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"Missing women": Nicht länger akzeptieren

Gute Laune trotz widriger Lebensumstände: Schülerinnen in Mumbai, 2007
© Andy Richter / Cavan Images / laif
In China und Indien könnten 140 Millionen Mädchen und Frauen mehr leben. Weibliche Föten werden abgetrieben, Mädchen nach der Geburt gefährlich vernachlässigt. Die Zivilgesellschaft versucht, das zu ändern.
Von Georg Schäfer
Was schadet Mädchen und Frauen besonders und verhindert die Gleichstellung? Schon der Weltbevölkerungsbericht des Jahres 2020 gab darauf eine Antwort: unter anderem die Bevorzugung von Söhnen in Familien. Auch fünf Jahre später hat sich das vor allem in einigen asiatischen Ländern kaum geändert.
Dort werden weibliche Föten oftmals gezielt abgetrieben. Seit den 1970er Jahren kann das Geschlecht eines Fötus recht einfach durch Ultraschall bestimmt werden. Obwohl Indien im Jahr 1994 und China 2002 den Einsatz von Ultraschall für solche Zwecke verboten, gehört er in beiden Ländern weiterhin zur Praxis.
Ergebnis sozialer und kultureller Zwänge
Anders lässt sich das verzerrte Geschlechterverhältnis bei der Geburt nicht erklären (in China 110 Jungen zu 100 Mädchen, wobei die Tendenz erfreulicherweise rückläufig ist). Oft sind diese Schwangerschaftsabbrüche das Ergebnis sozialer und kultureller Zwänge. In Indien wurde zum Beispiel eine Frau namens Amisha sechsmal von ihrer Familie gedrängt, abzutreiben, weil sie Mädchen erwartete. "Es sind nicht nur meine Töchter gestorben. Bei all dem bin auch ich gestorben", sagt sie in der Arte-Dokumentation "Bloß keine Tochter! – Asiens Frauenmangel und die Folgen". Amnesty hatte bereits in den Jahresberichten 2006 und 2007 darauf hingewiesen, dass in Indien pränatale Geschlechtsbestimmung missbraucht wird, um weibliche Föten abzutreiben.
Auch wenn es zu einer Geburt kommt, werden Mädchen gegenüber Jungen oft vernachlässigt. Sie werden schlechter ernährt und gesundheitlich nicht so gut versorgt. Als Folge kommt es bei Mädchen zu einer höheren Kindersterblichkeit. In Indien sterben Schätzungen zufolge deshalb jedes Jahr mehr als 200.000 Mädchen unter fünf Jahren zusätzlich. Die "Übersterblichkeit" von Mädchen ist auch für China belegt, allerdings weit weniger ausgeprägt als in Indien.
Heiratstourismus und Frauenhandel
All dies hat tief verwurzelte soziale Ursachen. In China spielte die 1979 eingeführte Ein-Kind-Politik eine wichtige Rolle. In vielen Teilen des Landes soll traditionell ein Sohn die Verantwortung für die materielle Unterstützung der Eltern im Alter tragen und häufig die Schwiegertochter für die Pflege herangezogen werden. Daher wünschten sich viele Familien, dass das einzige Kind nach Möglichkeit ein Junge sein sollte. Das Ende der Ein-Kind-Politik im Jahr 2015 verschob die Problematik auf das zweite Kind. Falls das erste Kind ein Mädchen ist, möchten viele Eltern dann als zweites Kind unbedingt einen Sohn, der sie im Alter versorgt. Untersuchungen in China zeigten, dass das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern gravierende negative Konsequenzen beispielsweise bei der Wahl einer Partnerin oder bei der Versorgung älterer Personen haben kann. In Indien muss die Familie der Braut traditionell eine hohe Mitgift bezahlen, obwohl dies seit 1961 gesetzlich untersagt ist. Daher kann die Geburt einer Tochter später möglicherweise zu einer finanziellen Belastung für die Familie führen.
