Amnesty Journal Deutschland 01. November 2019

Bleiben oder gehen

Eine Menge junger Menschen mit Fahnen vor einer Absperrung

Dreißig Jahre nach dem Mauerfall bestimmen nicht mehr freiheitliche Kräfte den Ton in Ostdeutschland, sondern nationalistische. Doch junge Menschen halten dagegen.

Von Markus Bickel, Chemnitz

Auf dem Brühl-Boulevard in Chemnitz ist morgens die Welt noch in Ordnung. Felix Kummer schlendert durch die frisch sanierte Fußgängerzone im Zentrum der sächsischen 250.000-Einwohnermetropole. Die ersten Läden machen gerade auf, und auch der Frontmann der Band Kraftklub wirkt aufgeräumt. Im Oktober kam sein erstes Soloalbum, "Kiox", auf den Markt. Erhältlich lediglich über seine Webseite – und den eigens zum Exklusivverkauf hochgezo­genen Laden hier um die Ecke, in der zu DDR-Zeiten beliebten Kneipe "Die Glocke".

Dass es sich bei dem Plattenladen Kummers nur um einen Pop-Up-Store handelte, der nach drei Tagen Verkaufsphase wieder schloss, ist kein Zufall: Wie viele andere junge Menschen im früheren Karl-Marx-Stadt und anderen Städten Sachsens, Sachsen-Anhalts, Mecklenburg-Vorpommerns, Thüringens oder Brandenburgs macht Kummer sein Bleiben in Ostdeutschland mittlerweile von der Politik abhängig: "Wenn die AfD hier wirklich in die Landesregierung kommt, dann bin ich wahrscheinlich weg von hier", sagte er im September. "Dann schmeiß’ ich all meinen Chemnitz-Lokalpatriotismus über Bord, geh nach Berlin und gentrifiziere schön was weg", so der 30-Jährige.

Kummers Sorge ist berechtigt. 27,5 Prozent erzielte die Alternative für Deutschland (AfD) bei der Landtagswahl im September in Sachsen, in Brandenburg waren es 23,5, in Thüringen 23,4 Prozent. Rein rechnerisch stellen die Rechtsextremisten in Dresden mit der CDU die Parlamentsmehrheit. Zwar schloss der sächsische Ministerpräsident und CDU-Vorsitzende Michael Kretschmer eine Koalition mit der AfD aus. Doch hinter den ­Kulissen der seit der ersten freien Wahl 1990 den Freistaat regierenden Union halten sich längst Parteikader bereit, um diesen Kurs zu kippen.

Das zeigt, wie sich die Zeiten in Ostdeutschland geändert ­haben: Vor genau dreißig Jahren, im Oktober und November 1989, waren es Bürgerrechtler, die in Leipzig, Ostberlin, Greifswald und Jena für Meinungsfreiheit und Demokratie auf die Straße gingen. Unter Lebensgefahr: Keine vier Monate zuvor hatte die DDR-Führung der Kommunistischen Partei Chinas für die Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Tiananmen in Peking gedankt. Sowjetische und Panzer der Nationalen Volks­armee (NVA) standen bei den Montagsdemonstrationen, die im Herbst 1989 in Leipzig begannen, bereit, dem Aufbegehren ein Ende zu bereiten.

Hunderte Demonstrationsteilnehmer wurden festgenommen, die Überwachung durch die Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) lief auf Hochtouren. Und eine "chinesische Lösung" war bis zum Spätherbst nicht vom Tisch. Doch die Spitzen der Sozialistischen Einheitspartei (SED) entschieden sich anders, was der "Friedlichen Revolution" den Boden bereitete: Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde von den Protesten in Leipzig in den anderen Landesteilen des 17 Millionen Einwohner zählenden sozialistischen Teils Deutschlands. Fünf Tage vor dem Mauerfall am 9. November kamen auf dem Berliner Alexanderplatz mehr als eine Million Menschen zusammen. Es war die erste genehmigte Demonstration in der Geschichte der DDR – elf Monate vor ihrem Ende. 

Vor allem protestantische Gemeinden bildeten den Ausgangspunkt des Aufstands gegen die SED-Herrschaft. Lange vor den Protesten von 1989 fanden in Karl-Marx-Stadt Menschenrechtlerinnen, Punks und Pazifisten in der Michaelisgemeinde und der St.-Pauli-Kreuzkirche Unterschlupf. Ohne die Rückendeckung der Kirche wäre das Regime kaum gestürzt worden.

