Aktuell Türkei 28. Oktober 2025

Taner Kılıç:"Die Türkei muss die Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit erfüllen"

Porträtfoto von Taner Kılıç, aufgenommen vor einer mit Pflanzen geschmückten Wand. Er lächelt in die Kamera.

Taner Kılıç, der ehemalige Vorsitzende der türkischen Amnesty-Sektion, zu Besuch im Berliner Sekretariat von Amnesty International in Deutschland (Oktober 2025)

Der Anwalt Taner Kılıç war Vorsitzender von Amnesty International in der Türkei, als ihn die Behörden aufgrund absurder Anschuldigungen verhafteten. Nach über 14 Monaten Haft und einem acht Jahre dauernden Strafverfahren wurde er im Februar 2025 freigesprochen. Im Oktober besuchte Kılıç als freier Mann die deutsche Amnesty-Sektion in Berlin. 
 
Fragen: David Fischer

 

Warum hat die türkische Polizei Sie am 6. Juni 2017 festgenommen?  

Die Polizei kam morgens mit einem Haftbefehl und einem Durchsuchungsbefehl zu mir nach Hause. Sie behaupteten, ich hätte eine App namens ByLock benutzt, mit der man verschlüsselt kommunizieren kann. Als ich den Beschluss las, dachte ich: "Okay, ich habe diese App nie benutzt, das ist eindeutig ein Missverständnis. Spätestens morgen werde ich freigelassen." Als Anwalt hatte ich schon viele Menschenrechtsverletzungen gesehen. Aber ich war mir sicher, dass sie mich nicht für etwas verantwortlich machen würden, das ich nicht getan hatte. 

Ich arbeite weiterhin als Anwalt, insbesondere im Bereich Flüchtlingsrecht. Ich setze meinen Kampf für die Menschenrechte fort.

Die Polizei nahm mich zunächst für drei Tage in Gewahrsam und fragte nach der Handy-PIN. Ich gab sie sofort heraus. Die Abteilung für Cyberkriminalität kann sehr leicht feststellen, welche Programme auf einem Telefon installiert waren, auch wenn sie längst gelöscht wurden. Ich glaube, sie haben sofort erkannt, dass die App nicht installiert war.  

Aber sie haben keinen Bericht erstellt. Der Bericht wurde erst 360 Tage später in die Akte aufgenommen. Mit Hilfe von Amnesty hatten wir innerhalb eines Monats ein Sachverständigengutachten vorgelegt. Aber obwohl die Behörden es kannten, haben sie mich nicht freigelassen. Insgesamt war ich 14 Monate und zehn Tage im Gefängnis.  
 
Wie waren die Bedingungen im Gefängnis?  
 
Das größte Problem in türkischen Haftanstalten war und ist immer noch die Überbelegung. Manchmal sind die Zellen dreimal so voll, wie sie eigentlich sein sollten. Als ich verhaftet wurde, herrschte außerdem der Ausnahmezustand. Als politische Gefangene waren viele unserer Rechte stark eingeschränkt: Besuche, Telefonate, Zugang zu einem Rechtsbeistand. 

Einmal pro Woche durften wir eine Stunde lang mit einem Anwalt sprechen. Dabei hat uns ein Wachmann beobachtet. Anfangs durften wir nicht einmal die Gesetze einsehen. Man hat verhindert, dass uns jemand das türkische Strafgesetzbuch gibt, also die Gesetze, auf deren Grundlage wir verhaftet wurden. 

Amnesty-Posting auf X (ehemals Twitter):

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Amnesty und andere Menschenrechtsorganisationen haben sich damals für Ihre Freilassung eingesetzt. Was hat das für Sie bedeutet?   
 
Die Vorwürfe gegen mich waren absurd und ungerecht. Dennoch wurde in Fernsehen, Zeitungen und sozialen Medien eine Kampagne gegen mich geführt. Am liebsten hätte ich alle Menschen auf der Straße angehalten – ob ich sie kannte oder nicht – und ihnen gesagt: "Was über mich erzählt wird, ist nicht wahr. Das sind Lügen!" 

