Amnesty Journal Indien 01. Juni 2022

"Niemand spricht mehr frei"

Eine Militärpatrouille mit Maschinengewehren steht auf einer Straße in Kaschmir.

Repressive Sondergesetze, abgeschaltetes Internet und verfolgte Journalist_innen: In der indischen Region Jammu und Kaschmir ist die Meinungs- und Informationsfreiheit extrem eingeschränkt.

Von Oliver Schulz

Der Kaschmirkonflikt ist ein koloniales Erbe: Als Großbritannien Indien und Pakis­tan 1947 in die Unabhängigkeit entließ, wurde die mehrheitlich von Muslim_innen bewohnte Region im Norden in einen pakis­tanischen und einen indischen Teil gespalten. Seither ist sie ein Zankapfel zwischen den beiden Ländern, die deshalb fünf Kriege führten. Für die Bevölkerung im indischen Teil gab es bislang jedoch kaum Frieden.

Im Gegenteil: Seit den 1980er Jahren schwelt ein Bürgerkrieg in Kaschmir, angefacht durch Widerstandskämpfer aus Pakistan und den Versuch Indiens, die ­Region zu kontrollieren. Seit in Indien der Hindunationalismus erstarkt ist und Muslim_innen im ganzen Land unter ­Generalverdacht stehen, verfolgt und gelyncht werden (siehe Amnesty Journal 4/2021), ist die Bevölkerung noch stärker unter Druck geraten.

Im Jahr 2019 wurde der in Artikel 370 der indischen Verfassung festgelegte Sonderstatus Kaschmirs aufgehoben, die begrenzte Autonomie der Region abgeschafft und das Gebiet in zwei Bundes­territorien aufgeteilt. In der gesamten Region kam es seither zu Einschränkungen bürgerlicher Freiheiten, Ausgangs- und Kommunikationssperren und einer verstärkten Militarisierung.

Amnesty International beobachtet eine kontinuierliche Verschlechterung der menschenrechtlichen Lage. Die Sicherheitskräfte stehen im Verdacht, Menschen willkürlich inhaftiert, gefoltert und außergerichtlich hingerichtet zu haben. Die indischen Behörden gehen rigoros gegen Politiker_innen, Menschenrechtsaktivist_innen, Journalist_innen, Regierungskritiker_innen und zivilgesellschaftliche Gruppen vor und greifen zunehmend auf Antiterror- und Sicherheitsgesetze zurück, um Menschen zu inhaftieren und zu verfolgen.

Theresa
Bergmann
Asienreferentin von Amnesty International in Deutschland

Auch die Meinungs- und Pressefreiheit wurde stark eingeschränkt. Journalist_innen können ihrer Arbeit nicht frei nachgehen und müssen mit Einschüchterungen sowie willkürlichen Festnahmen rechnen. "Mittlerweile sind Menschenrechtsverletzungen in erheblichem Ausmaß an der Tagesordnung", sagt der Anwalt Ashraf Wali*: "Es klingt unvorstellbar, aber sie sind zu etwas ganz Gewöhnlichem geworden. Niemand spricht mehr frei."

Der Journalist Khalid Bhat* beschreibt die Lage so: "Wir erleben ständig Folter, Zerstörung von Häusern, nächtliche Razzien, digitale Überwachung, Vorladungen und Anklagen wegen angeblichem Terror aufgrund politischer Aktivitäten sowie Angriffe auf Menschenrechtsaktivist_innen. Seit dem vergangenen Jahr werden Zivil­personen vermehrt als Militante gebrandmarkt und getötet."

Eine Region im Würgegriff

Die Behörden gingen immer härter gegen politische Parteien, die Zivilgesellschaft und die Medien vor, klagt der Journalist. Sie nähmen die Region in den Würgegriff und verfolgten eine Einschüchterungstaktik: "Die Polizei versucht, das ­soziale Gefüge und die Beziehungen in Freundeskreisen und Familien zu manipulieren. Wenn eine Person inhaftiert wird, ist die Angst vor Verfolgung so groß, dass Freunde, Verwandte und Bekannte keine Solidarität zeigen. Außerdem nehmen die Behörden gezielt Personen ins Visier, die Einfluss haben, wie Akademiker_innen, Journalist_innen oder andere Persönlichkeiten, die Machtmissbrauch oder Übergriffe melden oder melden könnten."

Im November 2021 Jahr traf die Repression zum Beispiel den Menschenrechtsaktivisten Khurram Parvez. Sicherheitskräfte drangen am frühen Morgen in seine Wohnung ein, als er, seine Frau und die beiden Kinder noch im Bett lagen. Eine auf Terrorbekämpfung spezialisierte Einheit nahm ihn fest und berief sich dabei auf ein Antiterrorgesetz (Unlawful Activities Prevention Act). Die Kinder seien traumatisiert, sagte seine Frau Sameena Mir später den Medien. Außer seinen Wohnräumen wurden auch die Büros der Organisation durchsucht, für die Parvez arbeitet. Man warf dem 42-Jährigen vor, er sei seit sechs Jahren in Kontakt mit Unterstützer_innen einer militanten pakistanischen Gruppe, was er und seine Kolleg_innen kategorisch zurückwiesen.

