Amnesty Journal 15. November 2024

Die Last des Exils

Menschen in einem Newsroom oder TV-Übertragunsraum sitzen an einem Schreibtisch vor einer Wand, an denen viele Bildschirme hängen; auf dem Tisch sind ein Telefon, Computer und andere TV-spezifische Geräte.

Nachrichten aus dem Exil: Der unabhängige russische Fernsehkanal Doschd sendet nach seinem Verbot aus Amsterdam.

Journalist*innen werden häufig Opfer staatlicher Repression und Gewalt. Eine Dokumentation nimmt die Situation von geflohenen russischen und türkischen Medienschaffenden in den Blick.

Von Ulrich Gutmair

Dem Thema Journalismus im Exil widmet sich die Istanbuler Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Barış Altıntaş. Sie ist Co-Direktorin der türkischen Media and Law Studies Association (MLSA), die Journalist*innen in Gefahr rechtlichen Beistand leistet. In ihrer Publikation "Im Schatten von zwei Palästen: Gespräche mit exilierten Journalisten aus der Türkei und Russland" stellt sie elf Journalist*innen vor, die wegen ihrer Arbeit ins Exil fliehen mussten. Ihre Geschichten erzählen von der zunehmenden Repression in ihren Ländern, die sich graduell unterscheidet. Die derzeitige Lage in der Türkei erscheint in dem ­Bericht einer russischen Journalistin ­ironischerweise wie "unsere wunderbare Vergangenheit".

Existenzangst und Bedrohung

Der russische Journalist Yury Davydov arbeitete für den unabhängigen Fernsehsender Doschd. Am 24. Februar 2022, dem Tag der russischen Invasion in die Ukraine, dem Angriffskrieg, der in Russland nicht Krieg genannt werden darf, veränderte sich sein Leben radikal. Doschd berichtete über den Krieg, und bereits nach wenigen Tagen wurde die Website des Senders blockiert. Anfang März wurde er dann von den Behörden geschlossen. Bereits im August 2021 hatten die Behörden Doschd zum "ausländischen Agenten" ­erklärt, im Juli dieses Jahres dann letztlich zur "unerwünschten Organisation". "Nach der Schließung des Kanals waren fast alle Mitarbeiter*innen, darunter auch ich, gezwungen, Russland zu verlassen und die Arbeit im Ausland fortzuführen, um einer Strafverfolgung wegen 'Diskreditierung der russischen Armee' zu entgehen", sagt Davydov. Bis Ende 2022 seien bereits 4.000 Menschen wegen "Diskreditierung der russischen Armee" zur Zahlung von insgesamt 150 Millionen ­Rubel verurteilt worden, zitiert Altıntaş einen Bericht des russischen Senders Current Time TV. Die Situation hatte sich für russische Medien bereits seit 2012 aufgrund restriktiver Gesetze merklich verschlechtert, mit dem Krieg gegen die Ukraine erreichte die Repression eine neue Qualität.

In der Türkei nahm Banu Acun im Jahr 2007 erstmals eine Verschlechterung der Situation wahr. Sie arbeitete damals bei CNN Türk. Um 2008 herum befasste sich ein Team des Senders mit einem ­großen Betrugsfall, der Hunderte von türkischstämmigen Menschen in Deutschland betraf, die Millionen von Euro ver­loren hatten. Bei den Recherchen kam ­heraus, dass ungefähr ein Drittel der Abgeordneten der Regierungspartei AKP in den Aufsichtsräten eben jener Holdings saßen, denen die Beteiligung an diesen Geschäften vorgeworfen wurde. Der ­Bericht sei nie gesendet worden. 
Dann kamen die Gezi-Proteste von 2013, die auch für Journalist*innen teils drastische Folgen hatten. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurde freie Berichterstattung noch schwieriger. An die hundert Journalist*innen wurden ­inhaftiert. Im Februar 2017 zog Banu Acun nach Berlin.

Zu schneller Flucht gezwungen

Die Entscheidung, ihr Land zu verlassen, mussten viele der von Altıntaş befragten Journalist*innen kurzfristig treffen. In Russland wurde ihnen das häufig indirekt nahegelegt. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine verschärfte sich die Situation rapide. Weil viele Männer aus Furcht, eingezogen zu werden, das Land verließen, waren Flugtickets teuer. Einige Journalist*innen verließen lediglich mit einem Rucksack ihr Land. Diejenigen, die nicht in die EU fliehen konnten, hatten und haben oft Probleme mit Visa. In vielen Ländern müssen sie außerdem ständig befürchten, möglicherweise nach Russland abgeschoben oder ausgeliefert zu werden. 

