Amnesty Journal Peru 02. Oktober 2023

Noch mehr Ausbeutung abgewendet

Eine indigene Frau mittleren Alters in tradtionellem Gewand, sie trägt eine Halskette und Federschmuck auf dem Kopf und steht im Wald vor einem Baum, im Hintergrund eine Hütte.

"Wir tragen noch immer die Nachnamen der Bosse, die uns damals versklavt haben": Zoila Ochoa Garay, Sprecherin der indigenen Huitoto

Unternehmen und Wirtschaftsverbände machen in Peru Front gegen indigene Schutzgebiete. Vor allem indigene Gruppen in Isolation sind gefährdet. Doch die Zivilgesellschaft hält erfolgreich dagegen.

Von Andrzej Rybak

Zoila Ochoa Garay wirkt bedrückt. Die zierliche Frau ist gerade aus der peruanischen Amazonas-Metropole Iquitos zurückgekehrt, wo sich Abgesandte mehrerer indigener Gruppen aus der Region Loreto trafen. "Die Lage ist überall gleich ernst", sagt die Sprecherin der indigenen Huitoto-Bevölkerung. "Überall drängen Holzfäller, Ölarbeiter und Siedler in unsere Gebiete ein, roden den Urwald und verpesten die Umwelt. Und der Staat schaut weg."Die 56-Jährige lebt in Centro Arenal, einem Dorf in der Nähe von Iquitos, das im Jahr 1975 Besitztitel für 2.000 Hektar Land bekam. Die etwa 30 Familien des Dorfes bauen dort Maniok und Bananen an. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich eine Ölraffinerie des Staatskonzerns Petroperu, der seit mehr als 50 Jahren im Amazonasgebiet Öl fördert. Die Pipelines, die das Rohöl zur Raffinerie transportieren, sind häufig undicht, das Öl verschmutzt den Boden und die Quellen, aus denen das Dorf sein Trinkwasser gewinnt.

Das Land gehört uns, doch wenn die Regierung hier eine neue Straße bauen will, werden wir nicht einmal konsultiert.

Aber nicht nur das Öl hinterlässt Spuren. "Es vergeht kaum eine Woche, ohne dass entweder Holzfäller oder Jäger in ­unser Territorium eindringen", berichtet Ochoa. "Das Land gehört uns, doch wenn die Regierung hier eine neue Straße bauen will, werden wir nicht einmal konsultiert." Ein Vorgehen, das gegen die ILO-Konvention 169 verstößt, die vorschreibt, dass indigene Völker über große Bau- und Fördervorhaben, die ihre Lebensbedingungen beeinflussen, vorab informiert und um Zustimmung gebeten werden müssen.

Im peruanischen Amazonasgebiet leben heute noch etwa 2.000 Huitoto. Sie bilden den Rest einer viel größeren Bevölkerungsgruppe, die während des Kautschukbooms Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts, als die industrialisierten Länder nicht genug Rohstoff für die Gummiproduktion bekommen konnten, von reichen Kaufleuten und Großhändlern zur Arbeit gezwungen und drastisch dezimiert wurde. "Wir tragen noch immer die Nachnamen der Bosse, die uns damals versklavt haben", sagt Ochoa.

Überfallen und zusammengeschlagen

Aus Angst vor Verfolgung und Diskriminierung durfte sie als Kind ihren indigenen Dialekt nicht sprechen. Erst viel später brachte ein Onkel ihr die Sprache bei. Als Erwachsene wurde sie in den Vorstand der Indigenen Vereinigung für die Entwicklung im peruanischen Regenwald (AIDESEP) gewählt und arbeitete drei Jahre für den Dachverband in Lima. Vor einem Jahr kehrte sie nach Centro Arenal zurück und gründete eine Schule, in der sie die Sprache und Bräuche der Huitoto lehrt.

Weil sie für die Rechte Indigener kämpft, wurde Ochoa oft angefeindet und bedroht. Ihr Sohn Arthur, der sich ebenfalls in der indigenen Selbstverwaltung engagiert, wurde 2022 überfallen und zusammengeschlagen. "Die Politiker in Iquitos und Lima betrachten uns nicht als menschliche Wesen", sagt Ochoa. "Wir sind vielmehr ein störendes Element, das ihnen bei der Ausbeutung und Zerstörung der Amazonasregion im Weg steht."