Ein Mann mit einer OP-Maske trägt ein T-Shirt und Jeans, steht vor einem Schreibtisch, an dem ein älterer Mann sitzt, der Schal und Brille trägt; die beiden unterhalten sich.

Wir erleben ständig Folter, Zerstörung von Häusern, nächtliche Razzien, digitale Überwachung, Vorladungen und Anklagen wegen angeblichem Terror aufgrund politischer Aktivitäten sowie Angriffe auf Menschenrechtsaktivist_innen. Seit dem vergangenen Jahr werden Zivil­personen vermehrt als Militante gebrandmarkt und getötet.

Khalid
Bhat*
Journalist

Parvez ist Programmkoordinator der Jammu Kashmir Coalition of Civil Society (JKCCS), einer im Jahr 2000 gegründeten Dachorganisation unabhängiger Menschenrechtsorganisationen in der Stadt Srinagar. "JKCCS versucht, den Mächtigen die Wahrheit zu sagen, sei es durch Berichte, Programme, systematische Dokumentation, Rechtsstreitigkeiten oder andere Aktivitäten", heißt es auf der Website. Parvez ist zudem Vorsitzender der Asiatischen Föderation gegen das unfreiwillige Verschwinden (AFAD).

Massiver Druck auf Bevölkerung

Seit mehr als 20 Jahren hat der Aktivist Menschenrechtsverletzungen durch die Streitkräfte im von Indien verwalteten Kaschmir dokumentiert. 2019 legte JKCCS einen ausführlichen Bericht über staatliche Folter vor, gefolgt von einem "Human Rights Review Report", der Menschenrechtsverletzungen durch die Behörden nach der Abschaffung des Sonderstatus öffentlich machte.

Parvez wurde im Jahr 2016 schon einmal inhaftiert, einen Tag, nachdem man ihm untersagt hatte, an einer Sitzung des UN-Menschenrechtsrats teilzunehmen. Er verbrachte 76 Tage im Gefängnis. Während seiner Haft erhielt die AFAD den Asia Democracy and Human Rights Award. Damals war die Grundlage seiner Festnahme ein spezielles Gesetz zur öffentlichen Sicherheit in Jammu und Kaschmir (Public Safety Act). Wie das Antiterrorgesetz ist auch dieses Gesetz vielfach kritisiert worden. "Beide Gesetze ermöglichen eine Inhaftierung ohne formale Anklage", erklärt Ashraf Wali. Ihre Anwendung spiegele "die autoritäre Struktur der Verwaltung" wider: "Die Anforderungen an die Beweise, die der Staat für die Inhaftierung beziehungsweise Verurteilung des Beschuldigten nach ­diesen Gesetzen vorbringen muss, sind außerordentlich niedrig."

Männer und eine Frau sitzen im Freien um einen Plastiktisch herum, auf dem eine Tasche liegt; sie diskutieren.

Das Antiterrorgesetz sieht für die ­"Befürwortung, Beihilfe, Beratung oder Anstiftung zu rechtswidrigen Aktivitäten" eine Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren vor. Das vage formulierte Gesetz ermöglicht es, Menschen ohne Gerichtsverfahren und auf unbestimmte Zeit festzuhalten. Oft verbringen die Beschuldigten Monate, manchmal sogar Jahre im Gefängnis, ohne dass man sie vor Gericht stellt oder schuldig spricht. Das Gesetz zur öffentlichen Sicherheit lässt eine Inhaftierung von bis zu zwei Jahren ohne formelle Anklage oder Gerichtsverfahren zu. Es wird seit den 1990er Jahren missbraucht, um die Bevölkerung unter Druck zu setzen, seit zweieinhalb Jahren wird es jedoch massiv angewendet.

Allein im vergangenen Jahr wurden auf Grundlage der beiden Gesetze etwa 900 Menschen in Kaschmir festgenommen. Nach Angaben der Tageszeitung ­Indian Express wurden seit 2019 in der Region mindestens 2.300 Menschen unter Verweis auf das Antiterrorgesetz inhaftiert. Fast die Hälfte von ihnen sitze noch immer im Gefängnis. Auf Grundlage des Gesetzes zur öffentlichen Sicherheit seien im selben Zeitraum 954 Personen inhaftiert worden, von denen ebenfalls fast die Hälfte immer noch in Haft sei.

