Aktuell Libanon 26. August 2025

Libanon: Israels Angriffe auf zivile Infrastruktur könnten Kriegsverbrechen darstellen

Diese Luftaufnahme zeigt, wie mehrere Gebäude durch Explosionen zerstört werden.

Ausschnitt aus einem Video, das im November 2024 auf Social Media gepostet wurde. Es zeigt die Zerstörung einer Moschee und weiterer Gebäude im südlibanesischen Dorf Dhayra mittels Sprengsätze, die von der israelischen Armee gelegt wurden.

Israel hat im Süden des Libanon seit Beginn der Bodeninvasion im Oktober 2024 gezielt zivile Infrastruktur zerstört. Ein neuer Amnesty-Bericht dokumentiert über 10.000 zerstörte Objekte. Diese Angriffe müssen als mögliche Kriegsverbrechen untersucht werden. 

Wohnhäuser, Moscheen, Friedhöfe, Straßen und Parks: Das israelische Militär hat im südlichen Libanon seit Oktober 2024 großflächig und gezielt zivile Objekte und landwirtschaftliche Flächen zerstört.  

Amnesty International fordert in einem neuen Bericht "Nowhere To Return: Israel’s Extensive Destruction of Southern Lebanon", diese Angriffe als Kriegsverbrechen zu untersuchen.  

Der Bericht analysiert den Zeitraum ab Beginn der israelischen Bodeninvasion im Libanon (1. Oktober 2024) bis zum 26. Januar 2025. Er kommt zu dem Schluss, dass in dieser Zeit mehr als 10.000 Objekte in insgesamt 24 Gemeinden schwer beschädigt oder zerstört wurden.  

Zeinab*, die ihre Kommune Kfar Kila im Südlibanon Ende 2023 infolge von israelischen Luftangriffen verlassen musste, kehrte im November 2024 zum ersten Mal wieder zurück. Sie sagte gegenüber Amnesty: "Ich kann die massive Zerstörung, die totale Verwüstung nicht in Worte fassen... Ich konnte weder mein Haus noch irgendwelche anderen Häuser finden. Es gab dort nur Schutt, Trümmer und Verwüstung." 

Das Foto zeigt mehrere Gebäude, die durch Explosionen zerstört werden. Flammen und Rauch und Geröll steigen meterhoch in die Luft.

Der Video-Ausschnitt zeigt, wie mehrere Gebäude im südlibanesischen Dorf Dhayra durch Explosionen zerstört werden (undatiertes Foto).

Israelische Streitkräfte setzten bei den Zerstörungen unter anderem manuell ausgelegte Sprengsätze und Bulldozer ein. Ein großer Teil dieser Verwüstung fand nach dem vereinbarten Waffenstillstand zwischen Israel und der Hisbollah am 27. November 2024 statt.  

"Das israelische Militär zerstörte im südlichen Libanon Wohnhäuser und andere zivile Objekte sowie landwirtschaftliche Flächen, wodurch ganze Landstriche unbewohnbar und unzählige Menschen ihrer Lebensgrundlage beraubt wurden", so Erika Guevara Rosas, Direktorin für Recherche, Advocacy, Politik und Kampagnen bei Amnesty International. 

"Das von uns analysierte Beweismaterial weist eindeutig darauf hin, dass israelische Truppen in der Region absichtlich eine Spur der Verwüstung hinterließen. Sie legen damit eine erschütternde Geringschätzung für die Menschen an den Tag, deren Heimat sie dem Erdboden gleichgemacht haben. Wo immer diese zerstörerischen Handlungen vorsätzlich oder rücksichtslos begangen wurden, müssen sie als Kriegsverbrechen untersucht werden." 

Warum verstoßen die Zerstörungen israelischer Streitkräfte im Libanon gegen das Völkerrecht? 

