Amnesty Journal Indonesien 01. Februar 2019

Das Museum des kollektiven Erinnerns

Eine ältere Frau vor bunten Holztüren

Unermüdlich im Einsatz: Ita Fatia Nadia

Die indonesische Frauenrechtlerin Ita Fatia Nadia kämpft für die weiblichen Opfer des Suharto-Regimes.

Von Christina Schott, Yogyakarta

Das "Museum des kollektiven Erinnerns" riecht noch nach Holzlack und Zement. Eine staubige Treppe führt in den kleinen Raum im Obergeschoss des frisch renovierten Bauernhauses im Dorf Brosot nahe der indonesischen Stadt Yogyakarta. Die Zwischenwände sind aus Bambus, die Fenster im Vintage-Stil abgebeizt, dazwischen Pfeiler aus unverputztem Beton. In einem Zimmer im Erdgeschoss stapeln sich Bücherkisten bis unter die Decke.

Die kollektiven Erinnerungen, die die indonesische Frauenrechtlerin Ita Fatia Nadia hier sammeln möchte, stammen aus der Zeit der brutalen Kommunistenverfolgung in den 1960er und 1970er Jahren. Nach einem angeblichen Putsch der Kommunistischen Partei Indonesiens (PKI), damals die drittgrößte der Welt, hatte Generalleutnant Suharto am 1. Oktober 1965 die Macht übernommen. Mindestens eine halbe Million Menschen verloren in den folgenden Jahren ihr Leben, weil sie zurecht oder zu Unrecht mit der PKI in Verbindung gebracht wurden. Geschätzte anderthalb Millionen verschwanden ohne Verhandlung in Gefängnissen und Arbeitslagern. Es handelt sich um ­einen der schlimmsten Massenmorde des 20. Jahrhunderts – der bis heute nicht aufgearbeitet wurde.

"Ich war erst sieben Jahre alt, als Suharto die Macht übernahm. Aber dieser Moment hat mein Leben geprägt wie kein ­anderer", erzählt Nadia. Die 60-jährige Aktivistin ist eine der Gründerinnen der Nationalen Kommission für Frauenrechte in Jakarta, sie hat sich für die Opfer von staatlicher Gewalt während der Suharto-Ära eingesetzt und kämpft bis heute für deren Rehabilitation.

Schon die Eltern der aus Yogyakarta stammenden Javanerin waren links-intellektuelle Aktivisten: Der Vater hatte eine hohe Position in der Sozialistischen Partei Indonesiens (PSI) inne, die der PKI sehr nahe stand. Die Mutter war Gewerkschaftsvorsitzende für die Arbeiterinnen in der Telekommunikation. Obwohl beide Eltern aus wohlhabenden Häusern stammten, lebte die siebenköpfige Familie in einem sehr einfachen Viertel mitten in der zentraljavanischen Sultansstadt.

Für die Kinder kam es völlig überraschend, als der Vater ­eines Abends überstürzt fliehen musste. Wenig später musste auch die Mutter untertauchen, die Kinder gab sie in die Obhut von Verwandten und Freunden. Die viertgeborene Nadia kam zu Nachbarn – sie blieb als einzige in der Stadt. Erst drei Jahre später traf sie ihre Eltern und Geschwister wieder. Die Nachbarn behandelten sie gut, dennoch war es eine harte Zeit voller Ängste: Viele Bekannte verschwanden auf Nimmerwiedersehen, in den Flüssen schwammen unzählige Leichen, und niemand wollte die Fragen des kleinen Mädchens beantworten.

"Auch später hörte ich nicht auf zu fragen", erzählt die studierte Historikerin. "Diese Zeit hat mich bis heute sensibilisiert gegen jegliche Ungerechtigkeit." Die Eltern lieferten keine befriedigenden Erklärungen, Nadia litt jahrelang unter Depressionen. Im Studium hoffte sie, endlich Antworten auf ihre Fragen zu finden – doch das Suharto-Regime schuf seine eigene Geschichtsschreibung. Immerhin fand Nadia auf dem Campus Gleichgesinnte: Unter anderem half sie dem katholischen ­Priester und Architekten Yusuf Bilyarta Mangunwijaya.

Mangunwijaya berichtete seiner Assistentin von den Zuständen auf der Molukken-Insel Buru, dem größten Arbeitslager für politische Gefangene in der Suharto-Zeit, wo er selbst ein Jahr lang interniert gewesen war. Als das Lager 1979 aufgelöst wurde, stand Nadia mit einer Handvoll Freiwilliger am Hafen von ­Semarang, um die nach Java zurückgeführten Häftlinge in ­Empfang zu nehmen. Ein Jahr lang kümmerte sich die Studentin um die traumatisierten Ex-Gefangenen, die in einem Nonnenkloster untergebracht waren. Ihre Eltern unterstützten sie dabei, obwohl sie das Studium schleifen ließ: "Wenn Du diese Aufgabe gut bewältigst, lernst Du fürs Leben", gab ihr der Vater mit auf den Weg.