Aber ich war im Gefängnis. Ich hatte keinen Kontakt zur Außenwelt. Ich hatte keine Möglichkeit, mich zu äußern. In dieser Zeit, in der meine Stimme unterdrückt und zum Schweigen gebracht wurde, war Amnesty meine Stimme. Psychologisch war das für mich sehr wichtig.  
 
Ihr Fall war keine Ausnahme.  
 
Nein. Die Vorwürfe im Zusammenhang mit der ByLock-App wurden benutzt, um Menschen für schuldig zu erklären. Es gab viele ähnliche Fälle. Wir kennen die genaue Zahl nicht, aber dieser Vorwurf war in den Akten von Zehntausenden, wenn nicht Hunderttausenden Menschen zu finden. Mein Fall hat viel Aufmerksamkeit erregt. Amnesty, die Ausschüsse der Vereinten Nationen, das Europäische Parlament und verschiedene Außenministerien habe Erklärungen abgegeben, auch das deutsche Außenministerium. 

Aber wenn es in meinem Fall schon so viele Ungereimtheiten gab, stellen Sie sich einmal die anderen Fälle vor. Ich habe im Gefängnis viele Menschen kennengelernt und als Anwalt zahlreiche Akten geprüft. Damals wurde jeder, der vor den Richter gestellt wurde, sofort ins Gefängnis gesteckt. 

Ist der Druck auf Menschenrechtsaktivisten heute noch immer so hoch?  
 
Die Zahl der Verhaftungen ist heute deutlich zurückgegangen, das muss man sagen. Es wäre jedoch verfrüht, zu behaupten, dass politische Prozesse in der Türkei fair sind. Das haben schließlich auch der Oberste Gerichtshof der Türkei, der Yargıtay, und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in meinem Fall festgestellt. 
 
Nach dem Putschversuch von 2016 hat der Druck auf die Zivilgesellschaft und die Menschenrechtsarbeit massiv zugenommen. Viele Organisationen wurden geschlossen, es gab Strafverfolgungen und Verhaftungen. Der Druck machte es vielen Menschen unmöglich, ihre Arbeit fortzusetzen. 

Vor allem diejenigen, die in staatlichen Institutionen arbeiteten oder arbeiten wollten, traten aus Vereinen aus, um sich selbst zu schützen. Das hat die zivilgesellschaftlichen und menschenrechtlichen Solidaritätsnetzwerke erheblich geschwächt. 

Menschen halten Schilder hoch und ein Mann spricht in ein Megafon

Amnesty-Aktion für die Freilassung von Taner Kılıç am 6. Juni 2018 in Berlin

Wie geht es für sie jetzt weiter?  
 
Da ich in meinem Fall endlich freigesprochen wurde, kann ich meinen Beruf weiterhin ausüben. Das heißt, ich arbeite als Anwalt, insbesondere im Bereich Flüchtlingsrecht – sowohl ehrenamtlich als auch beruflich. Ich setze meinen Kampf für die Menschenrechte fort. 

Ich möchte diese Arbeit nicht aufgeben, denn genau das ist das Ziel der Repressionen gegen uns. Sie wollen uns davon abhalten, diese Arbeit zu tun. Die Botschaft lautet: "Setzt euch nicht für Menschenrechte ein, sonst ergeht es euch wie Taner Kılıç". 
 
Aber ich möchte auch klarstellen: Ich bin keine politische Persönlichkeit, ich organisiere keine politischen Aktivitäten oder öffentlichen Erklärungen und habe auch nicht vor, dies zu tun. Ich bin ein Verfechter der Menschenrechte und der Rechte von Geflüchteten und werde dies auch bleiben. 

Was fordern Sie von der türkischen Regierung?   
 
Die Türkei ist ein Rechtsstaat, sie muss die Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit erfüllen. Selbst wenn in einem Land alles zusammenbricht, müssen Recht und Justiz fair, unabhängig und unparteiisch sein. Das brauchen wir alle. Wir müssen zu den Prinzipien eines Rechtsstaats zurückkehren. 

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