Aufgrund der Geschlechterselektion vor und nach der Geburt weisen die betroffenen Länder ein erhebliches Frauendefizit auf. Die Zahl der Frauen, die wegen dieser verzerrten Demografie weltweit fehlen, wird auf 140 Millionen geschätzt. Der indische Nobelpreisträger Amartya Sen prägte dafür im Jahr 1990 den Begriff "missing women". Das hat auch Konsequenzen für die lebenden Mädchen und Frauen. Der Männerüberschuss ist erheblich, vor allem im jungen Alter. Für China und Indien wird dieser Überschuss auf 70 Millionen geschätzt; es gibt Heiratstourismus und Frauenhandel, Mädchenentführungen sowie sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Frauen. Amnesty engagiert sich im Rahmen seiner Arbeit zu Indien gegen diese sexualisierte Gewalt.
Geschlechtsspezifische Diskriminierung und Gewalt sowie die schlechteren Lebensbedingungen für viele Mädchen und Frauen, die sich in der hohen Zahl von "missing women" niederschlagen, stellen schwere Menschenrechtsverletzungen dar. Um dem Einhalt zu gebieten, gibt es in Indien neben staatlichen Maßnahmen auch zahlreiche zivilgesellschaftliche Initiativen. Im Rahmen des Projekts "Let Girls Be Born" arbeitet etwa Plan India daran, Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu beenden, und bekämpft die gezielte Abtreibung weiblicher Föten. Die Organisation Homes of Hope India bietet verwaisten, verlassenen oder verschleppten Mädchen in Indien ein sicheres Zuhause, Gesundheitsversorgung, Nahrung und Bildung. Die Arte-Dokumentation "Indien – Eine Chance für Töchter" stellt das Engagement der Hebamme Neelam Bala vor. In einer Szene erklärt sie den Dorfältesten im Ort Patriri im indischen Bundesstaat Punjab: "Egal, ob eine Frau einen Jungen oder ein Mädchen erwartet, ich sage immer, dass die Gesundheit von Mutter und Kind oberste Priorität hat."
Gunda Opfer von der Amnesty-Koordinationsgruppe gegen Menschenrechtsverletzungen an Frauen betont, dass dabei das Recht von Frauen, selbst über ihre Schwangerschaft und auch über einen möglichen Abbruch zu entscheiden, auf keinen Fall angetastet werden darf: "Aber man kann versuchen, daran mitzuwirken, dass Frauen wirklich frei entscheiden können." (siehe Hintergrund)
Auch Gunda Opfer betont die Bedeutung zivilgesellschaftlicher Initiativen: "Sie reisen durch Dörfer und Städte, informieren, stellen dar, wie wichtig ein Leben mit einem ausgeglichenen Geschlechterverhältnis ist. So leisten sie einen Beitrag, um den Wunsch zu wecken, Töchter zu bekommen." Und wie könnte die Arbeit von Amnesty in diesem Bereich aussehen? "Der beste Weg scheint zu sein, die hiesige Öffentlichkeit über das Problem zu informieren und zu sensibilisieren. Auf dieser Basis können wir Unterstützung für ausgewählte NGOs vor Ort in Indien gewinnen", sagt Gunda Opfer.
Georg Schäfer ist Mitglied der Amnesty-Koordinationsgruppe Kinderrechte.
HINTERGRUND
Amnesty International richtet sich gegen die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und gegen Geschlechterstereotype. Diese äußern sich in manchen Gesellschaften dadurch, dass die Geburt eines Sohnes bevorzugt wird, und sie können zu gezielten Schwangerschaftsabbrüchen aufgrund des Geschlechts führen. Die Einschränkung des Zugangs zu einem sicheren Schwangerschaftsabbruch ist jedoch keine Antwort auf strukturelle Diskriminierung. Amnesty setzt sich für die vollständige Entkriminalisierung von selbstbestimmten Schwangerschaftsabbrüchen unabhängig von den Gründen ein. Amnesty fordert die Staaten dazu auf, dringende Maßnahmen zu ergreifen, die geschlechtsspezifischer Diskriminierung ein Ende bereiten. Auch muss die Verweigerung wirtschaftlicher und sozialer Rechte beendet werden, die zu Abtreibungen nach der Bestimmung des Geschlechts führen können.
Katharina Masoud, Amnesty-Fachreferentin für Geschlechtergerechtigkeit, Intersektionalität und Antirassismus.