Kurz nachdem Nadia ihr Geschichtsstudium mit Bestnote abgeschlossen hatte, heiratete sie 1988 einen Physik-Dozenten, mit dem sie nach Australien zog. Doch ihr Mann war gewalttätig, und sie musste mehrmals in ein Frauenhaus flüchten. Sofort nach der Rückkehr nach Indonesien 1991, inzwischen Mutter von zwei kleinen Töchtern, beantragte sie die Scheidung – und begann ihren Kampf gegen jegliche Gewalt gegen Frauen. Als ihr die Leitung der Frauenrechtsorganisation Kalyanamitra in Jakarta angeboten wurde, sagte sie zu.

"Danach habe ich mich verändert", erzählt die energische Aktivistin. "Ich konzentrierte mich zunehmend auf staatliche Gewalt gegen Frauen. Wir gründeten ein Magazin und veröffentlichten investigative Fallstudien. Infolgedessen wurden wir immer wieder vom Militär bedroht." 1994 wurde die Zeitschrift verboten. Im selben Jahr nahm Nadia in Neu-Delhi an einem Workshop für mündlich überlieferte Geschichte von Frauen teil. Dies legte den Grundstein für die Recherchen zu ihrem künftigen Hauptthema: die weiblichen Opfer des Suharto-Regimes.

Kurz bevor Suharto im Mai 1998 zurücktrat, wurden in Ja­karta geschätzt Hunderte chinesisch-stämmige Frauen brutal vergewaltigt, 87 Fälle sind dokumentiert. Die Täter gingen systematisch vor und stammten vermutlich aus dem Umfeld des ­Militärs. "Tagelang klingelte das Telefon", erinnert sich Nadia. "Ich wurde zu vielen schlimmen Fällen gerufen, selbst Kinder haben sie nicht verschont – eine Elfjährige starb in meinem Schoß. Ich weiß nicht mehr, wie ich das ausgehalten habe."

Als sie Drohungen erhielt, dass ihre Töchter entführt werden könnten, schickte sie die Mädchen zu ihren Eltern. Sie selbst wurde eine Woche lang wegen "Verbreitung falscher Tatsachen" in einem Militärgefängnis festgehalten. Dass sie freikam, schreibt sie den immer noch guten Beziehungen ihres Vaters zu den Behörden zu.
Ihren Bericht über die Massenvergewaltigungen im Mai 1998 stellte die mittlerweile international bekannte Aktivistin bei den Vereinten Nationen vor – doch Indonesien ließ keine Untersuchung zu. In der Folge allerdings konnten Nadia und ihre Mitstreiterinnen Suhartos Nachfolger Habibie überzeugen, eine Nationale Kommission für Frauenrechte einzurichten: Bis heute ist sie die wichtigste Institution zur Untersuchung und Prävention von Gewalt gegen Frauen in Indonesien.

Zur Jahrtausendwende war die unermüdliche Kämpferin ausgelaugt und verfiel abermals in Depressionen. Ihre Familie drängte sie, ein Stipendium in den Niederlanden anzunehmen, um "rauszukommen". Hier begegnete sie dem 23 Jahre älteren Schriftsteller Hersri Setiawan. Als ehemaliges Mitglied der linken Kulturvereinigung Lekra war er 13 Jahre in politischer Haft gewesen, davon neun auf der Insel Buru. 2004 heirateten sie.

Vor zwei Jahren ist das Paar in beider Heimatstadt Yogya­karta zurückgekehrt. Das "Museum des kollektiven Erinnerns" entsteht in Setiawans Elternhaus. Besonders am Herzen liegen ihr 25 detaillierte Protokolle von Frauen, die nach dem Putsch 1965 unter falscher Anklage als Kollaborateurinnen verhaftet wurden. Einige dieser eindringlichen Schicksale hat Nadia 2015 in ihrem Buch "Stimmen der Opfer der Tragödie 65" veröffentlicht, ehe sie sich schrittweise aus der aktiven NGO-Arbeit ­zurückzog. "Ich habe lange aktiv für die Rechte von Frauen ­gekämpft. Jetzt möchte ich mich darauf konzentrieren, alle ­verbliebenen Erinnerungen der Opfer von 1965 zu sammeln. Es werden immer weniger, die die Ereignisse damals noch selbst miterlebt haben", sagt Nadia.

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