Amnesty Journal Deutschland 15. Mai 2020

Idil Baydar: "Erst dann verschwindet die Wut, und das Verständnis beginnt"

Eine Frau steht vor einem Spiegel

Idil Baydar nimmt das unentspannte Verhältnis von Deutschen und Migranten auf die Schippe.

Die Schauspielerin und Kabarettistin Idil Baydar weiß, wie es ist, als Migrantin in Deutschland gefährdet zu sein. Ein Gespräch über getrenntes Gedenken, strukturellen Rassismus und gegenseitige Schuldzuweisungen.

Interview: Doris Akrap

Sie haben im November im Historischen Museum Frankfurt die "Möllner Rede im Exil" gehalten. Sie erinnerte an die Toten des rechtsradikalen Anschlags von Mölln am 23. November 1992. Im Vorfeld drohte Ihnen jemand per SMS, Sie umzubringen, wenn Sie die Rede halten würden. Fühlten Sie sich von der Polizei beschützt?

Für die Veranstaltung wurde mir Polizeischutz angeboten. Aber das habe ich dankend abgelehnt: "Ich fahr mit dem Taxi." Ich hatte keine Lust, auch noch die Polizei die ganze Zeit an der Backe zu haben. Der Möllner Freundeskreis, der die Rede orga­nisiert, hat sich um einen privaten Saalschutz drinnen gekümmert, und der Staatsschutz war draußen. Im Vorfeld haben die Behörden aber erstmal gar nichts gemacht – die Polizei hat sich vor allem darüber beschwert, dass ich die Morddrohungen, es waren ja mehrere, in Berlin angezeigt habe, obwohl ich in Frankfurt wohne. Und deren größtes Problem war, dass ich das Ganze öffentlich gemacht habe.

Auf Facebook.

Genau. Ich habe im März 2019 einen längeren Text dazu ­gepostet und dazu aufgefordert, weiter an der Abschaffung von Rassismus zu arbeiten.

Sie schrieben: "Lasst nicht zu, dass die vielen Opfer von Rassismus und Faschismus, die hier oder woanders passiert sind, hier oder woanders passieren, umsonst waren. Das wäre das Einzige, was ich mir wünsche, wenn sie mich auch ermorden würden." Wie haben Sie sich selbst ermutigt, die Rede zu halten?

Wenn du anfängst, voller Angst über die Schulter zu gucken, hast du schon verloren. Dann wirst du dein Leben lang über die Schulter gucken. Ich habe mir gesagt: "Das ist mein Leben. Ich lege es in die Hände meines Schöpfers. Alles andere ist Detail." Zu leugnen, dass ich Angst gehabt habe, wäre Blödsinn. Natürlich macht so etwas Angst. Aber ich wollte etwas mitteilen. Ich wollte den Leuten sagen, dass man auch mit Angst losgehen und etwas machen kann.

Es gab eine riesige Welle der Solidarität. Haben Sie damit ­gerechnet?

Nein, niemals. Das Frankfurter Museum ist aus allen Nähten geplatzt. Ich war überwältigt und bin immer noch geflasht davon. Es war eine gute Erfahrung, zu sehen, dass die Leute keinen Bock mehr auf diesen ganzen Hass haben und das auch zeigen. Was ich krass finde ist, dass die Stadt Mölln die Gedenkfeier für die Ermordeten nicht mehr wollte. Was ist da los? In ganz Deutschland finden Gedenkfeiern für die Opfer des Holocaust statt und dann so was? Das höhlt doch die Erinnerungskultur aus.

Die Stadt Mölln wollte offenbar die Angehörigen der Opfer nicht mehr bei den Vorbereitungen einbinden, und die haben dann entschieden, ihre Veranstaltung woanders zu machen.

Das scheint eine Entwicklung zu sein, die ich auch aus anderen Kreisen höre. Man nimmt den Betroffenen die Veranstaltungen aus der Hand und macht es lieber selbst. Was ist das? Es geht doch nicht darum, dass die Deutschen Schuld für andere Deutsche übernehmen. Es geht doch um das Zusammenstehen.

Wird angesichts der jüngsten Morde in Halle und Hanau die Sorge unter Migranten größer?

Sicher. Schon seit Längerem wird die Sorge wieder größer. Wir wissen, dass sich die Struktur nicht geändert hat. Warum haben wir immer noch kein Antirassismus- und kein Antifaschismusgesetz? Warum werden die NSU-Akten nicht freigegeben? Das ist das Problem. Das ist ein vielschichtiges Thema, das uns alle betrifft. Deswegen bin ich jetzt auch in die Partei "Die Urbane" eingetreten. Die verfolgen einen intersektionalen Ansatz. Sie sagen, Rassismus muss auf struktureller Ebene bekämpft werden. Man kann nicht über Kupferminen und Kinderarbeit empört sein, aber über Rassismus im eigenen Haus nicht reden wollen. Es hängt alles miteinander zusammen. Es geht nicht nur um diejenigen, die Adolf Hitler gut finden – wir alle sind Teil dieser Struktur.

Was genau meinen Sie damit?

Ich will es an einer Geschichte klar machen. Kürzlich saß ich auf einem Podium und erklärte, dass ich zu dem Schluss gekommen bin, dass Rassismus ein strukturelles Problem ist und dass das bedeutet, dass wir alle Teil davon sind. Das heißt, auch die Weißen suchen sich ihre Rolle nicht aus. Das Problem ist aber, dass die Weißen sich mit dieser Rolle gar nicht auseinandersetzen wollen. Sie glauben, es genügt, wenn sie keine Rechten und Rassisten sind und mit der AfD nichts zu tun haben. Nach der Veranstaltung kamen zwei schwarze Mädchen zu mir und sagten, ich hätte auf der Bühne "Whitepleasing" gemacht. Wow. Das hat gesessen.

Was passierte dann?

Ich habe mich wie die Kartoffeln verhalten, also jene Deutschen, denen ich sage, dass sie rassistisch sind: Ich habe relativiert, bin wütend geworden, habe meine schwarzen Freunde aufgezählt, bin aufs Klo gegangen und habe geheult. Also das ganze Programm. Da aber habe ich erst verstanden, was passiert, wenn wir versuchen, das Thema Rassismus ehrlich zu verhandeln. Denn dieses Mal war ich auf der Seite der Angeklagten. Ich habe kapiert, welche Wut und Verletzung bei Leuten hochkommt, wenn ich ihnen sage, dass sie rassistisch sind. Ich glaube, der emotionale Prozess, der da bei mir ausgelöst wurde, ist der Weg, den man gehen muss. Es geht nicht darum, dass die einen anklagen und die anderen das unterstützen oder aber ausweichen. Wir müssen das alle zusammen verhandeln. Erst dann verschwindet die Wut, und das Verständnis beginnt.

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