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Gefährliches Nicht-weiß-Denken
© Illustration: Anna Gusella
In deutschen Praxen und Krankenhäusern werden Menschen, die von Rassismus betroffen sind, schlechter behandelt als weiße Patient*innen. Das hat schwerwiegende gesundheitliche Folgen.
Von Dinah Riese mit Zeichnungen von Anna Gusella
Eine Frau liegt mit Wehen im Kreißsaal. Sie schreit, hat Schmerzen, bittet weinend um Hilfe. Endlich bekommt sie eine PDA, eine lokale Betäubung über einen Katheter in den unteren Rücken. Doch es wird nicht besser – sie weint und schreit. "Die sind halt so empfindlich", sagt eine betreuende Hebamme bloß. "Die steigern sich da rein, die wollen Mitleid." Wen sie mit "die" meint, ist klar: Die Frau ist eine Romnja. Eine halbe Stunde später und auf das Drängen einer Praktikantin hin wird die Frau umgelagert. Dabei zeigt sich: Der Katheter war verrutscht, das Medikament war die ganze Zeit ins Kissen gelaufen. Das Schmerzmittel hatte der Gebärenden gar nicht helfen können.
"Diese Frau hat sich sinnlos weiter gequält. Mit einer weißen* Frau wäre so niemals umgegangen worden", sagt Miriam Al Msalma. Sie war es, die auf Hilfe für die Patientin gedrungen hatte. Al Msalma, inzwischen Hebammenstudentin, beschreibt keinen Einzelfall. Solche Fälle haben sogar einen – pseudomedizinischen – Namen: "Morbus Mediterraneus", "Morbus Bosporus" oder "Mamma-Mia-Syndrom", wobei "Morbus" der lateinische Begriff für "Krankheit" ist. Medizinisches Personal unterstellt als "südländisch" wahrgenommenen Menschen, zu empfindlich zu sein oder Schmerzen zu übertreiben. Betroffen sind vor allem People of Color*. Die Folgen: eine schlechtere medizinische Behandlung bis hin zu Fehldiagnosen.
Patientinnen besonders gefährdet
Den pseudomedizinischen Begriff kennt auch Cihan Sinanoğlu, Leiter der Geschäftsstelle des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa). Dort erfassen Wissenschaftler*innen seit 2020 systematisch verschiedene Dimensionen von Diskriminierung und Rassismus. Im Herbst 2023 veröffentlichte das Team einen Bericht zum Thema Gesundheit unter dem Titel "Rassismus und seine Symptome".
"Wir haben in unserer Untersuchung festgestellt, dass die unter dem Begriff 'Morbus Mediterraneus' beschriebene Diskriminierung noch weitaus mehr Menschen betrifft, als bisher angenommen", sagt Sinanoğlu. Die Norm ist bis heute der nicht rassistisch markierte, also in der Regel weiße Mann. "In Abgrenzung zu diesem wird allen anderen Gruppierungen das Stereotyp der Schmerzüberempfindlichkeit zugeschrieben", heißt es im NaDiRa-Bericht. Treffender sei deswegen der Begriff "Morbus Aliorum": die "Krankheit der Anderen". "Insbesondere Frauen laufen über alle Gruppen hinweg Gefahr, in der Folge eine inadäquate medizinische Versorgung zu erhalten", heißt es in dem Bericht.
Konkret heißt das: Rassistisch markierte Männer beschreiben deutlich häufiger als weiße Männer, dass ihre Beschwerden nicht ernst genommen werden. Frauen wiederum erleben diese Form der Diskriminierung häufiger als Männer – umso häufiger, wenn sie noch dazu von Rassismus betroffen sind. So berichteten 19 Prozent der befragten weißen Männer, dass ihre Beschwerden schon mal abgetan worden seien. Unter weißen Frauen waren es 29 Prozent und unter den befragten muslimischen Frauen sogar 39 Prozent.
