Amnesty Journal Brasilien 23. April 2021

Bestien & Göttinnen

Eine überdimensionierte Goldkette hängt an einer Betonwand, statt eines Schmuckstücks hängt an ihr ein Maschinengewehr.

Der Fotograf und bildende Künstler Igor Vidor arbeitet zu Polizeigewalt in Brasilien. Weil er mit dem Tode bedroht wurde, floh er nach Berlin. Hier beschreibt er einige seiner Arbeiten.

Von Malte Göbel

"Es ging nicht mehr so weiter. Ich bekam Todesdrohungen. Und dann wurde es auf einmal sehr still. Zu still. Also habe ich zu meiner Frau gesagt: Wir sollten weg von hier, so schnell wie möglich." Igor Vidor ist ganz ruhig, als er das erzählt. Er sitzt auf einer Couch, trägt eine rote Wollmütze, Corona-Frisur. Seine tiefe Stimme flößt sofort Vertrauen ein. Von der Panik, die er damals wahrscheinlich empfand, ist kaum etwas zu spüren.

Mittlerweile lebt der Fotograf und Bildende Künstler in Berlin. Seit Juni 2019 ist er Stipendiat der Martin-Roth-Initiative, die verfolgten Kulturschaffenden einen Schutzraum bietet: Wer in seinem Heimatland wegen seiner Kunst verfolgt oder bedroht wird, soll herausgeholt werden, mit einem Stipendium. Für Igor Vidor war es 2019 die Rettung. "In Berlin konnte ich endlich wieder nachts durchschlafen."

Kein friedliches Land

Vidor ist ein politischer Künstler. Seine Werke befassen sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in seiner Heimat, mit der Gewalt im öffentlichen Raum – und das bedeutet auch immer Polizeigewalt. "Brasilien wird von vielen Menschen so positiv gesehen, es gibt diesen Gründungsmythos: Die Brasilianer glauben, sie seien tolerant, vielfältig und friedlich … aber das stimmt nicht! Wir haben die höchste Mordrate der Welt, die höchste Rate von Polizeimorden, auch von Morden an Polizisten, die höchsten Raten von Morden an Frauen, an Trans, an Schwulen und Lesben", zählt er auf. "Wir sind einfach kein friedliches Land. Brasilien ist gefährlich und gewalttätig."

Auf einer Kleiderstange hängen Alltagsobjekte, wie ein Regenschirm und eine Bohrmaschine am Kabel.

Dass Gewalt zum Alltag gehört, hat Igor Vidor von klein auf gelernt. Wirklich aufgefallen ist es ihm erst später. Geboren wurde er 1985 in einem armen Vorort von São Paulo, der Vater war Lastwagenfahrer, die Mutter blieb nach der Geburt des zweiten Kindes zu Hause. "Ich wuchs in einer Gegend auf, in der die Straßen nachts gefährlich sein können, wegen der Polizei." Die Polizei war nicht Freund und Beschützer, sondern Bedrohung. "Es ist krass: Brasilien ist eine Demokratie, aber es ist schwer, den Polizisten zu vertrauen."

Brasilien ist eine Demokratie, aber es ist schwer, den Polizisten zu vertrauen.

Igor
Vidor
Künstler

Neun seiner Freunde sind von der Polizei getötet worden – dass das nicht normal ist, fiel ihm erst nach dem Tod seines Jugendfreundes Rodrigo auf. Der arbeitete für ein Drogenkartell und wurde 2016 von der Polizei gefoltert und ermordet. "Ich dachte: Oh fuck, was passiert hier eigentlich?"

Seitdem war Vidor klar, dass er noch mehr über die Themen Sicherheit und Gewalt und die Verbindung von beidem reden muss. Er begann zu recherchieren. "Es war sehr leicht, Namen und Verbindungen zu finden." Doch geht es ihm weniger um Namen, als vielmehr um die Strukturen dahinter: "Ich als Künstler habe eine andere Perspektive als ein Journalist. Ich möchte tiefer gehen als die Schlagzeilen in einer Zeitung."

Doch Vidors Recherchen fielen auf, bald bekam er Morddrohungen. Sein Instagram- und sein E-Mail-Account wurden gehackt. Einzelheiten möchte Vidor nicht erzählen, um sich nicht in Gefahr zu bringen, aber: "Die Drohungen enthielten spezifische Angaben über mich und meine Arbeit" – also doch ein Grund, besorgt zu sein. Mit einem Freund, der sich in IT-Sicherheit auskennt, verfolgte er die Drohungen zurück und landete bei einem Polizisten. "Wir fanden heraus, dass er Verbindungen zu einer illegalen Militäreinheit hatte, einer Miliz. Das ist ernst." Die gleiche Gruppe hatte im März 2018 die Politikerin Marielle Franco umgebracht, was international Aufsehen erregte.

Im Visier der Polizei

Obwohl die von Vidor gesammelten Informationen gereicht hätten, den Mann vor Gericht zu bringen, entschied er sich dagegen, ihn anzuzeigen. "Wir hatten Angst vor Racheakten. Und als ich erfuhr, dass es Versuche gab, mich mit einem Drogen­kartell in Verbindung zu bringen, war klar: Ich muss da raus."

Zunächst waren Igor Vidor und seine Frau Gabriela in Brasilien auf der Flucht, von Haus zu Haus, von Region zu Region. Durch seine Arbeit in Rio de Janeiro hatte Vidor Kontakt zum Goethe-Institut, das ihn mit der Martin-Roth-Initiative zusammenbrachte. Nach zehn Monaten bürokratischer Hürden kam er im Juli 2019 mit seiner Frau in der deutschen Hauptstadt an. "Berlin war nicht geplant. Aber endlich fühlten wir uns wieder sicher." 2020 wurde das Stipendium um ein Jahr verlängert, weil es Hinweise gab, dass Vidor weiterhin gefährdet ist.

Berlin war nicht geplant. Aber endlich fühlten wir uns wieder sicher.

Igor
Vidor
Künstler

In Berlin kann Vidor in Ruhe arbeiten. Seine Werke beschäftigen sich weiterhin mit Polizeigewalt und den Strukturen dahinter – mit Drogen- und Waffenhandel, mit dem deutschen Waffenhersteller Heckler & Koch. Vidor hat für die Berlinische Galerie einen Kurzfilm gedreht, in dem er Oberndorf besucht, den Sitz des Rüstungsunternehmens, ein malerisches Örtchen im Neckartal. "Es ist so friedlich dort, aber sie exportieren den Tod!" Die Waffen, mit denen sein Freund Rodrigo und die Politikerin Marielle Franco umgebracht wurden, stammten von Heckler & Koch. "Diese Verbindung nach Deutschland ist schon verrückt, und jetzt ist es genau das Land, das uns Sicherheit bietet."

Wie es für Igor Vidor und seine Frau weitergeht, ist unklar. Im Juli läuft das Stipendium aus. Im Augenblick loten die beiden Porto als neue Heimat aus. Oder Vidor bleibt in Berlin, wo er mittlerweile gut vernetzt ist. Nur nach Hause kann er nicht. "Es ist nicht sicher für mich, nach Brasilien zurückzukehren."

Malte Göbel arbeitet als freier Journalist in Berlin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International oder der Redaktion wieder.

Zur Homepage des Künstlers: www.igorvidor.com

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