Amnesty Journal 08. Januar 2021

Entschiedener auftreten!

Auf einem blauen Hintergrund ist ein gelber EU-Stern abgebildet, von dem ein Zacken abgebrochen ist.

Sinkender Stern: Rechtsstaatkrise in der EU

Ungarn und Polen verletzen immer wieder rechtsstaatliche Grundsätze und Menschenrechte. Die EU sollte sich das nicht länger bieten lassen.

Ein Kommentar von Janine Uhlmannsiek

Die Europäische Union steckt in einer Rechtsstaatskrise. In einigen Mitgliedsstaaten werden menschenrechtliche und rechtsstaatliche Grundsätze immer ­offener angegriffen. Besonders dramatisch ist die ­Situation in Ungarn und Polen. Schikanen gegen die Zivilgesellschaft, wachsender politischer Einfluss auf die Gerichte und staatlich geförderte Hetze gegen LGBTI – die Regierungen in ­Budapest und Warschau missachten die Grundwerte der EU seit Jahren.

Doch gelingt es Brüssel nicht, dies zu stoppen. Die Bundes­regierung hatte sich für ihre Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 vorgenommen, das Thema Rechtsstaatlichkeit voranzutreiben. Und tatsächlich: Bei vielen Gelegenheiten wurde in den vergangenen Monaten darüber debattiert, wie es um die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards in den eigenen Reihen bestellt ist. Ende September veröffentlichte die Europäische Kommission zum ersten Mal einen Bericht über die Lage der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten.

Zudem startete im November ein neues Überprüfungsverfahren, bei dem über die rechtsstaatliche Situation in fünf Mitgliedsstaaten beraten wurde. Nach und nach sollen alle Länder in den Blick genommen werden. Über den neuen Mechanismus ist wenig bekannt, denn die Diskussionen liefen hinter verschlossenen Türen ab. Dennoch ist es eine positive Entwicklung, dass sich nun alle Mitgliedsstaaten regelmäßig einem Rechtsstaatscheck unterziehen müssen.
Dies darf jedoch nicht dazu führen, dass bestehende Mechanismen in Vergessenheit geraten. Schon seit 2017 bzw. 2018 läuft gegen Polen und Ungarn ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags. Bei diesem Verfahren beraten und entscheiden die Mitgliedsstaaten darüber, ob Ungarn und Polen Gefahr laufen, die Grundwerte der EU ernsthaft zu verletzen.

Wenn die Missachtung von EU-Grundwerten ohne Konsequenzen bleibt, wird sich die Rechtsstaatskrise vertiefen.

Janine
Uhlmannsiek
Amnesty-Fachreferentin für Europa und Zentralasien

Doch die Mitgliedsstaaten verschleppen das Verfahren: Die letzte offizielle Anhörung der ungarischen Behörden war vor einem Jahr, im Fall Polens liegt sie bereits zwei Jahre zurück. Das weckt Zweifel daran, wie ernst es den Mitgliedsstaaten mit dem Verfahren ist. Angesichts der immer offeneren Missachtung rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Standards in Polen und Ungarn muss die EU entschieden auftreten und die Artikel-7-Verfahren zum Schutz der Grundwerte wirksam vorantreiben.

Wenn die Missachtung von EU-Grundwerten ohne Konsequenzen bleibt, wird sich die Rechtsstaatskrise vertiefen. Schon jetzt ist zu beobachten, dass auch in Bulgarien, Rumänien oder Slowenien rechtsstaatliche Prinzipien unter Druck geraten. Eine EU, die auf der Achtung von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit beruht, muss solchen Angriffen Einhalt gebieten.

Dieser Ansicht sind auch viele Menschen in ganz Europa: Mehr als 64.000 Menschen  haben sich einer Kampagne von Amnesty International angeschlossen und die Mitgliedsstaaten aufgefordert, entschlossen für den Schutz der Rechtsstaatlichkeit einzutreten. Es ist höchste Zeit, dass die EU dieser Forderung nachkommt.

Janine Uhlmannsiek ist Fachreferentin für Europa und Zentralasien bei Amnesty International in Deutschland.

Weitere Artikel