigen gegen hohe Funktionäre der Assad-Regierung eingereicht. Auch in Österreich, Frankreich, Schweden und Norwegen wird auf Grundlage des Weltrechtsprinzips inzwischen gegen mutmaßliche syrische Kriegsverbrecher aus den Reihen des Regimes ermittelt.
Tausende Tote im Gefängnis
Im Falle Raslans sprechen die Karlsruher Ermittler von "systematischen, brutalen, physischen und psychischen Misshandlungen". Die Opfer seien mit Stöcken, Kabeln und Peitschen geschlagen und mit Elektroschocks traktiert worden. Einzelne Gefangene seien an den Handgelenken an der Decke aufgehängt worden, sodass sie gerade noch mit den Zehenspitzen auf den Boden kamen. Andere hätten tagelang nicht schlafen dürfen. Raslan wird auch eine Vergewaltigung vorgeworfen.
Mit diesen Methoden habe der Geheimdienst Geständnisse erzwingen und Informationen über die Oppositionsbewegung bekommen wollen, heißt es in der Anklage weiter. In dem Gefängnis herrschten demnach "unmenschliche und erniedrigende Haftbedingungen". Niemand sei medizinisch versorgt worden. Die Zellen seien zum Teil so überfüllt gewesen, dass sich die Gefangenen weder hinsetzen noch hinlegen konnten. "Ihm war auch bewusst, dass Häftlinge aufgrund der massiven Gewalteinwirkungen verstarben", so die Ankläger aus Karlsruhe über Raslan.
Die im Al-Khatib-Gefängnis begangenen Verbrechen sind kein Einzelfall. Amnesty International hat bereits 2017 nachgewiesen, dass im Militärgefängnis Sadnaya zwischen 5.000 und 13.000 Menschen gehängt wurden. Bei den meisten Getöteten handelte es sich um Zivilisten, denen Kritik an der Regierung vorgeworfen worden war. Weitere Beweise sind die mehr als 28.000 Fotos getöteter Gefangener, die der frühere syrische Militärfotograf mit dem Decknamen Caesar unter Lebensgefahr außer Landes brachte. Heute lebt er unter Polizeischutz anonym in Frankreich. Auch bei dem Prozess gegen Raslan und al-Gharib werden die Bilder zur Beweisführung herangezogen.
Nach bald neun Jahren Krieg in Syrien ist die Bilanz erschütternd: Mehr als eine halbe Million Tote, eine Million Verwundete, die Hälfte der Bevölkerung auf der Flucht. Die Liste der nicht nur von staatlichen Sicherheitskräften, sondern auch von islamistischen und Oppositionsmilizen begangenen Verbrechen ist endlos. So verzeichneten die Vereinten Nationen in einem Bericht von 2017 allein 16 Giftgasangriffe des Regimes nur in jenem Jahr. Tausende Menschen fielen Fassbomben zum Opfer. Hinzu kommen unzählige Fälle gezielter Bombardierungen von Krankenhäusern und Schulen.
Nicht nur Anwar al-Bunni, sein syrischer Kollege Mazen Darwish und das ECCHR treiben Verfahren gegen Assads Folterfunktionäre voran, sondern auch die Kommission für Internationale Gerechtigkeit und Rechenschaftspflicht (CIJA), die außer den Verbrechen des Regimes auch Kriegsverbrechen von Oppositionsmilizen untersucht. Der in den Niederlanden registrierten Kommission ist es gelungen, genügend Beweismaterial zusammenzustellen, um neben Assad 24 weitere Funktionäre der Baath-Partei und des syrischen Sicherheitsapparats wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzuklagen.
Außer Landes geschmuggelt
Das belastende Material, das einem Gericht vorgelegt werden könnte, das sich dazu berufen fühlt, Anklage anzunehmen, beruht auf mehr als 800.000 Dokumenten, die in den ersten Kriegsjahren aus Polizeiwachen und Geheimdienstbüros außer Landes geschmuggelt wurden. Die in den erbeuteten Papieren dokumentierten Befehlsketten liefern die Beweise dafür, wie Tausende Folteropfer in Syrien zu Tode kamen, sagt CIJA-Direktor William Wiley. In den 1990er und 2000er Jahren ermittelte der Kanadier am Jugoslawien-Tribunal der Vereinten Nationen in Den Haag unter anderem gegen den bosnischen Kriegsverbrecher Radovan Karadžić – gegen den solche Dokumente damals nicht vorlagen. Auch deshalb ist Wiley überzeugt davon, dass die Dokumente ausreichen, um Präsident Assad wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor ein internationales Gericht bringen zu können – vorausgesetzt, dass er von seinen Verbündeten aufgefordert wird, ins Exil zu gehen. Beispiele dafür seien Laurent Gbabgo, der frühere Präsident der Elfenbeinküste, und Charles Taylor, der ehemalige Staatschef Liberias, der direkt aus dem Exil ins Gefängnis wanderte.
So lange will Anwar al-Bunni jedoch nicht warten. Er setzt deshalb auf Strafprozesse in europäischen Staaten nach dem Weltrechtsprinzip – das Verfahren gegen Anwar Raslan in Koblenz sei da nur der Anfang. "Allen Tätern soll klar sein, dass sie nirgendwo auf der Welt einen sicheren Ort finden werden, wo sie ihrer gerechten Strafe entgehen können", sagt er in seinem kleinen Büro in Berlin. "Und die Opfer sollen wissen, dass die an ihren Angehörigen begangenen Verbrechen nicht ungesühnt bleiben." Außerdem werde von Koblenz ein sehr wichtiges Signal an die Weltgemeinschaft ausgehen, sagt al-Bunni. Strafrechtliche Verurteilungen schlössen aus, dass sich westliche Staaten aus sogenannten Stabilitätserwägungen heraus eines Tages wieder auf schmutzige Deals mit dem Regime in Damaskus einlassen. "Mit dieser Führung kann es keine Verhandlungen geben – es ist vorbei!"