Amnesty Journal Deutschland 22. September 2017

Die Angst tanzen

Tänzer und Choreograf Nir de Volff

Der Tänzer und Choreograf Nir de Volff (40) ist in Israel aufgewachsen und lebt seit 14 Jahren in Berlin. Er hat unter anderem mit Pina Bausch, Constanza Macras, Falk Richter und She She Pop zusammengearbeitet und 2007 seine eigene, international tourende Kompanie Total Brutal gegründet.

Der israelische Choreograf Nir de Volff arbeitet mit geflüchteten syrischen Tänzern in Berlin – eine Auseinandersetzung mit Traumata und Feindbildern.

Von Astrid Kaminski

"Ihre Körper waren wie aus Stein. Die Art, wie sie sich bewegten, wie sie atmeten, alles war überspannt." So beschreibt der Choreograf Nir de Volff seine erste Begegnung mit syrischen Geflüchteten. Sie waren in seine Bewegungsworkshops gekommen, in denen er versuchte, Körper und Alltag wieder miteinander zu versöhnen – dabei reichte das Spektrum von gemeinsamen Markteinkäufen und Joggen bis hin zu Tanzübungen

Seit 14 Jahren wohnt de Volff in Berlin. Lange genug, dachte er, um vor Ort Verantwortung zu übernehmen. 2015 schloss er sich einer Gruppe aus Künstlern, Ärzten, Anwälten und anderen Engagierten an, die Geflüchteten ihre Kompetenzen und Gesellschaft anbot. "Was kann ich beitragen?", fragte sich der Choreograf. "Ich kenne mich aus mit körperlichen Entspannungsübungen, ich habe eine Bewegungsmethode entwickelt, die über das Atmen körperliche Blockaden lösen kann. Ich bat also bei der Berliner Tanzbühne Dock 11 um ein Studio – es wurde mir kostenfrei zur Verfügung gestellt – und fing an." Über Mitglieder seiner Willkommensklasse lernte Nir de Volff drei professionelle Tänzer aus Damaskus kennen und entwickelte mit ihnen das Stück "Come as you are". Es zeigt den Prozess ihrer Annäherung an die Berliner Tanzlandschaft sowie ihre Auseinandersetzung mit Stress- und Gewalterlebnissen.

Medhat Aldaabal und Moufak Aldoabl flüchteten über die Balkanroute, Amr Karkout flog mit gefälschten Papieren von Beirut nach Brüssel. Aldoabl, der jüngste, ein durchlässig, zart wirkender Mann, hatte am meisten Glück im Unglück. Er muss­te am eigenen Leib keine Gewalt erfahren. Aldaabal wirkt am ­introvertiertesten. Er macht sich Sorgen um seinen Vater, der in Syrien von Assad-Anhängern mit dem Tod bedroht wird. Zudem hat er körperliche Strapazen hinter sich und erlebte während der Flucht Polizeigewalt. Monate ohne regelmäßiges Essen haben zu Problemen mit Muskeln, Gelenken und Zähnen geführt. Auch die kalten Nächte, in denen ihm jede Minute wie ein ganzes Jahr vorkam, sitzen ihm noch in den Knochen. Der erst in diesem Jahr in Deutschland angekommene Karkout fällt durch seine optimistische Energie auf. Als könne er durch seinen Enthusiasmus vergessen, dass ihm mehrmals Milizen auf den Fersen waren, die ihm drei Rippen und die Nase brachen.

Alle wollen sie in die Zukunft gerichtet denken, ihren Beruf wieder aufnehmen. Aber wenn die Lage in Syrien für ihre dort verbliebenen Angehörigen zu gefährlich wird, alte Erfahrungen hochkommen oder ein neues Leben aufgrund der kulturellen Differenzen unerreichbar scheint, verhärten sich ihre Körper. "Wenn es ganz schlimm ist, kann ich mich gar nicht bewegen", sagt Medhat Aldaabal. Im besten Fall aber, erklärt Amr Karkout, könne eine abstrakte tänzerische Figur sinnbildlich für eine Blockade stehen und deren Auflösung kreative Energie freisetzen. Die Gruppe legt daher auch keine Bewegungsabfolge fest, sondern nutzt Improvisationen, um sich immer wieder selbst überraschen zu können.

Dass de Volff als Israeli mit geflüchteten syrischen Männern zusammenarbeitet, ist eine außergewöhnliche Kombination. Obwohl Tanz eine der internationalsten Künste überhaupt ist und es in Berlin weit mehr internationale als deutsche Tänzer gibt, ist es auch in Europa selten, dass Israelis und Araber zusammenarbeiten. Selbst der Kompanie von Emanuel Gat, der als Israeli in Südfrankreich arbeitet, gehört kein Mitglied aus einem arabischen Land an. Dabei leben dort sehr viele arabischstämmige Tänzer. Das gleiche Bild gilt für die ebenfalls renommierte Hofesh Shechter Company in London.

