Amnesty Journal Kanada 17. März 2023

Geschlagen, gedemütigt, missbraucht

Ein Holzkreuz, an dem ein Kleid hängt, steht auf einer Wiese, auf der sich die langen Grashalme im Wind biegen; der HImmel über dem Kreuz ist bewölkt.

Bis 1996 wurden in Kanada Tausende indigene Kinder von ihren Eltern getrennt und in Internatsschulen mit Zwang an weiße Normen angepasst. Ein Besuch in dem kleinen Ort Shubenacadie zeigt die schweren Folgen der Residential Schools.

Von Natalie Wenger

Es ist einfach, die drei Tafeln zu übersehen. Ich wäre fast daran vorbeigegangen, obwohl ich nur ihretwegen quer durch die kanadische Provinz Nova Scotia in das kleine Dorf Shubenacadie gefahren bin. Einzig ein Plakat mit der Aufschrift "Every Child Matters" – "Jedes Kind zählt" – vor dem Haus am Anfang der Schotterstraße deutet darauf hin, dass die Adresse stimmt.

Drei Tafeln mit sechs Sätzen in fünf Sprachen genügen aus Sicht der kanadischen Regierung offenbar, um das Elend zu beschreiben, das mehr als tausend indigene Kinder in der ehemaligen Shubenacadie Indian Residential School erlebten. Vom dreistöckigen Backsteingebäude der Internatsschule, in der indigenen Kindern zwischen 1930 und 1967 die diskriminierenden Wertvorstellungen der Regierung und der katholischen Kirche aufgezwungen wurden, ist nichts mehr übrig. Stattdessen steht auf der Anhöhe nun das Firmengebäude eines lokalen Plastikherstellers. Wie würde der Ort wohl aussehen, wenn er für die Geschichte der nicht-indigenen Kanadier*innen relevant wäre?

"Das indigene Erbe der Kinder zerstören"

Die Schule in Shubenacadie ist nur eine von 139 kanadischen Institutionen, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1996 in Betrieb waren. Mehr als 150.000 Kinder der First Nations, wie die größte Gruppe der Indigenen in Kanada genannt wird, und auch der Inuit wurden in dieser Zeit von ihren Eltern getrennt und in Internate gesteckt, die mehrheitlich von der Regierung und der katholischen Kirche betrieben wurden. Die Kinder sollten dort "zivilisiert" und assimiliert werden. Sie wurden gezwungen, Englisch zu sprechen, christliche Rituale zu vollziehen, mussten schwere körperliche Arbeit verrichten, hungerten, wurden vielfach körperlich schwer misshandelt und sexuell missbraucht.

"Ziel dieser Institutionen war es, das indigene Erbe der Kinder zu zerstören", sagt Guy Freedman, Berater für indigene Belange. Die Kinder seien behandelt worden wie "Wilde, die erzogen werden müssen". Die Praxis der Residential Schools wurde 2015 vom Obersten Gerichtshof Kanadas als kultureller Völkermord gegen die Indigenen eingestuft. Derzeit wird in etlichen Internaten nach den sterblichen Überresten der Kinder gesucht, die die Behandlung nicht überlebten.

Vertuschung durch Regierung

Bis in die 1990er Jahre wurde die Geschichte der Residential Schools von der kanadischen Regierung vertuscht. Wenn Überlebende öffentlich über ihre Erlebnisse berichteten, wurden sie belächelt, ihre Aussagen als Hirngespinste abgetan. Das gesellschaftliche Misstrauen und die eigene Scham habe viele Überlebende davon abgehalten, ihre Geschichte zu erzählen, stellt Guy Freedman fest. Ein Wendepunkt war der öffentliche Auftritt von Phil Fontaine im Jahr 1990. Damals sprach der ehemalige Chief der indigenen Gemeinschaft der Sagkeeng in Manitoba und spätere Vorsitzende der Versammlung der First Nations zum ers­ten Mal öffentlich über den körperlichen und sexuellen Missbrauch, den er in der Fort Alexander Indian Residential School in Winnipeg erlebt hatte. Bis 2007 reichten daraufhin mehr als 15.000 Personen Klage wegen sexuellen und körperlichen Missbrauchs in den Residential Schools ein.

Die Regierung konnte nicht länger wegsehen: 2008 entschuldigte sich der damalige Premierminister Stephen Harper für die Politik der Assimilation und rief eine Wahrheits- und Versöhnungskommission ins Leben, um die Geschichte der Residential Schools aufzuarbeiten.

Rose Marie Prospers, William Henry und Alan Knowchwood gehören zu den wenigen Überlebenden der Schule in Shubenacadie, die der Kommission von ihren Erfahrungen erzählten. Viele andere nahmen ihre Geschichte mit ins Grab.

Prospers erste Aufgabe in der Schule war es, die Treppe zu putzen. "Ich musste die Stufen fegen und darauf achten, dass kein Sandkorn mehr zwischen den kleinen Läufern war. Sie kontrollierten alles, was wir taten. Es musste perfekt sein. Wenn nicht, mussten wir es nochmal ­machen."

Vom Staat benachteiligt

Henry wurde von einer Mitarbeiterin dabei erwischt, wie er mit seinem Bruder in der Sprache Mi’kmaq sprach. "Sie nahm einen Stock, drückte mich gegen die Badewanne und packte mich am Hals. Ich weiß nicht, wie viele Schläge sie mir verpasste. Ich weinte. Dann nahm sie ein Stück Seife und wusch mir damit den Mund aus. Ich kann die Seifenlauge heute noch schmecken."

