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Frauenbuchklub in Afghanistan: Widerstand durch Worte
Die afghanische Dichterin Zahra Mandgar
© Privat
Die Dichterin Zahra Mandgar gründete einen geheimen Bücherklub für Mädchen in Kabul. Sie lebt jetzt im niederländischen Exil und versucht von dort aus, ihre Arbeit fortzusetzen.
Interview: Madeleine Londene
Wie haben Sie zum Schreiben gefunden?
Ich war schon immer gut mit Worten. Als Kind freute ich mich, wenn wir Diktate in der Schule hatten, zu Hause schrieb ich Tagebuch. 2019 begann ich mein Fotografiestudium und trat einem Dichterclub bei. Damals hatten Frauen in Afghanistan noch Rechte. Wir durften studieren und arbeiten. Ein Dozent ermutigte mich. So schrieb ich über etwas, das mir leichtfällt – über die Liebe. Meine Gedichte wurden in einem Sammelband veröffentlicht.
Von wem fühlen Sie sich inspiriert?
Von meinen Eltern. Ich und meine drei Geschwister wuchsen sehr arm auf, in der Provinz Ghazni. Wir sind Hazara und gehören dem schiitischen Islam an. In den Augen der Islamisten sind wir ungläubig. Meine Mutter passte auf uns Kinder auf, sie ist Analphabetin, mein Vater arbeitete in einer Bibliothek und als Bauer. 2006 zogen wir nach Kabul, in ein kleines Haus aus getrocknetem Lehm außerhalb des Stadtzentrums. Oft hatte meine Familie nicht genug zu essen, und wenn es regnete, tropfte das Wasser durchs Dach, aber wir liebten uns sehr. Zuhause war für uns ein sicherer Ort – ein Ort der Geborgenheit.
Wie war es, in Afghanistan eine Frau zu sein?
Es gibt kein afghanisches Mädchen, das sich nicht irgendwann wünscht, ein Junge zu sein. Die patriarchalen Strukturen reichten auch bis in meine Familie. Mein Vater verbot mir häufig Dinge, die er meinen Brüdern erlaubte. Seine Begründung lautete, "weil du ein Mädchen bist". Er sagte, ich sei schwach und könne mich nicht verteidigen, falls etwas passiere. Würde ich gegen seine Regeln verstoßen, würde meine Familie nicht mehr zu mir stehen. Ich weiß, dass er mir damit nur Angst einjagen wollte, aber diese Worte hängen mir bis heute nach. Meine Erfahrungen als Frau in Afghanistan verarbeite ich auch in meinen Gedichten.
In einem Gedicht schreiben Sie, "Kabul ist einsamer geworden als eine Frau allein". Wie meinen Sie das?
Ich habe dieses Gedicht aus Verzweiflung geschrieben. Kabul könnte eine Heimat sein, die den Klang unseres Lachens beherbergt. Heute ist es ein einsamer Ort. Und die Frauen sind noch einsamer. Kabul ist voll von bärtigen Männern, wir Frauen sind Gefangene in Afghanistan.
Welche Autor*innen beeinflussen Ihre Arbeit?
Der Roman "Der Drachenläufer" von Khaled Hosseini hat mich sehr berührt. Er schreibt über die Geschichte Afghanistans, man fühlt den Schmerz, den Kampf der Menschen dort und wie wichtig es ist, mutig zu sein. Und Mahmoud Dowlatabadi, ein iranischer Autor, er hat einen schönen Schreibstil.
Sie waren Teil eines geheimen Bücherclubs in Kabul. Wie kam es dazu?
Auslöser war ein Attentat des IS auf die Sayed Al-Shuhada-Oberschule in Kabul 2021, bei dem 85 Mädchen getötet und fast 150 verletzt wurden. Die meisten waren, wie ich, Hazara. Viele der Mädchen, die überlebten, waren traumatisiert. Einer meiner Freunde, der auch an der Universität Kabul studierte, hatte die Idee, einen Bücherclub für diese Mädchen zu gründen. Ich und drei andere Freunde unterstützten ihn. Wir durften nichts in den sozialen Medien teilen, das wäre zu gefährlich gewesen. Also gingen wir zu den Mädchen nach Hause und fragten, ob sie mitmachen wollen. Das Ziel war, sie in andere Lebenswelten eintauchen und ihre Erfahrungen in eigenen Geschichten verarbeiten zu lassen.
Wie liefen die Treffen ab?
Es war sehr schwer, einen Ort zu finden. Der Direktor einer Privatschule erlaubte uns, einmal in der Woche einen Raum nach den regulären Unterrichtszeiten zu nutzen. Er brachte sich damit selbst in Gefahr. Wir dunkelten den Raum ab, damit uns keiner sah.
Was haben Sie gelesen?