Ein Beispiel dafür ist ein Gesetzentwurf, der bis vor Kurzem im Parlament verhandelt wurde. Er war im November 2022 von Jorge Morante Figari ins Parlament eingebracht worden. Der Abgeordnete der rechtskonservativen, wirtschaftsnahen Partei Fuerza Popular aus der Region Loreto schlug darin vor, die Einrichtung indigener Reservate künftig in die Zuständigkeit von Regionalregierungen zu überführen; bisher war die Zentralregierung zuständig. Der Entwurf sah außerdem vor, die Anerkennung sogenannter isolierter Völker (Pueblos indígenas en situación de aislamiento voluntario y contacto inicial, PIACI) und die Ausweisung neuer Reservate zu stoppen. Auch über den Fortbestand bereits anerkannter Reservate, die isoliert lebende Indigene schützen, sollte neu entschieden werden.

Lobbyisten machen mobil

Doch nach einer beispiellosen Mobilisierung indigener Organisationen sowie von Menschenrechts- und Umweltgruppen konnte der Gesetzentwurf in zwei Parlamentsausschüssen blockiert werden. Unter dem Druck der UNO und anderer internationaler Organisationen sprach sich der Ausschuss der Anden- und Amazonasvölker dafür aus, das Gesetz abzulehnen, der einflussreiche Dezentralisierungsauschuss erklärte sich kurzerhand für nicht zuständig. "Morantes Vorstoß ist damit vom Tisch, es fehlt nur noch eine offizielle Absage", sagt María Amelia Trigoso, Leiterin der Abteilung für Völker in Isolation im Kulturministerium. "Es ist aber nur ein Etappensieg, jederzeit kann ein neuer Angriff kommen."

Perus indigene Organisationen sind sich einig: Die isolierten Völker sind haarscharf an einer Katastrophe vorbeigeschrammt. Wäre Morantes Gesetzentwurf zur Abstimmung ins Parlamentsplenum gekommen, hätten die rechtskonservativen Abgeordneten, und damit die Mehrheit, dafür gestimmt.

Mit dem Politiker Morante verbündet sind Unternehmer aus Iquitos, die sich im Lobbyistenforum CDL zusammengeschlossen haben. Ihr Präsident ist der Bauunternehmer Christian Zeus Pinasco, der aus einer Dynastie stammt, die während der Kautschukära ein Vermögen machte. 2022 startete die CDL eine Medienkampagne, in der kurzerhand bestritten wurde, dass es isolierte indigene Gruppen gebe. Deshalb sei der Schutz solcher Gruppen aufzuheben und das entsprechende Gesetz abzuschaffen.

Indigene Organisationen wie AIDESEP warnten, dass isolierten indigenen Gruppen, die während des Kautschukbooms in entlegene Gebiete des Regenwalds flohen und bis heute jeden Kontakt zur Außenwelt vermeiden, ein Genozid drohe. Ihr Immunsystem dürfte vielen Erregern der modernen Gesellschaft nicht gewachsen sein, der Ausbruch einer Grippe könnte tödliche Folgen haben.

Morantes Gesetz hätte das Überleben indigener Völker in Isolation ernsthaft bedroht. Es gibt in Peru rund 25 Gruppen mit etwa 7.500 Personen, die isoliert von der Außenwelt leben. Die Schutzgebiete sichern ihr Überleben und schützen den Regenwald.

Beatriz
Huertas
Ethnologin und Expertin für isolierte Völker

"Morantes Gesetz hätte das Überleben indigener Völker in Isolation ernsthaft bedroht", sagt Beatriz Huertas, Ethnologin und Expertin für isolierte Völker. "Es gibt in Peru rund 25 Gruppen mit etwa 7.500 Personen, die isoliert von der Außenwelt leben. Die Schutzgebiete sichern ihr Überleben und schützen den Regenwald." Was passiert, wenn der Schutz der PIACI ausgehebelt wird, weiß man genau. In den 1980er Jahren erhielt der Konzern Shell Förderlizenzen im Gebiet der Nahua. ­Wenig später waren über die Hälfte der Nahua an Masern, Grippe und Tuberku­lose gestorben.