Neonazis schon zu DDR-Zeiten stark

Volkmar Zschocke kann sich noch gut an die Abende im Jugendkeller der Sozialdiakonie erinnern, in der Ende der 1980er Jahre jeder willkommen und kritisches Hinterfragen angesagt war, nicht gedankenleeres Nachplappern der offiziellen Parteiparolen. Der heutige Grünen-Abgeordnete im Landtag sitzt auf einer Bank vor seinem Wahlkreisbüro in der schmuck hergerichteten Fußgängerzone Brühl-Boulevard, als der Kraftklub-Frontmann Felix Kummer vorbeigelaufen kommt. Es sei toll, was der auf die Beine stelle, sagt der Politiker – nach ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Chemnitz im Sommer 2018 etwa das Konzert "Wir sind mehr", bei dem sich Musiker aus ganz Deutschland gegen Neonazis und den Rechtsruck durch die AfD wandten.

Dass die rechtsextreme Partei dreißig Jahre nach der Friedlichen Revolution in ihrem Wahlkampf an die bürgerrechtliche Tradition der Wendezeit 1989 anknüpfte, macht Zschocke fassungslos. "Die Wende vollenden", "Bürgerrechtler an die Urne", lauteten nur einige der Parolen, mit denen die Nationalisten auf Stimmenfang gingen – mit Erfolg: Fast eine Million Menschen in Sachsen und Brandenburg gaben ihre Zweitstimme den Rechtsextremisten.

Dass schon lange vor dem Mauerfall im November 1989 Neo­nazis auch in der DDR ihr Unwesen getrieben hätten, werde bei der Betrachtung der Situation in den ostdeutschen Ländern leicht vergessen, sagt Zschocke. Anders als viele Skinheads, die in der Hooliganszene ihr Unwesen trieben, die der Staat jedoch gewähren ließ, geriet er wegen seiner kritischen Haltung früh ins Visier der Staatssicherheit. Die Eltern des 1969 in Karl-Marx-Stadt geborenen Mannes waren von protestantischen Moralvorstellungen geprägt, die sie an ihren Sohn weitergaben. Sagen, was man denkt, und sich nicht ducken vor den Autoritäten, reichte schon als Leitlinie, um sich in der staatssozialistischen Diktatur jede Menge Ärger einzuhandeln.

Zschocke kostete sein Mut das Abitur – und sein Studium. Statt einer akademischen Laufbahn machte er eine Lehre als Werkzeugmacher und engagierte sich in pazifistischen und ­ökologischen Kreisen. Und wurde damit zum jungen lokalen Wortführer einer Bewegung, die die DDR verändern wollte – und nicht den Anschluss an die Bundesrepublik suchte wie Hunderttausende, die sich erst kurz vor dem Mauerfall auf die Straßen wagten. "Ungehorsam – eine Bürgerpflicht" und "Mut zum Protest" waren nur zwei der Schlagworte, mit denen er auf Flugblättern und von ihm mitinitiierten Veranstaltungen wie dem "Freitag-Club" und dem "Teen-Treff" Ende der 1980er Jahre für gesellschaftlichen Wandel warb.

Gleich fünf inoffizielle Mitarbeiter hatte die Stasi auf ihn ­angesetzt, erfuhr er später aus den Akten der Stasiunterlagen­behörde. Unter anderem, weil er versucht habe, "gezielt und konzeptionell Jugendliche und Jungerwachsene zu einem relativ festen Personenkreis zusammenzuschließen und kontinuierlich in feindlich-negativem Sinne zu beeinflussen", wie es in einem Operativen Auskunftsbericht der Stasi von Oktober 1989 über Zschocke heißt. 

Wäre der erste sozialistische Staat auf deutschem Boden nicht wenige Wochen später kollabiert, wäre er wahrscheinlich im Gefängnis gelandet, sagt Zschocke heute. Denn erst drei Wochen nach dem Mauerfall stellte die Staatssicherheit die operative Maßnahme ein, mit der der damals Zwanzigjährige Schritt für Schritt überwacht wurde. Vor allem sein Engagement für ­einen sozialen Friedensdienst und die Einrichtung von Fahrradwegen war den Staatshütern ein Dorn im Auge. Nicht ohne Grund: Zschocke gelang es mit spontanen Aktionen wie "Mobil ohne Auto" und der Schaffung der Interessengemeinschaft "Stadtradler", größere Gruppen Jugendlicher zu mobilisieren.

Mit Wohlwollen schaut er deshalb auf die Aktivitäten der jungen Chemnitzer und Chemnitzerinnen. Wie in vielen anderen Städten beteiligen sich hier Woche für Woche Hunderte an den Fridays-for-Future-Protesten. "Ich finde diese Rebellion sehr gut", sagt der Fünfzigjährige, der in den letzten Tagen der DDR-Diktatur die Ordnungskräfte auf Trab hielt mit Fahrraddemons­trationen – und ständig mit Verhaftung rechnen musste. "Noch lauter, noch rebellischer" wünscht er sich das Engagement der jungen Aktivisten heute.