Knockwood wurde mit einem Riemen geschlagen, weil er in seiner eigenen Sprache gesprochen hatte: "Ich wurde von einem Klosterbruder erwischt und festgezurrt, dann kamen die Schläge. Mein Cousin Ivan musste mich beim Abendessen füttern, weil meine Hände wegen der Schläge mit den Riemen so ­geschwollen waren."

Mehrere Überlebende berichten von sexueller Gewalt. Ein Mädchen starb aller Wahrscheinlichkeit 24 Stunden nachdem sie missbraucht worden war. Insgesamt kamen mindestens 16 Kinder während ­ihrer Schulzeit in Shubenacadie zu Tode. Viele der Überlebenden leiden bis heute unter den damaligen Erlebnissen.

An die ehemalige Schule von Shubenacadie grenzt das Reservat Sipekne’katik an. Die Straße dorthin wird mit jedem Kilometer holpriger. Die Tankstelle kurz vor dem Eingang zum Reservat ist heruntergekommen, die Benzinpreise sind fast doppelt so hoch wie im Rest der Provinz. Die Häuser sind kleiner, baufälliger. Wie in vielen Reservaten ist der Eingang zu ­Sipekne’katik von Cannabis-Shops gesäumt. Viele Indigene verdienen seit ­Jahrzehnten hiermit ihr Geld. Seit Ka­nada Cannabis Ende 2018 landesweit ­legalisierte, sind die Geschäfte schlecht geworden.

Kirche erkennt Mißbrauch nicht an

"Viele Bewohner*innen leben in Armut, die Arbeitslosigkeit ist hoch", sagt Chief Mike Sack. Er hält wenig von der ­Regierung in Ottawa. "Eine Entschuldigung ist zwar eine nette Geste, doch ohne Veränderungen ist sie nichts wert", sagt er.

Guy Freedman versteht die Frustration vieler indigener Gemeinschaften. "Indigene werden in Kanada systematisch benachteiligt, viele leben unter prekären Bedingungen", sagt er. Die Statistiken bestätigen dies. Mehr als 60 Gemeinschaften der First Nations in ganz Kanada haben keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und nicht genügend Nahrungsmittel. Indigene verdienen weniger, sind häufiger arbeitslos, schlechter ausgebildet und beziehen häufiger Sozialhilfe als Nicht-Indigene. Viele kämpfen mit Depressionen, greifen zu Alkohol und Drogen, werden straffällig.

Der Schlussbericht der Wahrheits- und Versöhnungskommission brachte po­sitive Veränderungen mit sich. So beschloss das kanadische Parlament im Juni 2021 – nach jahrzehntelangem Einsatz indigener Gemeinschaften − die ­Umsetzung der UNO-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker. Diese ­erkennt das Recht auf Selbstbestimmung und den Erhalt der indigenen Kultur an und verbietet Diskriminierung und Marginalisierung.

Die katholische Kirche weigerte sich jedoch, den Missbrauch in den Residential Schools anzuerkennen. Auch wurde bekannt, dass sie zahlreiche Akten vernichtet hatte, um die düstere Vergangenheit zu vertuschen. Obwohl Gerüchten zufolge Tausende Kinder in diesen Schulen starben, fehlten die Beweise − bis im Mai 2021 auf dem Gelände der Kamloops Indian Residential School in British Columbia ein Massengrab mit den sterblichen Überresten von 215 indigenen Kindern gefunden wurde. "Mir brach es das Herz, doch erstaunt war ich nicht", sagt Guy Freedman. Bis heute wurden landesweit mehr als 2.200 solcher Grabstätten ausfindig gemacht.

Ein generationenübergreifendes Trauma lässt sich nicht von heute auf morgen beheben.

Guy
Freedman
Berater für indigene Belange

An der Shubenacadie Residential School wird noch immer nach Gräbern ­gesucht. Laut den Aussagen von Überlebenden wurden auch an dieser Schule Kinder beerdigt. Bisher verlief die Suche nach ihren Überresten jedoch erfolglos. Viele Menschen reisten nach Shubenacadie, um der vermissten Kinder zu gedenken und ihre Solidarität mit den Überlebenden zu bekunden. Sie legten Hunderte Kinderschuhe vor der Kirche des Dorfes ab.

Doch die katholische Kirche schwieg weiter. Aufforderungen der Regierung, sich öffentlich zu entschuldigen, wurden vom Vatikan ignoriert. Viele Indigene gingen auf die Straße. Als nichts passierte, griffen einige zu drastischeren Maßnahmen: Im Juli 2021 wurden 68 Kirchen beschmiert, zerstört oder in Brand gesetzt.

Am 1. April 2022 entschuldigte sich Papst Franziskus dann offiziell für die Rolle der katholischen Kirche als Betreiberin der Schulen: "Ich bedauere den Missbrauch, den Sie erlitten haben, und den Mangel an Respekt für Ihre Identität, Ihre Kultur und sogar Ihre geistigen Werte." Ende Juli 2022 reiste der Papst nach Kanada, um diese Entschuldigung zu erneuern. Dies ist für viele Indigene von großer Bedeutung. Doch den meisten reichen Worte nicht als Wiedergutmachung.

Ein Großteil des kulturellen Erbes der Indigenen ist durch die Residential Schools zerstört. Sprachen und Bräuche sind ausgestorben, weil sich niemand mehr an sie erinnert. Daran kann eine Entschuldigung nichts ändern. "Ein generationenübergreifendes Trauma lässt sich nicht von heute auf morgen beheben", sagt Guy Freedman. Dafür braucht es mehr als drei Tafeln auf einem Hügel.

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