Amnesty Journal Sudan 31. Oktober 2025

Najlaa Eltom: "Dichtung ist ein Archiv"

Das Foto zeigt viele Zelte auf ausgetrocknetem Boden, neben denen Frauen und Kinder stehen und sitzen.

Vor der Gewalt im Sudan geflohene Frauen und Kinder in einem Flüchtlingslager im Tschad (21. April 2024)

Die sudanesische Schriftstellerin und Aktivistin Najlaa Eltom beschäftigt sich in ihren Werken mit Krieg und Gewalt in ihrem Heimatland. Welchen Beitrag hat Europa dazu geleistet, und warum lohnt es sich auch in tiefsten Krisen, Gedichte zu schreiben?

Interview: Hannah El-Hitami

Sie sind Dichterin und politische Aktivistin. Wie hängen diese Bereiche Ihres Lebens zusammen?

Die meiste Poesie ist im Kern eine politische Verhandlung mit der Realität. Sie ist ein Ort, an dem Menschen versuchen, soziale Konflikte zu lösen. Manchmal ist sie auch einfach ein Zufluchtsort, an dem die Sehnsucht nach einem Happy End gestillt wird, das in der Realität niemals stattfinden kann.

Welche Rolle können Poesie und Kultur in Zeiten von Krieg und Konflikt spielen?

Da bin ich hin- und hergerissen. Manchmal betrachte ich die Zerstörung, die Grausamkeit, das Leid, den Hunger, das Blutvergießen, die Gewalt – und habe das Gefühl, dass das Schreiben nichts nützt, nicht gebraucht wird, nichts bedeutet. Poesie rettet kein Kind vor Hunger, rettet keine Mutter, heilt keine Wunde. In solchen Momenten fühle ich mich hilflos. Und angesichts der jüngsten Gewalt im Sudan habe ich lange Phasen schweigend verbracht. Aber dann fühle ich wieder eine Verantwortung weiterzuschreiben. Denn wenn ich versuche, den Kontext und die Ursachen der Gewalt im Sudan zu verstehen, befrage ich die Populärkultur. Ich lese Gedichte von Menschen aus dem frühen 20. Jahrhundert. Ich höre die Lieder von Sklavinnen aus dem 19. Jahrhundert, um ihren Bezug zur Gesellschaft zu verstehen. Ich ziehe die Kultur zurate, um das Politische zu verstehen. Ich habe zunehmend das Gefühl, dass Dichtung ein Archiv ist, ein Zeugnis des historischen Augenblicks. Sie mag kein hungriges Kind retten, aber sie rettet die Erinnerung daran. Eine Nation ohne Erinnerung ist leicht zu brechen und zu unterwerfen.

Was bedeutet das für die aktuelle ­Situation im Sudan?

Ich bin davon überzeugt, dass die nahe Zukunft sehr düster und schwierig für die Menschen im Sudan wird. Um solch eine extreme Gewalt zu überleben, braucht es Kultur, die das gesellschaftliche Gefüge und Gedächtnis zusammenhält – so lange, bis die Menschen wieder zur Besinnung kommen und verstehen, dass Frieden der einzige Weg ist. Der Respekt für die Souveränität, die Diversität und den Wert des menschlichen Lebens muss die Grundlage jeder Gesellschaft sein. Aus dieser Perspektive kann ich schreiben. Manchmal ist die Lage zu dunkel, zu verwirrend und schmerzhaft. Aber mit viel Übung geht es. Und manche Völker haben mehr Übung als andere. Der Konflikt im Sudan ist schon alt, aber bisher fand er nicht im Zentrum des Landes statt, sondern in Darfur oder in den Nuba-Bergen. Wir haben den Konflikt zwar mitbekommen, aber nicht so direkt wie diesen Krieg, der alles zerstört. Der Hunger, das Töten und die sexualisierte Gewalt sind beispiellos. Dieser Krieg zielt darauf ab, die Seele des sudanesischen Volkes zu brechen.

Ich ziehe die Kultur zurate, um das Politische zu verstehen.

2019 stürzten friedliche Massenproteste das Regime des Diktators Omar al-Bashir. Was ist von diesem revolutionären Moment übrig geblieben?

