Amnesty Journal Afghanistan 02. Mai 2025

Pressefreiheit in Afghanistan: Verfolgte Journalist*innen

Andrea Jeska veröffentlichte im Amnesty Journal 02/2022 die Reportage "Am Abgrund" über widerständige Frauen in Kabul. Dabei arbeitete sie mit Hamid Farhadi und Zabihullah Behjat zusammen. Dieses Foto einer Straßenszene entstand während der Recherche (Afghanistan, Kabul, Oktober 2021).

Unsere Autorin war noch im Jahr 2022 mit den beiden Journalisten Hamid Farhadi und Zabihullah Behjat in Afghanistan unterwegs. Heute sitzt der eine in Haft, und der andere ist nach Pakistan geflohen.

von Andrea Jeska

Sie waren voller Spott gegen die Bärtigen, die nichts kannten als Kampf und Koran. Hamid Farhadi und Zabihullah Behjat lernten sich während des Journalismusstudiums in Herat kennen. Als sie ihren Masterabschluss erhalten hatten, zogen sie nach Kabul. Afghanistan befand sich im Krieg, die USA und ihre Verbündeten kämpften gegen die Taliban; Kabul war nicht sicher, aber es gab Cafés, Galerien und Boutiquen. Als Team arbeiteten sie ausländischen Medien zu, auch deutschen. Sie recherchierten über die Verwaltung unter Präsident Aschraf Ghani. Den gelebten Feminismus afghanischer Frauen. Korruption in der Regierung. Öffneten Türen für ausländische Medien. Hatten keine Scheu, vor aller ­Augen Kolleginnen zu umarmen. 

Jetzt sitzt Hamid Farhadi im Gefängnis, verurteilt zu zwei Jahren Haft wegen Verstoßes gegen das Pressegesetz der ­Taliban. Und Zabihullah Behjat, genannt Zabi, ist nach Pakistan geflohen, wo er darauf wartet, dass das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge ein sicheres Drittland für ihn findet. Nach Hamids Festnahme hatte dessen Neffe ihn gewarnt. Also stieg Zabi in den nächsten Bus nach Norden, bezahlte einen Schlepper und lief zwei Nächte lang durchs Gebirge über die Grenze. 

Ein ungleiches Team

Als die Taliban im Sommer 2021 die Herrschaft über ganz Afghanistan zurückerlangten, hatten die beiden Journalisten dies gelassen genommen. Denn nun waren die Augen der Welt auf Afghanistan gerichtet. Zudem versprachen die Taliban anfangs, die Freiheit der Medien und die Rechte der Frauen nicht einzuschränken. Hamid und Zabi gingen auch davon aus, dass sie schon irgendwie außer Landes gelangen würden, sollten sich die Taliban nicht an ihre Versprechen halten. Hamid wollte am liebsten so schnell wie möglich fort. Zabi war sich nicht sicher. Er arbeitete auch für eine US-Hilfsorganisation, die Kinder aus armen Familien unterstützte. Durfte er die Kinder im Stich lassen? Außerdem gab es noch seinen kranken Vater und seine Geschwister, die auf sein Einkommen angewiesen waren. 

Hamid und Zabi waren ein ungleiches Team. Hamid stammte aus einer wohl­habenden, liberalen Familie, war immer elegant angezogen, besaß ein Auto. Zabis Familie war streng religiös und besorgt, der Sohn nehme sich Freiheiten heraus, die nicht mit dem Glauben vereinbar ­seien. Das Geld war stets knapp, er hatte viele Geschwister. Während einer gemeinsamen Recherche nahmen Hamid und ich Zabi einmal zu einem Schneider mit und schenkten ihm einen dunkelblauen Anzug. 

Die ersten Monate unter den Taliban waren eine Übergangszeit. Viele Zukunftsaussichten waren zerstört, vor allem die der Frauen, der Künstler*innen und der Intellektuellen. Doch noch waren die Hoffnungen groß, Europa, die USA, Kanada würden jenen, denen sie eine ­Zukunft versprochen hatten, bevor sie sie im Stich ließen, wenigstens Visa erteilen. In Kabul standen Taliban mit Kalaschnikows an Kreuzungen, Frauengruppen trafen sich bereits hinter geschlossenen Vorhängen. Wer gute Kontakte zu Hilfsorganisationen oder ins Ausland hatte, war längst abgereist. Hamid und Zabi leiteten mich durch das Chaos. Die Taliban wussten nicht, wie man einen Staat führt. Zu mir waren die neuen Minister höflich, aber Hamid und Zabi fragten sie drohend, warum sie sich an Ausländer*innen verkauften.