Vereinzelte Menschen vor einer großen Büste, im Vordergrund Fahrradfahrer

 

Dass das selbst unter demokratischen Umständen nicht immer leicht ist, macht die Arbeit von Amnesty International in Chemnitz deutlich. Schon seit Jahren würden er und seine Mitstreiter an Infoständen angepöbelt und die Organisation auf Twitter von AfD-Abgeordneten beleidigt, erzählt Sebastian Lupke, der die Treffen der Ortsgruppe koordiniert. "In einem Bundesland, in dem der politische Feind seit jeher links stand und eine aktive Zivilgesellschaft noch nie gewollt war, werden die Handlungsspielräume kleiner", sagt der Dreißigjährige. "Auch für eine seriöse Organisation wie Amnesty."

Freiheitsbeschneidung der Andersdenkenden

An einem lauen Abend sitzt Lupke mit Gleichgesinnten im Jugendzentrum Lokomov am Fuße des Sonnenbergs zusammen. Ein venezolanischer Exilant ist zu Gast beim monatlich veranstalteten Menschenrechtsstammtisch, gut ein Dutzend Besucher sind gekommen, um mehr über die Lage in dem lateinamerikanischen Land zu erfahren. 1989 geboren war noch keiner der Teilnehmer des Stammtischs – allerdings halte es auch kaum ­einen länger als das Studium in Chemnitz, so Lupke.

Unter anderem wegen der starken rechtsextremen Szene

in der Stadt: Im November 2016 verübten Unbekannte einen Sprengstoffanschlag auf das Lokomov. Die Betreiber gehen davon aus, dass es sich um einen Einschüchterungsversuch handelte, weil im Rahmen eines Theaterprojekts die Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) behandelt wurden – der Führungskreis der rechtsterroristischen Gruppe hatte in Chemnitz lange seinen Unterschlupf; zehn Menschen töteten die Nazis in den frühen 2000er Jahren.

Doch nicht nur gewalttätige Rechtsextremisten, auch die AfD schränke die Freiheit Andersdenkender ein, sagt Lupke, der selbst beruflich in der Flüchtlingsberatung tätig ist. Was er meint, machte der frisch gewählte Chemnitzer Stadtrat im Sommer deutlich: Mit den Stimmen von CDU, FDP, AfD und der rechts­extremen Gruppe "Pro Chemnitz" beschloss die Kommunal­vertretung die Neubesetzung des Jugendhilfeausschusses der 250.000-Einwohnerstadt. Erstmals nicht mehr vertreten in dem Gremium: ein Vertreter der örtlichen Dachverbände.

"Das ist ein absolutes Novum der bisherigen Praxis im Stadt­rat und stellt jedes Funktionieren der Pluralität in der ­Jugendhilfe in Frage", heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Fraktionen Linke, Die Partei, SPD und Grüne. Sie hatten eine Riege von Trägervertretern favorisiert, die die Bandbreite der Kinder- und Jugendarbeit in der Stadt abbilden sollte – von kirchlichen Organisationen über die Arbeiterwohlfahrt und die Liga der Wohlfahrtsverbände bis hin zu kleineren Vereinen und zum Dachverband Netzwerk für Jugend- und Sozialarbeit.

Was sich in Chemnitz im Kleinen abspielt, droht nach den Erfolgen der AfD in Sachsen und Brandenburg in Ostdeutschland immer häufiger Realität zu werden: das gezielte Streichen von Geldern für Jugend- und Kulturarbeit, gerade auf dem Land und im kleinstädtischen Milieu. "Die AfD setzt auf einen Prozess der Diskreditierung zivilgesellschaftlichen und demokratischen Engagements", konstatiert etwa der Sozialwissenschaftler David Begrich vom Verein Miteinander – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt. In dem ostdeutschen Bundesland sitzt die AfD bereits seit 2016 mit 25 Abgeordneten im Landtag. "Sie will eine Kultur des Verdachts schaffen."

Diese Einengung zivilgesellschaftlicher Räume treibt immer mehr engagierte junge Menschen aus ostdeutschen Städten fort, sei es aus Magdeburg in Sachsen-Anhalt, Rostock in Mecklenburg-Vorpommern, oder eben aus Chemnitz. Auch Lupke von der Amnesty-Gruppe bekommt das zu spüren. Bis vor den Sommerferien hatte noch ein Schüler die regelmäßigen Treffen geleitet. Doch den zog es nach dem Abitur nicht etwa nach Berlin, Köln oder Hamburg wie viele seiner Altersgenossen, sondern noch weiter weg: Ein Jahr lang verbringt er nun in Kolumbien. Natürlich nicht wegen der AfD, sondern um dort einen sozialen Freiwilligendienst zu absolvieren. Seine Rückkehr nach Chemnitz ist dennoch ungewiss.

Weitere Artikel