Strafloses Militär

Während diese beiden Gesetze die Zivil­bevölkerung unter Druck setzen, schützt ein anderes Regelwerk die Sicherheitskräfte: Der Armed Forces Special Powers Act gewährt ihnen weitgehende Immunität vor Strafverfolgung, selbst bei schweren Menschenrechtsverletzungen. "Es ist ein Werkzeug, das der Armee gegeben wurde, um ungestraft zu arbeiten, ohne sich vor irgendeinem Gericht verantworten zu müssen", sagt Ashraf Wali. Amnesty International stellte bereits 2015 fest, dass kein einziges Mitglied der in Kaschmir stationierten Sicherheitskräfte je wegen Menschenrechtsverletzungen vor einem Zivilgericht angeklagt wurde. Daran hat sich bis heute nichts geändert.

Auch an den Einschränkungen der Meinungs- und Informationsfreiheit hat sich nichts geändert: "Das Internet wird regelmäßig abgeschaltet, oft mehrmals am Tag. Zwar hat der Oberste Gerichtshof den Zugang zum Internet zu einem Grundrecht erklärt, die Regierung hat jedoch einen Weg gefunden, das Urteil zu umgehen", sagt Ashraf Wali. Das treffe auch die Wirtschaft in Kaschmir schwer. Aber trotz Beschwerden von Wirtschafts- und Schulverbänden setze die Regierung die Abschaltungen fort.

Besonders drastisch wird auch die Pressefreiheit in Kaschmir beschnitten. 2020 führte die Regierung neue medienpolitische Maßnahmen ein, die obligatorische Hintergrundüberprüfungen von Journalist_innen umfassen und der Verwaltung die Befugnis erteilten, "Fake News, Plagiate und unethische oder antinationale Aktivitäten" strafrechtlich zu verfolgen. Die Richtlinie enthält vage und weit gefasste Bestimmungen, die für Missbrauch anfällig sind.

Razzien und Flugverbotslisten

So wurden in den vergangenen zwei Jahren mehr als 40 Journalist_innen ­Razzien und polizeilichen Befragungen unterzogen oder auf Flugverbotslisten gesetzt, um zu verhindern, dass sie das Land verlassen. Die Erosion der Medienfreiheit spiegelt sich auch im World Press Freedom Index wider, einer Rangliste der Pressefreiheit. Dort rangiert Indien mittlerweile hinter Myanmar und Afghanis­tan. Zuletzt schlossen die Behörden die größte unabhängige Medienorganisation in Kaschmir, den Kashmir Press Club.

"Die aktuelle Situation ist beängstigend und so noch nie da gewesen", sagt der Journalist Khalid Bhat. Die Behörden versuchten, die Journalist_innen zum Schweigen zu bringen. "Ich habe tätliche Angriffe, ernsthafte Drohungen und Einschüchterungen erlebt und auch gesehen, wie Wohnungen von Kollegen durchsucht und ihre elektronischen Geräte beschlagnahmt wurden." Oft wollten die Behörden durchsetzen, dass nur die offizielle Darstellung von Ereignissen veröffentlicht werde.

DemonstrantInnen, eine junge Frau mit Kopftuch steht für Pressefreiheit ein, sie hält ein Schilder hoch, dort steht: "Blacklist us all..."

Aus diesem Grund wurde auch Fahad Shah festgenommen. Im Februar 2022 rief ein Polizeibeamter in Pulwama den Redakteur des lokalen Nachrichtenportals The Kashmir Walla an und forderte ihn auf, umgehend auf der Polizeiwache zu erscheinen, um "eine Aussage aufzunehmen". Es ginge um eine Schießerei am 30. Januar.

Bei dem Feuergefecht waren nach ­Polizeiangaben mindestens drei Rebellen und ein "hybrider Militanter", also ein als Zivilist getarnter Rebell, getötet worden. Shahs Website hatte eine andere Version der Geschichte veröffentlicht, wonach der vierte Getötete ein Junge im Teenageralter war. Aber auch die Polizeiversion wurde publik gemacht. Als Shah mit Kollegen auf der Wache ankam, teilte die Polizei ­ihnen mit, dass man Anzeige gegen ihn erstattet habe. Der Redakteur wurde unter Verweis auf das Antiterrorgesetz festgenommen.

"Fahad Shah ist in schlechter Verfassung", sagt der Journalist Khalid Bhat. "Laut denen, die ihn im Gefängnis getroffen haben, wurde er wie ein Krimineller behandelt. Er ist massivem Druck durch die Polizeibeamten ausgesetzt." Viele seiner Kollegen seien nach seiner Festnahme befragt worden. Dass ihm Anklage wegen Terror und nicht wegen seiner Berichterstattung drohe, mache seinen Fall noch schlimmer. "Wenn es zu einem normalen Gerichtsverfahren kommt, besteht die Möglichkeit, dass er gegen Kaution freikommen kann." In seinem Fall sei das hingegen so gut wie ausgeschlossen.

*Name von der Redaktion geändert.

Oliver Schulz ist freier Autor und Journalist. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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