Amnesty Journal 19. Oktober 2022

Menschenrechte! Menschenpflichten?

Das Bild zeigt eine Porträt von Markus N. Beeko

Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland

Wie wollen wir zusammen leben? Über die Beziehung von Rechten und Pflichten – Kolumne von Markus N. Beeko, Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

Von Markus N. Beeko

"Rules for living together" lautet die Überschrift auf dem Zettel an unserem Familienkühlschrank. Es folgen zwölf Regeln, darunter "if you open it, close it", "if you move it, put it back", "if you mess up, clean up" oder "if it belongs to someone else and you want it, get permission". Es sind Regeln, die selbst- und allgemeinverständlich sind, die unabhängig von Zeit, Ort und Kulturkreis als "basics" oder "common sense" gelten dürften. "Basics", um das Miteinander für jede und jeden Einzelnen erträglich und für die Gemeinschaft zuträglich zu halten.Solche "Hausordnungen" regeln das gemeinsam angestrebte Verhalten der Hausgemeinschaft über geltende Gesetze und Rechtsordnungen hinaus. Und sie helfen der Hausgemeinschaft als konstituierendes, mitunter sogar als "identitätsstiftendes" Element. Eine Vereinbarung über "the way we do things here". Eine Vereinbarung, zu der man sich bekennt und die sich alle zu eigen machen.

Wie viele Organisationen und Unternehmen entwickelt Amnesty in Deutschland derzeit für sich eine solche Hausordnung, einen "Code of Conduct". Er benennt über gesetzliche und betriebliche Regeln hinaus unseren Anspruch an eine offene, respektvolle, diskriminierungssensible und diskriminierungsarme Organisation.

Und er nimmt uns alle in unserer Menschenrechtsorganisation als Menschen in die Pflicht. Menschenrechte. Menschenpflichten?

Aleida Assmann, Friedenspreisträgerin des Deutschen Buchhandels, widmet sich in ihrem Buch "Menschenrechte und Menschenpflichten" der Frage nach diesen Pflichten. Wie ist der Zusammenhang und die Wechselwirkung mit den in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verbrieften Menschenrechten? Sie räumt mit dem Missverständnis auf, dass die Einhaltung von Menschenpflichten durch einen Menschen zur Voraussetzung für dessen Menschenrechte gemacht werden kann.

Für diese These wird oft Mahatma Gandhi bemüht, der auf eine Frage zu den Menschenrechten geantwortet haben soll: "Ich habe von meiner des Schreibens und Lesens unkundigen, aber weisen Mutter gelernt, dass alle Rechte, die wir verdienen und bewahren, aus gut erfüllten Pflichten stammen. So erwerben wir uns das Recht zu leben erst wirklich, wenn wir unsere Pflicht als Bürger der Welt erfüllen. Aus diesem fundamentalen Satz könnte man leicht die Pflichten von Mann und Frau ableiten und jedes Menschenrecht mit einer vorgängigen Menschenpflicht verbinden."

Assmann betont, diese Worte Gandhis führten in die Irre; sie macht dagegen auf die wahre Beziehung zwischen Rechten und Pflichten aufmerksam: Menschenrechte bestehen aus garantierten (und gesetzlich verankerten) Forderungen an den Staat. Menschenpflichten definieren in Ergänzung – nicht in Relativierung – Pflichten gegenüber den Mitmenschen zur Achtung und zum Schutz der Menschenrechte aller.

Dies wird verständlicher in der 1997 verfassten "inoffiziellen" Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten. Sie umfasst 19 Artikel, die Pflichten beschreiben, welche allen Menschen auferlegt sein sollen. Damit kommt die Erklärung einer uns alle ansprechenden "Hausordnung" für persönliches Verhalten gleich.

Wenn das deutsche Grundgesetz ein Bekenntnis formuliert ("Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt") und in den folgenden Grundrechten den Staat in die Pflicht nimmt, so gibt die Erklärung der Menschenpflichten jede und jedem von uns persönlich direkte Handlungsanweisungen zum Schutz und zur Achtung der Menschenrechte mit auf den Weg.

Schauen Sie doch mal rein.

Markus N. Beeko ist Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

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