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Schutz vor dem Virus: Kauan Alves (17, links) und Alexandre Silva (19) leben in der Cruzada São Sebastião, einem Wohnkomplex im Stadtteil Leblon in Rio de Janeiro (2020).
© Nicoló Lanfranchi
Mehr als 90.000 Corona-Tote hat Brasilien bereits zu beklagen. Vor allem in den dicht besiedelten Armenvierteln breitet sich das Virus rasant aus. Der italienische Fotograf Nicoló Lanfranchi hat sich in einem überwiegend von Schwarzen bewohnten Viertel in Rio de Janeiro umgesehen.
von Tobias Oellig
Traurige Ranglisten und das Bekanntgeben bedrückender Rekorde sind im Zuge der Corona-Pandemie zum Medienalltag geworden. Obwohl auch europäische Länder in den letzten Wochen wieder mehr Neuinfektionen und Todesfälle melden, stehen die USA mit fast als 4,5 Millionen bekannter Infektionsfälle und mehr als 150.000 Toten (Stand: Juli) an der Spitze der Tabelle. Doch ein weiteres amerikanisches Land, derzeit auf Platz zwei, folgt dicht dahinter: Brasilien. Dort tötete das Virus eine Zeit lang etwa einen Menschen pro Minute, wie die Zeitung Folha de São Paulo ausgerechnet hat.
Verharmlosung durch Bolsonaro
Mehr als 90.000 Tote verzeichnet Brasilien, über 2,5 Millionen Infektionen wurden bislang gemeldet (Stand: Juli). Wie hoch die Dunkelziffer liegt, lässt sich schwer bestimmen. Es wird vergleichsweise wenig getestet. Und weil die brasilianische Bevölkerung sehr jung ist, könnte es sein, dass der Krankheitsverlauf bei vielen Patienten mild verläuft und eine Ansteckung häufig unerkannt bleibt.
Der wohl größte Störfaktor beim Versuch, die Pandemie mit vereinten Kräften koordiniert einzudämmen, ist das Staatsoberhaupt: Jair Bolsonaro, zuletzt selbst erkrankt, hat Covid-19 immer wieder verharmlosend als "gripezinha" ("Grippchen") bezeichnet. Um die Wirtschaft zu schützen, wehrte er sich lange gegen Schutzmaßnahmen und verlangte von den einzelnen Bundesstaaten, Beschränkungen zurückzunehmen. Bei Massenkundgebungen und Demonstrationen schüttelte er die Hände zahlloser Anhänger. Er entließ Gesundheitsminister, die seinen Umgang mit der Pandemie kritisierten, und untergrub eine transparente Informationspolitik systematisch.
Kritiker werfen ihm vor, er wolle das Ausmaß der Pandemie verschleiern. Zwischenzeitlich drohte Bolsonaro damit, aus der Weltgesundheitsorganisation auszutreten, der er ideologische Voreingenommenheit vorwarf. Währenddessen brach in einigen Städten des Landes das Gesundheitswesen zeitweise zusammen und Bilder von Massengräbern in der Urwaldmetropole Manaus gingen um die Welt.
Symbolische Gräber als Protest
Doch es regt sich Widerstand. Einer Umfrage von Datafolha (Mai 2020) zufolge bewerten mehr als 40 Prozent der Bevölkerung seine Amtsführung als schlecht. Im bevölkerungsreichsten Land Lateinamerikas wächst die Angst vor dem wirtschaftlichen Kollaps und sozialen Verwerfungen. Menschen demonstrieren auf ihren Balkonen und auf den Straßen gegen Bolsonaro, dessen Verharmlosungspolitik sich als fatal erweist. In Rio de Janeiro haben Aktivisten am Strand von Copacabana symbolische Gräber ausgehoben, um ein Zeichen gegen seine Corona-Politik zu setzen.
Während der Präsident sie als "Asoziale" und "Terroristen" diffamiert und durch die Krise irrlichtert, leiden vor allem jene unter den Folgen der Pandemie, die in prekären Verhältnissen leben. Viele Brasilianerinnen und Brasilianer können sich nicht an Ausgangsbeschränkungen halten, weil sie ihrer Arbeit nachgehen müssen, um zu überleben. Zwar werden Isolationsmaßnahmen befürwortet – doch die Stimmung könnte bei wachsender wirtschaftlicher Not schnell kippen. Eine weitere Ausbreitung des Virus in den dicht besiedelten Armenvierteln Brasiliens gilt als Schreckensszenario.
Der italienische Fotograf Nicoló Lanfranchi hat das Leben der Bewohner von Cruzada São Sebastião dokumentiert, einem Wohnkomplex im Stadtteil Leblon in Rio de Janeiro. Die Häuser entstanden Mitte der 1950er Jahre auf Initiative des Bischofs Dom Helder Câmara als Pilotprojekt, um Wohnraum für Menschen aus Elendsvierteln zu schaffen. Die städtebauliche Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte hat dazu geführt, dass dort Reiche und Arme in unmittelbarer Nachbarschaft leben: Die zehn baufälligen Wohnblöcke der Siedlung stehen mitten in einer der begehrtesten Gegenden von Rio, umgeben von Tennisplätzen und Swimmingpools.

Mit Blick auf das Wahrzeichen Rio de Janeiros: Heruntergekommene Häuser im Wohnkomplex Cruzada São Sebastião (2020).
© Nicoló Lanfranchi

Lívia Nogueira (29) hat wegen der Corona-Krise keinen Job mehr, auch ihr Mann ist arbeitslos. Sie haben drei Kinder. "Diese Pandemie ist ein Alptraum, viele haben ihre Arbeit verloren. Es gibt Leute, die hungern und in ihrer Wohnung eingesperrt sind. Schwarze und Weiße erfahren Ungleichheit, wenn es darum geht, im Krankenhaus gut behandelt zu werden oder eine gute Arbeit zu finden."
© Nicoló Lanfranchi

Marcos dos Santos Jr. (43): Sein Vater ist an Covid-19 gestorben. "Gerade in schwierigen Zeiten versuchen wir, einander zu helfen. Viele Leute hier sind benachteiligt, die meisten von ihnen sind schwarz. Seit der Kolonialzeit war das Drehbuch immer gleich, nur die Schauspieler haben gewechselt."
© Nicoló Lanfranchi

Hellen Souza (38) ist Friseurin, übernimmt nun aber auch die Fußpflege für ihre Kundinnen (Rio de Janeiro, 2020).
© Nicoló Lanfranchi

Bedrohung im Blick? Eine Bewohnerin des Stadtviertels Cruzada São Sebastião in Rio de Janeiro, Brasilien (2020).
© Nicoló Lanfranchi

Leandro Amaral (26) arbeitet als Lieferant für einen Supermarkt.
© Nicoló Lanfranchi

Eduarda Machado (60) vor dem Appartment, in dem sie mit ihrer Schwester lebt. Sie hat für eine Reinigungsfirma gearbeitet und ist seit März arbeitslos. "Die Zukunft nach Corona ist sehr unsicher. Ich hoffe, dass all die schlechten Leute, die immer nur an sich selbst gedacht haben, mal Solidarität mit anderen zeigen."
© Nicoló Lanfranchi

Lichtblick: Kinder lassen vom Treppenhaus eines Wohnblock der Cruzada São Sebastião einen Drachen steigen (Rio de Janeiro 2020).
© Nicoló Lanfranchi