Entsprechend aufgeregt war Nir de Volff, als er die ersten ­Syrer traf. Zunächst wollte er seine Nationalität verschweigen, um das Projekt nicht zu gefährden – schließlich befinden sich Syrien und Israel offiziell immer noch im Krieg. Diese Vorsicht war jedoch unnötig. Erstens, weil seine Herkunft den Syrern, obwohl es ihre erste bewusste Begegnung mit einem Israeli war, ohnehin sofort klar war, und zweitens, weil sie durchweg positiv und neugierig reagierten. Allgemeines Aufatmen: "Mit der Zeit war es, als würde die Berliner Mauer fallen", sagt de Volff.

Letztlich führte seine eigene Biografie Nir de Volff zur Arbeit mit Traumata. Als junger Mann musste er seinen Militärdienst in Israel ableisten und in absoluter Dunkelheit in der Nähe eines arabischen Dorfes patrouillieren. Es war sein erster Monat in der Armee und seine erste Wache. Zweieinhalb Stunden musste er allein an einem Zaun entlang wandern. "Ich war 18 Jahre alt, ein vielversprechender Tänzer, nicht bereit, irgendwen zu töten, aber plötzlich hatte ich diese Waffe, diese Gewalt in der Hand. Überall Geräusche. Und jedes Geräusch stammte möglicherweise von einem Araber, der mich attackieren könnte", erinnert sich Nir de Volff. Dieser Moment, auf den er durch nichts vorbereitet war, hat ihn, wie er erst viel später feststellte, traumatisiert. "Alle haben wir Angst vor dem Tod, aber bei mir ist es mehr, es ist eine ständige Panik."

So beschreibt Nir de Volff die Erfahrung hinter einer Szene, die er in seinem Stück "Dancing to the End" von 2014 tanzte. Es war das erste Mal, dass der für seine große tänzerische Energie und seine mitunter skurrile Dramatik bekannte Choreograf sich in seinem Werk mit einer konkreten Traumaerfahrung auseinandersetzte. Inzwischen ist der Umgang mit Traumata Teil seiner Arbeit geworden.

Die von Nir de Volff seit acht Jahren entwickelte Technik, die er weltweit auch Nichttänzern vermittelt, heißt Use Abuse, und es sollte sich herausstellen, dass sie für körperliche Traumafolgen besonders geeignet ist. Traumata werden im Nervensystem gespeichert. Werden sie aktiviert, äußern sie sich körperlich häufig durch Muskel- und Atemblockaden. Das war auch bei den Syrern in de Volffs Gruppe der Fall. Mit diesen Erfahrungen sind sie nicht allein, oft aber allein gelassen. Die Bundespsychotherapeutenkammer geht davon aus, dass etwa 50 Prozent der syrischen Geflüchteten traumatisiert sind. In Behandlung sind nur wenige.

Nun ist Nir de Volff kein Therapeut. Aber die Trennlinie zwischen einer präzisen Technik, die den Tänzern einen gezielten Zugang zu ihrem Körper verschafft, und therapeutischen Methoden ist dünn. Zeitgenössischer Tanz hat sich längst vom Selbstverschleiß des Balletts alter Schule gelöst und ein großes Repertoire an Techniken aufgebaut, die Körperprozesse optimieren. De Volff konzentriert sich auf ein gezieltes Trainieren der Atemmuskulatur. Durch das bewusste Verbinden von Gedanke, Gefühl und Atem wird die Grundlage für ein Lösen geschaffen. Verspannungen werden lokalisiert und freigeatmet, zuweilen auch durch die Zuhilfenahme positiver Imagination. Dies folgt dem Grundsatz körperlicher Traumatherapien, dem zufolge das rein sprachliche Ausformulieren der traumatischen Situation, wie es die Psychotherapie handhabt, eine Retraumatisierung auslösen kann.

Das Tanzprojekt "Come as you are" nimmt diesen Faden auf. Krieg und Flucht scheinen sich in den eruptiven Ausbrüchen auszudrücken, während die Auseinandersetzung mit Ankommen und Fremdsein direkt verbalisiert wird.

Wie sensibel die Lage seiner Gruppe ist, wurde Nir de Volff umso deutlicher, als eine Tänzerin, die zeitweise im Ensemble mittanzte, die Gruppe verließ. De Volff hielt sie für eine gute Tänzerin und hatte Hoffnungen, dass sie schnell Anschluss in der deutschen Szene finden würde. Von einem Tag auf den anderen änderte sich jedoch ihre Körperspannung. Bald bat sie um ein Gespräch. Da es auf die erste öffentliche Präsentation der Tanzgruppe zuging, hatte sie mit ihren in Syrien verbliebenen Eltern gesprochen. Diese meinten, es könne für sie lebensgefährlich werden, wenn ihre Tochter zusammen mit einem ­Israeli öffentlich auftreten würde.

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