In Afghanistan gibt es eine Reihe von Büchern, die von den Taliban verboten wurden. Wir wollten viele davon lesen, aber kein Bücherladen verkaufte sie uns. Über einen Kontakt bekamen wir ein paar Ausgaben aus einem Archiv. Auf die Bücher klebten wir mithilfe einer Buchpresse andere Buchcover. Wir lasen "Lolita" von Nabokov und "Der kleine Prinz" von Saint-Exupéry. Das Buch, das die Mädchen aber am meisten beschäftigt hat, war Anne Franks Tagebuch.
Warum?
Weil sie sich mit ihr identifizieren konnten. Viele sagten beim Lesen des Tagebuchs: "Sie ist ja wie wir!" Die Erfahrungen, die Anne durchgemacht hat, kennen die Mädchen. Als Hazara-Frau bist du nichts wert, wirst geächtet und im schlimmsten Fall umgebracht. Anne ist das beste Beispiel dafür, wie wichtig es ist, mutig zu sein – und zu erzählen. Sie schreibt über ihren Alltag, das gab den Mädchen Hoffnung, – auch wenn das Buch traurig endet. Alles hat bei der Lektüre gepasst, die Hingabe, die Geschichte, das Durchhaltevermögen und der Widerstand. Anne Frank ist ihr Vorbild.
Wie hat sich das Leben der Mädchen durch die Bücher verändert?
Wenn man die Mädchen anfangs auf das Attentat ansprach, fingen sie an zu weinen, manche sprachen nicht darüber. Viele hatten Albträume. Durch das Schreiben können sie Emotionen zulassen, sie haben ihre Stimme wiedergefunden. Geschichten zu lesen, in denen andere Widerstand leisten, hat sie stark gemacht. Leider mussten wir den Bücherclub schließen. Die Gefahr, entdeckt zu werden, wurde zu groß. Im Dezember 2022 schlossen die Taliban auch die Universitäten. Ich ging zu Demonstrationen und wurde festgenommen. Im Februar darauf gab es unseren Club nicht mehr.
Sie sind danach in die Niederlande geflohen.
Ich wollte mein Land nie verlassen. Aber es gab keinen anderen Weg, um meinen Master in Kunstgeschichte zu machen. Ich dachte erst, zu bleiben sei eine Art Protest. Es dauerte eine Weile, bis ich verstand, dass es auch ein Protest ist, zu gehen. Die Universität in Leiden bot mir ein Stipendium an. Für das Visum musste ich nach Islamabad in Pakistan, meine Familie brachte mich zur Grenze. Es war über 50 Grad heiß, ich trug ein langes Kleid und einen Gesichtsschleier. Der Schweiß tropfte an mir herunter, aber ich hatte zu viel Adrenalin, um das zu merken. Hinter der Grenzkontrolle mietete ich einen Fahrer, der mich zur Botschaft fuhr. Innerhalb von zwei Tagen erhielt ich mein Visum. Im August 2023 kam ich in den Niederlanden an.
Wie geht es Ihnen dort?
Hier kann ich draußen auf der Straße mit meinem Handy Videos drehen, das war in Kabul nicht erlaubt. Wenn ich Polizeisirenen höre, bekomme ich immer noch Angst. Das Feuerwerk an Silvester war schrecklich, es erinnerte mich an Explosionen in Kabul. Ich habe wieder angefangen zu schreiben, fühle mich aber oft allein. Ich brauche meine Familie. Sich zu verabschieden, vielleicht für immer, war hart. Aber ich weiß, dass es die richtige Entscheidung war.
Was ist Ihr Plan für die Zukunft?
Ich möchte eine Brücke sein, für die Mädchen und Frauen, die zurückgeblieben sind. Gerade bin ich dabei, einen geheimen Club für Analphabetinnen in Kabul zu gründen, dafür lege ich Geld zur Seite. Für eine Lehrkraft, den Ort und die Bücher. 15 Frauen haben bereits zugesagt. Irgendwann möchte ich eine Schule in Kabul eröffnen und Mädchen und Frauen das Lesen und Schreiben beibringen. Ich habe etwas in Afghanistan gelassen – mein Herz. Irgendwann muss ich zurück und es einsammeln. Wir brauchen alle einen Ort, den wir unser Zuhause nennen. Die Niederlande sind wie ein Krankenhaus für mich. Hier heile ich.
Zur Person:
Zahra Mandgar wurde 2001 als Kind afghanischer Eltern in Teheran geboren. Als sie drei war, zog die Famiie zurück nach Afghanistan. Sie begann früh mit dem Schreiben, arbeitete als Fotografin und war Reporterin bei "Rah-e Farda TV". Heute klärt sie auf ihrem Instagram- Account über den Genozid an den Hazara auf – einer Volksgruppe, der sie selbst angehört.