Wie Rassismus sich im Gesundheitswesen niederschlägt, ist dabei eng mit den jeweiligen Stereotypen verschränkt. Zwei Beispiele aus dem NaDiRa-Bericht illustrieren das deutlich: Eine Frau erkundigt sich bei ihrer Ärztin nach Tests auf Geschlechtskrankheiten. Die Ärztin schaut sie bestürzt an: So etwas sei "eher unwahrscheinlich" bei einer Frau aus "ihrer Kultur". Eine andere Frau hingegen geht zur Ärztin, lediglich zur Vorsorge. Die Ärztin fragt sie, ob sie denn schon einen HIV-Test habe machen lassen. Die Frau im ersten Beispiel ist Muslima. Die zweite Frau ist Schwarz*.
"Muslimischen Frauen wird oft unterstellt, in ihrer Sexualität unterdrückt zu werden, weswegen etwa ein Test auf Geschlechtskrankheiten für sie irrelevant wäre", erklärt Sinanoğlu. "Schwarze Frauen hingegen werden oft hypersexualisiert, und entsprechend werden ihnen diese Tests geradezu aufgedrängt."
Die Wissenschaftler*innen führten zudem ein Experiment durch: Sie fragten unter unterschiedlichen Namen in Arztpraxen um Termine an. Das Ergebnis: Wenn die anfragende Person einen in Deutschland gebräuchlichen Namen nennt, ist die Wahrscheinlichkeit einer positiven Antwort deutlich höher als bei einem in Nigeria oder der Türkei verbreiteten Namen.
Rassismus kann massive Auswirkungen auf die Gesundheit Betroffener haben – wegen Fehldiagnosen, aber auch, weil sie aus Sorge vor eben solchen Erfahrungen Arztbesuche verzögern oder gar komplett vermeiden. Das gaben 13 bis 14 Prozent der Schwarzen, asiatischen und muslimischen Frauen an. Bei Männern aus diesen Gruppen waren es 7 bis 8 Prozent. Zum Vergleich: Nur 3,5 Prozent der nicht rassistisch markierten Männer berichteten, medizinische Behandlungen verzögert oder vermieden zu haben.
Gefährliche Vermeidungsstrategie
Fehlendes Vertrauen in die Arzt-Patienten-Beziehung sei ein enormes Problem, sagt Sinanoğlu. Viele kleine Erfahrungen kulminierten und führten am Ende zu einer solchen Vermeidungsstrategie. "Das kann gerade in der Gesundheitsversorgung verheerende Folgen haben – denn hier zählt mitunter jeder Tag oder gar jede Stunde", sagt Sinanoğlu.
Hinzu kommt, dass Betroffene sich nur schwer wehren können. "Bisher ist noch nicht einmal geklärt, ob ärztliche Behandlungsverträge unter den Diskriminierungsschutz fallen", kritisiert Ferda Ataman, Unabhängige Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung. Sie fordert, das im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz künftig klarzustellen. Diskriminierung im Gesundheitswesen sei ein "verbreitetes Problem", das in Deutschland "lange übersehen" worden sei. "Doch wenn Patient*innen das Vertrauen in die ärztliche Versorgung verlieren, hat das gravierende Folgen. Sie dürfen nicht im Stich gelassen werden."
Ähnlich sieht es Katharina Masoud, Antirassismus-Fachreferentin von Amnesty International Deutschland. "Im Gesundheitsbereich sind Betroffene in einer besonders sensiblen Situation, weil sie in ihrer Gesundheit eingeschränkt und auf Unterstützung angewiesen sind." Zwischenmenschlicher Rassismus sei dabei nicht zu trennen von strukturellem Rassismus: "Woher kommen diese Stereotype denn? Was wird an den Unis gelehrt? Wozu gibt es Forschung?"
Der weiße Körper als Norm
Dass der weiße Körper die Norm ist, zementiert sich tatsächlich schon in der medizinischen Ausbildung. Diese Erkenntnis des Rassismusmonitors können Miriam Al Msalma und Ariane Gölz bestätigen. Gemeinsam mit rund 30 Personen aus der ganzen Bundesrepublik haben sich die beiden zum Ziel gesetzt, Rassismus in der Geburtshilfe etwas entgegenzusetzen. 2022 gründete sich dazu das Kollektiv "Critical Midwifery Germany – kritische Hebammenarbeit".