Zensur und Selbstzensur

Die Pressefreiheit, wenngleich mit Einschränkungen, gehörte zwischen 2002 und 2021 zu den wichtigsten Errungenschaften Afghanistans. Hunderte Zeitungen, Magazine, Sender und Online-Medien entstanden. Heute existieren die meisten dieser Medien nicht mehr, oder sie haben ihren Sitz ins Ausland verlegt. Journalist*innen flohen zu Hunderten, andere leben inzwischen versteckt, wechseln ständig ihren Aufenthaltsort. Ein Bericht des afghanischen Journalistenzentrums aus dem Jahr 2023 listet 237 registrierte Fälle von Gewalt gegen Journalis­t*in­nen auf, darunter auch Folter. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich höher. 

Die noch verbliebenen Medien werden zensiert oder üben sich in Selbstzensur gemäß der neuen Pressegesetze, die das "Ministerium zur Förderung von Tugenden und Verhinderung von Lastern" erließ, um die freie Berichterstattung zu unterbinden. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen stand Afghanistan 2024 auf Platz 178 von 180.

2022 erhielt Hamid ein Stipendium ­einer Universität in Berlin, um Politik zu studieren. Ich bürgte für ihn, Freund*innen hatten ein Zimmer, in das er hätte ziehen können. Es fehlte nur noch das ­Visum. Doch die für ihn zuständige deutsche Botschaft in Pakistan hatte keine freien Termine. Monate vergingen, das Semester in Berlin begann ohne Hamid, das Stipendium verfiel.

Wenn ich Hamid zwischenzeitlich fragte, ob er Arbeit habe, jetzt, da kaum noch ausländische Medien nach Afghanistan kämen, sagte er, alles sei gut, er und Zabi kämen zurecht. Sie würden ­Videos für die investigative Zeitung Etilaatroz drehen, anonym natürlich. Das bringe ein bisschen Geld ein und mildere die Verzweiflung. Etilaatroz hat ihren Sitz in den USA. Hamid schickte mir Links zu den Videos: Interviews mit jungen Mädchen, die nicht mehr zur Schule oder zur Universität gehen, nicht mehr arbeiten, das Haus nicht mehr verlassen dürfen, und mit erwachsenen Frauen, die sich ­ihrer Träume und Hoffnungen beraubt sehen. 

Nur knapp mehr als 1.000 Menschen sind in den 36 Monaten seit der Machtübernahme der Taliban nach Deutschland geholt worden. Es sollten 1.000 pro Monat sein.

Theresa
Bergmann
Asienexpertin von Amnesty Deutschland

 

Und er nahm Kontakt zu Reporter ohne Grenzen auf, schickte der Organisation ein Dossier über seine Gefährdung. Mich fragte er, ob ich seine Aussagen ­bezeugen könne. "Ich habe nun doch Angst", schrieb er. Er schlafe nur noch in Kleidung, um schnell fliehen zu können, wenn die Taliban kämen. Im Dezember 2023 schrieb er, Reporter ohne Grenzen habe seinen Fall an das Auswärtige Amt weitergeleitet, vielleicht könne er im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms für Afghanistan nach Deutschland kommen. Doch das Programm hinterlässt eine bittere Bilanz. "Nur knapp mehr als 1.000 Menschen sind in den 36 Monaten seit der Machtübernahme der Taliban nach Deutschland geholt worden", sagt Theresa Bergmann, Asienexpertin von Amnesty Deutschland. "Es sollten 1.000 pro Monat sein." 

"Es ist eine Jagd"

Die letzte Nachricht von Hamid erhielt ich im Juni 2024. Im September rief mich sein in Deutschland lebender Schwager an und erzählte, die Taliban hätten Hamid inhaftiert. Fast zur selben Zeit wurden auch der Politikexperte Javed Kohstani und der Journalist Mehdi Ansari festgenommen. Ein Journalist, der anonym bleiben möchte, sprach von Hunderten von Razzien: "Es ist eine Jagd."

Zabi schrieb aus Pakistan, die Taliban seien mehrfach im Haus seiner Familie gewesen, um seinen Aufenthaltsort zu ­erfahren. Sie hätten seine Brüder geschlagen. Weil er keine Aufenthaltsgenehmigung habe, lebe er illegal in Pakistan, habe immer Angst, entdeckt zu werden. Wie gefährdet nach Pakistan geflohene Journalisten sind, berichtete Reporter ohne Grenzen Anfang 2025: Die Polizei durchsuche Wohnungen, Visa gebe es nur für kurze Zeiträume. Wer kein Visum vorweisen könne, dem drohe die Abschiebung nach Afghanistan.  

Das Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan endete de facto im Herbst 2024 mit dem Bruch der Regierungskoalition. "Nach Deutschland kommt aktuell keine Person aus Afghanistan mehr, die nicht schon eine Aufnahmezusage erhalten hat", sagt Theresa Bergmann. Amnesty versuche, gefährdete Afghan*innen nach Kanada oder Australien zu vermitteln, doch auch das sei sehr schwierig. Für ­Hamid ist es ohnehin zu spät.

Andreas Jeska ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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