Hinzu kamen oft finanzielle Probleme. Russische Bank- und Kreditkarten konnten wegen der Sanktionen im Ausland nicht benutzt werden. Mit der Schließung ihrer Medien verloren viele von einem Tag auf den anderen ihr Einkommen. Ein Journalist berichtet, er verdiene sein Geld heute als Putzkraft. Anderen ist es gelungen, vom Ausland aus ihre Arbeit weiterzuführen, obschon unabhängige Medien im Exil oft Schwierigkeiten haben, ihr Publikum noch in ausreichender Zahl zu erreichen.

Exil ist nicht nur ein Weg, der von politischer Verfolgung, Resilienz und Kampf begleitet wird, sondern auch von Verletzlichkeit, innerer Unruhe und manchmal von Nostalgie.

Barış
Altıntaş
Istanbuler Journalistin und Menschenrechtsaktivistin

Aber auch die journalistische Arbeit als solche ist nicht unproblematisch. Viel Energie und Zeit muss darauf verwendet werden, Informationen aus Russland zu erhalten, weil die ureigene Arbeit, die Recherche vor Ort, nicht ausgeübt werden kann. Gegenchecks sind oft nicht möglich, Informant*innen laufen Gefahr, ins Visier der Behörden zu geraten. 

"Exil ist nicht nur ein Weg, der von politischer Verfolgung, Resilienz und Kampf begleitet wird, sondern auch von Verletzlichkeit, innerer Unruhe und manchmal von Nostalgie", schreibt Altıntaş. Russische Journalist*innen, von denen die meisten in eines der baltischen Länder geflohen sind, erfahren zudem pauschale Ablehnung: Sie, die einen hohen Preis dafür bezahlt haben, kritisch über den Krieg und die Regierung Putins zu berichten, sind nun mit antirussischen Ressentiments konfrontiert. Der ehema­lige stellvertretende Chefredakteur des unabhängigen Radiosenders Echo of Moscow, Valery Nechay, der in Litauen Zuflucht gefunden hat, sagt über die zunehmend restriktive Gesetzgebung gegenüber russischen Bürger*innen im Land: "In einer Situation zu leben, in der man wegen seines Passes, den man sich nicht ausgesucht hat, ständig unter Beobachtung ist, hinterlässt emotionale Spuren."

Giftgasanschläge und Faustschläge

Zu allen diesen Stressfaktoren kommt die Gefahr, auch im Exil nicht vor den ­Häschern des Staates sicher zu sein, dem man den Rücken gekehrt hat. Seit dem Herbst 2022 wurden auf drei russische Journalist*innen Giftanschläge verübt, unter anderem in München und Tiflis. Ein türkischer Journalist wurde im Jahr 2021 vor seiner Berliner Wohnung mit Faustschlägen traktiert und mit einem Messer angegriffen. 

Angesichts dieser Gefahren und Probleme fordert die Menschenrechtsaktivistin Altıntaş, eigene Visaprogramme und Asylverfahren für bedrohte Journalist*innen zu etablieren. Sie müssten außerdem juristische und finanzielle Unterstützung erhalten, auch für die Schaffung neuer journalistischer Kanäle. Viele brauchen Hilfe bei psychologischen Problemen und der Integration in die neue Gesellschaft. Altıntaş ruft Nichtregierungsorganisationen und Medien dazu auf, eigene Programme zu entwickeln, um exilierten Journalist*innen die Möglichkeit zu ­geben, sich auch in der für sie neuen ­Medienlandschaft professionell bewegen zu können.

Ein halbes Jahr nach Erscheinen des Reports sagt Yury Davydov, dass sich seine prekäre ökonomische Situation nicht verändert habe. Er arbeitet weiter freiberuflich für unabhängige russische Exil-Medien, seine Bewerbungen bei deutschen Medien blieben unbeantwortet. Wenn seine Aufenthaltserlaubnis verlängert werden muss, befürchtet er Probleme wegen seines geringen Einkommens. Davydov hat eine Wohnung gefunden, ist krankenversichert, hat ein deutsches Bankkonto und eine Steuernummer. Er lernt Deutsch und sagt: "Ich fühle mich frei hier."

Die Dokumentation "Im Schatten von zwei Palästen" ist auf Englisch bei www.mlsaturkey.com verfügbar.

Ulrich Gutmair ist freier Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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