Als junge Hebamme habe sie im Kreißsaal vielfach als Fachwissen getarnten Rassismus beigebracht bekommen, sagt Ariane Gölz. Erst Jahre später habe sie diesen hinterfragt. "Bei Schwarzen Gebärenden zum Beispiel hieß es, die Geburt dauere länger als bei weißen, weil 'afrikanische Kinder andere Köpfe' haben", erzählt sie. Ähnliches sei ihr gesagt worden, wenn das CTG – also die Aufzeichnung der Wehen und der Herztöne des Fötus – bei einer Schwarzen Frau auffällig war. Das sei normal, "afrikanische" CTGs seien eben anders. "Bei einer weißen Frau hätte man da schon längst eingegriffen", sagt Gölz. Derzeit befasst Gölz sich für ihre Bachelorarbeit mit Rassismus in der Geburtshilfe. Vier ihrer fünf Interviewpartnerinnen hätten ihr von genau diesem Stereotyp berichtet.
"Es geht damit los, dass wir quasi am weißen Patienten lernen", sagt Al Msalma. "Die Arme, an denen wir Blut abnehmen üben, sind weiß. Da sieht man die Venen sehr gut. Wie findet man die an einem Patienten mit dunkler Haut?" Sie nennt weitere Beispiele: Das Erkennen von Hautkrankheiten etwa oder das Messen der Sauerstoffsättigung im Blut: "Die Clips, die man dafür an den Finger klemmt, funktionieren bei Haut mit viel Melanin oft nicht richtig und liefern fehlerhafte Werte", sagt Al Msalma. "Das allein ist schon problematisch – noch schlimmer aber ist: Uns wird dieser Umstand nicht beigebracht, sodass wir die falschen Werte mitunter gar nicht anzweifeln."
Aufklärung Studierender nötig
Gölz und Al Msalma wollen mit dem Kollektiv der kritischen Hebammen ihren Teil beitragen, um für Rassismus zumindest in der Geburtshilfe zu sensibilisieren. "Zuallererst brauchten wir einen Raum, um uns auszutauschen", sagt Gölz. "Um Worte für das zu finden, was wir erleben, und uns gegenseitig zu fragen: Ist das, was ich da gesehen, gehört oder sogar getan habe, eigentlich rassistisch?" Dabei wollen die rund 30 Kollektivmitglieder es aber nicht belassen. Sie wollen Workshops und Vorträge erarbeiten und damit Studierende informieren. "Wir arbeiten derzeit an einer ersten Präsentation und auch daran, unser Positionspapier zu formulieren", sagt Gölz.
Beide kritisieren die mangelhafte Datenlage zu Rassismus in der Geburtshilfe wie auch im gesamten Gesundheitssystem für Deutschland. In anderen Ländern sei die Forschung dazu viel weiter. In den USA etwa ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Sterblichkeit Schwarzer Frauen während einer Geburt etwa dreimal höher ist als bei weißen Frauen. "Ist das bei uns ähnlich? Wir können nur vermuten, dass Women of Color ein höheres Risiko haben – Zahlen haben wir keine", sagt Al Msalma.
Auch Sinanoğlu vom Rassismusmonitor fordert deutlich mehr Forschung: "Wir leuchten mit einer Taschenlampe in einen riesigen dunklen Raum", sagt er. "Überall, wo wir hinleuchten, finden wir Symptome von Rassismus. Aber wir können den Raum mit dieser Taschenlampe nicht ansatzweise ausleuchten."
Dinah Riese ist Journalistin. Sie arbeitet zu den Themen Migration, Flucht und Einwanderungsgesellschaft. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit sind reproduktive Rechte. Für ihre Arbeit zum Abtreibungsparagrafen 219a Strafgesetzbuch wurde sie mehrfach ausgezeichnet.
*Das Amnesty Journal bemüht sich um eine diskriminierungssensible Sprache, daher verwenden wir die Begriffe "weiße" Menschen, um ihre privilegierte Gesellschaftsposition zu kennzeichnen, und die Selbstbezeichnungen "Schwarze" Menschen sowie "People of Color".