Pressemitteilung Aktuell Irak 17. März 2020

Digitale 3D-Rekonstruktion zeigt tödlichen Einsatz von Tränengasgranaten

Im Vordergrund Protestierende mit Flaggen und teilweise erhobenen Händen, Blick Richtung mehrere Wasserwerfer von Sicherheitskräften, die auf die Protestierenden zielen

Recherchen von Amnesty International und SITU Research belegen, dass irakische Polizisten mit für das Militär produzierten Granaten gezielt Demonstrierende getötet haben.

Mit exzessiver Gewalt haben Sicherheitskräfte auf die landesweiten Proteste im Irak reagiert, die im Oktober 2019 ausbrachen. Dabei feuerte die Bereitschaftspolizei in Bagdad spezielle Gasgranaten in die Menge, die für Militäreinsätze entwickelt wurden. Eine exklusive, neue Untersuchung von Amnesty International und der US-amerikanischen Recherche-Agentur SITU Research, die auf der Auswertung von Videomaterial basiert, kommt zu dem Schluss: Die Sicherheitskräfte handelten mit Vorsatz, als sie Dutzende Demonstrierende mit den Gasgranaten töteten oder schwer verstümmelten.

Auf der interaktiven Website "Smokescreen – Iraq’s use of military-grade tear gas grenades to kill protesters" zeigen die beiden Organisationen eine 3D-Rekonstruktion von Tötungen bei den Protesten am Tahrir-Platz und der Jimhouriya-Brücke in Bagdad. In dieser Gegend wurden seit Oktober 2019 mindestens zwei Dutzend Protestierende durch diese Granaten getötet. Die Rekonstruktion basiert auf Videomaterial, das vor Ort aufgenommen wurde.

Auf der Grundlage von ballistischen Simulationen und Raumanalysen kann auf der Smokescreen-Website nachvollzogen werden, wie die Geschosse absichtlich so abgefeuert wurden, dass sie töteten oder schwere Verletzungen verursachten.

Die Analyse von Videomaterial belegt, dass Sicherheitskräfte Tränengas- und Rauchgranaten direkt in die Menge der Protestierenden schossen – offensichtlich mit dem Ziel, Menschen zu töten. Ein solcher Einsatz ist ein klarer Verstoß gegen internationale Menschenrechtsnormen.

Vanessa
Ullrich
Expertin für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International in Deutschland

"Unsere neuesten Ermittlungen haben eine eindeutige Beweislast hervorgebracht: Der irakische Staat ist mit tödlicher Absicht gegen die regierungskritische Protestbewegung und ihre legitimen Forderungen nach der Bekämpfung von Armut und Korruption vorgegangen", sagt Vanessa Ullrich, Expertin für die Region Naher Osten und Nordafrika bei Amnesty International in Deutschland. "Die Analyse von Videomaterial belegt, dass Sicherheitskräfte Tränengas- und Rauchgranaten direkt in die Menge der Protestierenden schossen –offensichtlich mit dem Ziel, Menschen zu töten. Ein solcher Einsatz ist ein klarer Verstoß gegen internationale Menschenrechtsnormen."

Brad Samuels, Gründungspartner bei SITU Research, sagt: "Die für den Bericht ausgewerteten Videos zeigen deutlich den missbräuchlichen und tödlichen Einsatz von Gewalt gegen Zivilpersonen. Für die Untersuchung war es elementar, sich die Wirkung der Waffen in dem städtischen Raum anzuschauen, in dem sie eingesetzt wurden – wir haben die Eigenschaften der Waffen beim Einsatz auf den Straßen, Plätzen und Versammlungsorten untersucht, an denen so viele Menschen getötet wurden."

Tödliches Design

Das Foto zeigt eine Hand im Gummihandschuh, die eine Tränengasgranate in die hält

Tränengasgranaten wie diese wurden Ende Oktober 2019 von irakischen Sicherheitskräften auf Demonstrierende abgefeuert. Das abgebildete Exemplar ist eine 40mm-LV-CS-Granate, die Amnesty-Recherchen zufolge wahrscheinlich von dem bulgarischen Unternehmen "Arsenal" hergestellt wurde.

 

Die neue Untersuchung baut auf einer früheren von Amnesty International auf, bei der diese Art von Gasgranaten – Demonstrierenden nennen sie auch "Raucher" – zum ersten Mal identifiziert werden konnte: Es handelt sich dabei um zwei Granattypen, deren Bauweise auf hochexplosiven, für Kampfeinsätze entwickelte Militärgranaten basiert. Dazu gehören M99- Granaten des serbischen Herstellers Sloboda Ĉaĉak, sowie M651-Tränengasgranaten beziehungsweise M713-Rauchgranaten, die von der Defense Industries Organization (DIO) des Iran hergestellt werden. Unabhängige Waffenexperten haben dieses Ergebnis später bestätigt.

SITU Research simulierte im digitalen Modell das Abfeuern der eingesetzten Granaten in ballistische Gelatine. Diese Methode wird im Bereich der Waffenforschung und Forensik breit eingesetzt, um die Art und Schwere von Schussverletzungen zu ermitteln. Die Auswirkungen der Granaten auf die Gelatine waren denen eines Geschosses aus einer Kaliber-12- Schrotflinte, die speziell für die Jagd entwickelt wurde, verblüffend ähnlich. Mit anderen Worten: Werden diese vermeintlich weniger gefährlichen Granaten in flachem Winkel direkt auf ein Ziel abgefeuert, sind sie genauso tödlich wie schwere Munition, die explizit zum Töten entwickelt wurde.

Video auf Twitter

WARNUNG Dieses Video enthält potenziell verstörende Fotos von Kopfverletzungen durch Granaten.

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Tatsächliche Zahl der Toten vermutlich höher

Die Experten des "Crisis Evidence Lab" von Amnesty International und SITU Research konnten anhand von verifizierten Videos von Augenzeugen rekonstruieren, wie die irakischen Sicherheitskräfte diese Waffen einsetzten. In mehreren Videos ist zu sehen, wie maskierte Männer die Granaten in flachem Winkel direkt in die Menge der Protestierenden schießen. Die Ergebnisse wurden durch Berichte von Demonstrierenden und medizinischem Personal ergänzt. So konnte Amnesty International mehr als zwei Dutzend Todesfälle dokumentieren, die seit dem Ausbruch der Proteste im Oktober 2019 durch diese schweren Granaten – die bis zu zehnmal schwerer sind als herkömmliche Tränengaskartuschen – verursacht wurden. Die tatsächliche Zahl könnte jedoch weit höher liegen.

Nachdem es so schien, als würden seit Ende November weniger Granaten eingesetzt, sind jetzt Bilder aufgetaucht, die den erneuten Einsatz der Granaten im Januar und Februar 2020 zeigen. Amnesty International hat dokumentiert, wie die Sicherheitskräfte seit Beginn der Proteste am 1. Oktober 2019 in Bagdad und den südlichen Provinzen unverhältnismäßige – und in Hunderten Fällen tödliche – Gewalt anwendeten, um Demonstrierende auseinanderzutreiben. Doch trotz des weit verbreiteten willkürlichen Einsatzes von Gewalt wurde praktisch nichts unternommen, um die irakischen Sicherheitskräfte zur Verantwortung zu ziehen.

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