Die Revolution wird weitergehen. Die sudanesische Bevölkerung ist sehr jung und wird nicht einfach so aufgeben. Der Weg wird jedoch lang und der Preis hoch sein. Ich sehe den Krieg als eine Phase der Revolution. Durch die Geschichte des Sudans zieht sich aus meiner Sicht ein Kampf zwischen den Kräften, die die Strukturen der kolonialen Gewalt aufrechterhalten wollen, und denen, die versuchen sie einzudämmen und stattdessen für Menschlichkeit plädieren. Aus diesem Kampf gingen die antikoloniale Bewegung, die Unabhängigkeit, drei Militärputsche, kurze demokratische Phasen und Revolutionen hervor. Was gerade passiert, ist eine Eskalation des Konflikts, die unvermeidlich war. Durch die Revolution wurde sie nur beschleunigt.

Der Krieg im Sudan findet international kaum Beachtung. Wie erklären Sie sich das?

Es wird nicht darüber berichtet, weil die Wahrheit nicht ans Licht kommen soll. Wenn wir über den Krieg im Sudan sprechen, müssen wir auch über den Khartum-Prozess sprechen, den Deutschland federführend für die EU verhandelt hat. Im Zuge des 2014 unterzeichneten Abkommens wurden die Rapid Support Forces (RSF) engagiert, um die Grenzen zwischen Sudan, Tschad und Libyen zu bewachen und Menschen daran zu hindern, nach Europa einzuwandern. Europa wollte den Zustrom von Migrant*innen stoppen und hat dafür eine genozidale Miliz angeheuert …

… die sich heute einen blutigen Machtkampf mit dem sudanesischen Militär liefert.

Es ist dieselbe Gruppe, die für den Völkermord in Darfur verantwortlich war. Damals waren sie bekannt als Janjawid, heute nennen sie sich RSF. Die EU gab ihnen Geld, Technologie, Training, Fahrzeuge und hat ihre Gewalt damit legitimiert. Später kämpften sie auch im Auftrag von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten im Jemen. So erhielten sie und erhalten bis heute Geld, militärische Expertise und diplomatischen Zugang. 2017 verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das ihren offiziellen Status als paramilitärische Armee unter dem Kommando des Präsidenten verfestigte.

Wie ordnen Sie die Ereignisse im Sudan in den Kontext anderer globaler Entwicklungen ein?

Die Lage im Sudan wird dadurch erschwert, dass die Kräfte, die als Vorbilder für Freiheit und Demokratie galten, diese Werte gerade aufgeben. Der US-Präsident spricht davon, Kanada und Grönland zu annektieren. Selbst wenn er das nicht in die Realität umsetzt, gibt allein die Tat­sache, dass er darüber spricht, anderen Mächtigen grünes Licht. Imperialistische Sprache ist wieder akzeptabel geworden. Gleichzeitig hat das, was in Gaza passiert, die Idee von internationalem Recht zerstört. Das Massaker in Gaza ist angerichtet. Wenn die internationale Gemeinschaft das ohne Konsequenzen akzeptiert, steht noch viel mehr auf dem Spiel als das Blut der Palästinenser*innen. Dann signalisiert dies anderen Täter*innen, dass sie tun können, was sie wollen. Die Gewalt in Gaza oder im Sudan mag aus europäischer Sicht in weiter Ferne stattfinden. Aber es ist eine Maschine der Gewalt am Werk. Wenn sie dort ihr Ziel erreicht hat, läuft die Maschine weiter. Sie muss gefüttert werden. Sie wird nach neuer Nahrung suchen und zurück in den Westen kommen. Ich denke, wir haben das Ende der globalen Ordnung erreicht, die nach dem Zweiten Weltkrieg etabliert wurde. Und wir betreten eine neue Ära mit neuen Diskursen, neuer Politik. Immer wenn sich die globale Ordnung verändert, gibt es Blut, Gewalt, Leid und Krieg. Ich sehe gerade keinen Hoffnungsschimmer.

Gar keinen?

Wenn wir über Konflikte im Sudan oder anderswo im Globalen Süden sprechen, machen wir uns keinerlei Illusionen, dass Regierungen etwas verbessern werden. Das ist eine geradezu lächerliche Vorstellung. Was bleibt sind die Menschen, die Graswurzelbewegungen. Wir müssen ihnen klarmachen, was passiert, auch wenn das unangenehm ist. Denn es gibt keine andere Kraft, die die Ungerechtigkeit und Gewalt beenden kann. Wir brauchen Allianzen, um aus dieser dunklen Realität ­herauszukommen.

Najlaa Eltom, *1975, ist eine sudanesische Schriftstellerin, Dichterin, Übersetzerin und politische Aktivistin. In ihren Werken beschäftigt sie sich mit kolonialem Erbe, staatlicher Gewalt und der Widerstandskraft der sudanesischen Bevölkerung. Seit 2012 lebt sie im Exil in Schweden.

Hannah El-Hitami ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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