Damit sich eine solche Tragödie nicht wiederholt, wurde das Kulturministerium mit der Einrichtung indigener Schutzgebiete für die isolierten Gruppen beauftragt. Politiker*innen und Expert*innen aus den Bereichen Ethnologie, Biologie und Umweltschutz, aber auch Jurist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen arbeiten mit, wenn Studien erstellt und Territorien geprüft werden. Am Ende entscheidet eine 15-köpfige Kommission, zu der auch Vertreter*innen der Regionalregierungen gehören. Der Anerkennungsprozess wird immer wieder von Wirtschaftslobbyist*innen behindert und verzögert.

Derzeit gibt es sieben indigene Reservate – Madre de Dios, Mashco-Piro, Isconahua, Murunahua, Kakataibo Norte y Sur, Yavarí-Tapiche und Kugapakori-Nahua-Nanti-Andere – mit einer Fläche von rund vier Millionen Hektar. Fünf Reservate mit rund drei Millionen Hektar Fläche befinden sich in der Antragsphase: Napo-Tigre und Nebenflüsse, Yavarí Mirim, Pupuña, Atacuari und Kapanawa. Von diesen liegen vier in der Provinz ­Loreto.

Öl und Holz

Recherchen des peruanischen Journalisten Cesar Hildebrandt belegen, dass Morante seinen Gesetzentwurf einreichte, nachdem das Kulturministerium isolierte Gruppen im Gebiet Napo-Tigre anerkannt und letzte Schritte zur Einrichtung des Reservats eingeleitet hatte. In dem Gebiet an der Grenze zu Ecuador wird seit Jahren nach Öl gebohrt. Der Konzern Perenco hat eine Lizenz für die Felder 39 und 67, die auf dem Territorium des geplanten Reservats liegen. Perenco versuchte die Anerkennung der PIACI-Gruppen mit einer Klage zu blockieren.

Der Regenwald an der ecuadorianischen Grenze ist außerdem reich an Harthölzern, für die sich viele Holzfirmen in Iquitos interessieren. "Morantes Gesetz sollte das Gebiet für die Ausbeutung öffnen", sagt Beltran Sandi Tuituy, Sprecher der indigenen Kichwa und Präsident der Organisation der Indigenen Völker des Ostens (ORPIO). "Die Unternehmer und Politiker in Iquitos sprechen immer von Fortschritt und Entwicklung, stattdessen zerstören sie den Wald und verpesten die Umwelt."

Die Kichwa, die an den Ufern des Rio Napo und des Rio Tigre leben, klagen seit Jahren über die Verschmutzung der Umwelt durch Öl. Zwischen 2011 und 2021 wurde der Ölkonzern Pluspetrol auf Geheiß der Umweltbehörden zur Zahlung von 47 Millionen Dollar an Strafen verurteilt, danach zog sich die Firma kurzerhand aus Peru zurück. "Sie verschmutzen die Wasserläufe, die Fische sterben, und wir werden krank", klagt Tuituy über andere Ölfirmen. "Wir müssen unser Land und das Land der PIACI-Gruppen verteidigen, wenn wir überleben wollen."

Die Ethnologin Huertas arbeitet seit 20 Jahren im Gebiet Napo-Tigre. "Das Gesetz verbietet uns direkten Kontakt zu PIACI, solange sie ihre Isolation nicht selbst aufgeben wollen", sagt die Wissenschaftlerin. Es gebe jede Menge indirekter Belege für deren Existenz: Satellitenfotos von Hütten und Weilern, gefundene Gebrauchsgegenstände, Berichte von Jägern und Holzfällern. "Wir sammeln diese Beweise und werten sie aus", sagt Huertas. "Wirtschaftliche Interessen dürfen nicht über die Rechte und das Leben indigener Völker gestellt werden."

Eine Frau in einem schulterlosen Kleid mit gelocktem Haar, das bis auf ihre Schultern fällt, sitzt in einem Raum mit anderen Menschen, sie lächelt.

