Amnesty Journal Deutschland 05. Mai 2023

Schlimmer geht immer, besser aber auch

Markus Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland

Markus Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland

Weltweit fliehen und protestieren Millionen Menschen – weil ihr Leben bedroht ist, weil ihre Menschenrechte verletzt werden. Kolumne von Markus N. Beeko, Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

Von Markus N. Beeko

Sagt Ihnen "Tegucigalpa" etwas? Was fällt Ihnen zu "40.000 Kilometer" ein? Ich ­gehörte zu den Kindern, die fragten, wie weit die Strecke rund um den Globus wohl sei (rund 40.000 Kilometer) und auch, welche Länder und Städte sich auf unserer Erde befinden. Mit mir konnte man "Fahnen raten" spielen und mich nach den Hauptstädten der Welt fragen (Honduras: Tegucigalpa). Der Atlas und der "Fischer Weltalmanach" waren zerfledderte Bücher in meinem Kinderregal. Einigen mag das nerdig vorkommen, aber mich interessierte die Welt da draußen.

Vermutlich ist es deshalb wenig überraschend, dass die Vorstellung des "Amnesty Jahresberichts zur weltweiten Lage der Menschenrechte" für mich ein besonderer Moment ist. Amnesty veröffentlicht jedes Jahr mehr als 100 Berichte über Menschenrechtsverletzungen, ferner Kurzberichte, Pressemitteilungen und Briefings für Institutionen und die Öffentlichkeit. Den Jahresbericht kann man als die "Mutter aller Amnesty-Berichte" bezeichnen. Seit 1976 tragen unsere ­Expert*innen darin Informationen zusammen und werten Dokumentationen, Recherchen sowie Gespräche mit Betroffenen, Aktivist*innen und Regierungen aus. Das Ergebnis ist der mehrere hundert Seiten umfassende Jahresbericht, mit einem Analyseteil, Regionalteilen und Länderkapiteln – in diesem Jahr 156.

"Besser" geht immer. Wenn wir wollen.

Mir stellen sich bei der Lektüre immer drei Fragen: 1. Was sind die weltweit hervorstechenden Beobachtungen und was verbindet sie? 2. Was ist zu tun? 3. Was heißt das für die deutsche Politik? 2022 stachen zwei Beobachtungen hervor: ­Protest und Flucht. Weltweit fliehen und protestieren Millionen Menschen; weil ihr Leben bedroht ist, weil ihre Menschenrechte verletzt werden. Amnesty hat in mindestens 20 der 156 Länder Beweise für Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen gesammelt. Zu mindestens 94 der 156 erfassten Länder dokumentierten wir glaubwürdige Vorwürfe über Folter und andere Formen der Misshandlung; in fast der Hälfte der Länder (77) inhaftierte man Menschenrechtsverteidiger*innen willkürlich.

Daraus folgt: Wenn Menschen fliehen müssen, brauchen sie Schutz – ohne Wenn und Aber. Wenn Menschen gegen Leid und Unterdrückung auf die Straße gehen, dann brauchen sie Unterstützung. Unterstützung dank Öffentlichkeit und politischem Druck. Und begehen Regierungen Kriegsverbrechen und schwere Menschenrechtsverletzungen, dann müssen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. All das nimmt Deutschland in die Pflicht, dass nicht mit zweierlei Maß gemessen werden darf – weder bei Schutzsuchenden noch im Umgang mit Staaten. Wer Menschenrechte und die internationale Ordnung achten will, darf nicht einmal eine "werte-" und ein anderes Mal eine "interessengeleitete Außenpolitik" ins Feld führen.

Die drei Fragen, die mir fast immer gestellt werden, sind dagegen andere: 1. "Wo ist es denn am schlimmsten?" Dabei besteht der Wert des Jahresberichts darin, überall hinzuschauen und nicht nur auf die Brandherde, die oft viel Aufmerksamkeit bekommen. 2. Wie steht es um die Menschenrechte in Deutschland? Wichtige Frage. Denn auch, wenn vieles woanders "viel, viel schlimmer" ist, so beginnt die menschenrechtliche Verantwortung vor den eigenen Füßen. 3. Wurde es nicht auch irgendwo besser? Doch! Weil Menschen das Schlimme anprangern und sich für das Bessere einsetzen. "Besser" geht immer. Wenn wir wollen.

Markus N. Beeko ist General­sekretär der deutschen Amnesty-Sektion.

Zum Amnesty International ­Jahresreport 2022/2023 gelangen Sie hier.

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