"Wirtschaftliche Interessen dürfen nicht über die Rechte und das Leben indigener Völker gestellt werden": Beatriz Huertas, Ethnologin

Unterstützung durch Bischöfe

Tausende Aktivist*innen weltweit unterstützten in den vergangenen Monaten die Maßnahmen zum Schutz der PIACI. Doch entscheidend war der Widerstand aus Peru, auch von der katholischen Kirche. Die Bischöfe des peruanischen Amazonasgebiets verurteilten das Gesetzesvorhaben: "Die Novelle wäre ein schwerwiegender Rückschritt in Bezug auf den Schutz und die Rechte indigener Völker", sagte Bischof Miguel Ángel Cadenas aus Iquitos. "Die Existenz der Reservate bewahrt nicht nur Leben – sie schützt die biologische Vielfalt, die für die ganze Welt von großer Bedeutung ist."

Doch die Wirtschaftslobby wird nicht klein beigeben. Sie beeinflusst das Parlament, die Unternehmen finanzieren Abgeordnete durch Spenden. Bewusst wird in der Bevölkerung Hass gegen Indigene geschürt. Die Lobbyist*innen behaupten, dass neue Reservate den Ausbau von Straßen, die Verlegung von Glasfaserkabeln und den Bau von Stromleitungen unmöglich machten. "Viele Bewohner von Iquitos scheinen diesen Lügen zu glauben", sagt María Amelia Trigoso aus dem Kulturministerium. "Die PIACI werden für die Rückständigkeit von Loreto verantwortlich gemacht."

Die Regionalregierung in Iquitos steht aufseiten der Lobbyisten. Sie hat in den vergangenen Jahren 47 Holzkonzessionen in bestehenden oder beantragten Reservaten vergeben – entgegen geltender Gesetze. Ungeachtet dessen erwägt die deutsche Förderbank KfW ein Projekt zur "Ausweitung und Verbesserung der nachhaltigen Forstwirtschaft" zu finanzieren, das unter der Federführung der Regionalregierung steht.

Postkoloniale Prägung

Das gesamte Wirtschaftsmodell im Amazonasgebiet basiert seit der Kolonialzeit auf einer rücksichtslosen Ausbeutung des Urwalds und der Bodenschätze. Millionen Quadratkilometer des Regenwalds in Brasilien, Venezuela, Kolumbien, Peru, Ecuador und Bolivien mussten Soja-Monokulturen, dem Bergbau oder der Viehzucht weichen. So entstand eine Ökonomie, die wenige Menschen reich machte und gleichzeitig die soziale Ungleichheit verschärfte. Auch das Ökosystem des Amazonas steht auf der Kippe, warnen Wissenschaftler*innen. "Wir brauchen andere Wirtschaftsmodelle, um voranzukommen", sagt Valeska Ruiz Pena, Anwältin bei der Umwelt- und Menschenrechtsorganisation SPDA. "Das Territorium von Loreto ist nicht das Eigentum einer Gruppe von reichen Unternehmern aus Iquitos, es gehört auch den indigenen Völkern, die die Biodiversität schützen."

Rund 40 Prozent der Bevölkerung sind Indigene. Dennoch sind sie weder im Parlament noch in der Regierung vertreten. Selbst auf lokaler Ebene üben sie nur selten politische Ämter aus. "Das muss sich ändern, wir brauchen eine indigene Bewegung, die an Wahlen teilnimmt und in den wichtigsten Gremien unsere Interessen vertritt", fordert AIDESEP-Vorstand Julio Cusurichi. Dafür müssten die Indigenen zuerst interne Konflikte beilegen. Ein wichtiges Hindernis aber bleibt: "Der Aufbau einer nationalen politischen Infrastruktur und die Teilnahme an Wahlen erfordert viel Geld", sagt Cusurichi. "In Peru gibt es keine indigenen Unternehmer, wir haben keinen wirtschaftlichen Rückhalt."

Andrzej Rybak ist freier Reporter. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

Einen aktuellen Amnesty-Bericht über staatliche Repression gegen Proteste Indigener in Peru ­finden Sie hier.

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