  • Die Zerstörungen wurden von den israelischen Streitkräften vorgenommen, nachdem sie bereits die Kontrolle über die jeweiligen Gebiete erlangt hatten – also nicht im Rahmen von Kampfhandlungen.
  • In einem solchen Kontext verbietet das humanitäre Völkerrecht die Zerstörung von zivilen Einrichtungen. Es sei denn, es besteht eine zwingende militärische Notwendigkeit.
  • Die Untersuchung von Amnesty International ergab, dass das israelische Militär in vielen Fällen zivile Objekte zerstörte, ohne dass dafür eine ersichtliche militärische Notwendigkeit bestand – was folglich gegen das humanitäre Völkerrecht verstieß. 

Welche Beweise hat Amnesty International gesammelt? 

Das Crisis Evidence Lab von Amnesty International stützte sich bei der Untersuchung auf zahlreiche Beweise – darunter 77 verifizierte Videos und Fotos sowie Satellitenbilder. In den Videos ist zu sehen, wie israelische Streitkräfte Sprengsätze in Wohnhäusern legen, Straßen und Fußballplätze aufbaggern und Parks und religiöse Stätten dem Erdboden gleichmachen. In einigen Fällen filmten sich Soldat*innen dabei, wie sie jubelnd die Zerstörung feiern. 

Das Crisis Evidence Lab prüfte außerdem Stellungnahmen des israelischen Militärs und der Hisbollah auf ihren jeweiligen offiziellen Kanälen und analysierte Nachrichtenberichte sowie Informationen anderer Organisationen. Amnesty International sprach darüber hinaus mit elf Bewohner*innen von Ortschaften an der südlibanesischen Grenze. 

Das Foto zeigt einen Bagger auf einem Fußballplatz. Er reißt mit seiner Schaufel einen hohen Zahn ein.

Ausschnitt aus einem auf Social Media veröffentlichten Video. Es zeigt, wie Angehörige der israelischen Armee mit einem Bagger einen Fußballplatz im libanesischen Dorf Kfar Kila zerstören (undatiertes Foto).

Auch das Wohnhaus der 66-jährigen Adiba Finsh in der Kommune Dhayra im Südlibanon sowie die Häuser ihrer sechs Söhne wurden zerstört. Sie sagte Amnesty International: "Israel hat sie in die Luft gejagt. Allesamt. Und sie haben die Explosion gefilmt. Sogar die Häuser ... Sie haben ein Video von sich gemacht, in dem sie von fünf bis eins runterzählten, und bei der Explosion riefen sie: 'Wow! Juhu!'. Ich sehe mir dieses Video jeden Tag an. Und jedes Mal sage ich zu dem Mann, der 'Juhu' ruft: 'Ja, tolle Leistung'." 

Wie rechtfertigt das israelische Militär die Angriffe? 

Das israelische Militär gab an, dass zivile Objekte in manchen Fällen zerstört wurden, um zukünftige Angriffe zu verhindern. Einige dieser Gebäude seien in der Vergangenheit von Hisbollah-Kämpfer*innen genutzt worden, hätten als Waffenlager fungiert oder befanden sich über Tunneln.  

Nach Einschätzung  von Amnesty International erfüllt die großflächige Zerstörung ziviler Objekte mit dem Ziel, eine gegnerische Partei an zukünftigen Angriffen zu hindern, nicht das Kriterium einer zwingenden militärischen Notwendigkeit nach dem humanitären Völkerrecht. Die vorherige Nutzung eines zivilen Gebäudes durch eine Konfliktpartei macht es nicht automatisch zu einem militärischen Ziel.  

Amnesty International wandte sich am 27. Juni 2025 an die israelischen Behörden, um Fragen zu der Verwüstung zu stellen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts lag noch keine Antwort vor. 

Großflächige Verwüstung statt "lokal begrenzter Angriffe" 

Als das israelische Militär am 1. Oktober 2024 seine Bodeninvasion im Libanon begann, hieß es auf offiziellen Kanälen, man würde "auf der Grundlage präziser Informationen lokal begrenzte, eingeschränkte und gezielte Angriffe auf Ziele und Infrastruktur der terroristischen Hisbollah" vornehmen. Die Recherchen von Amnesty International zeigen hingegen großflächige Verwüstung entlang der 120 Kilometer langen Grenze zu Israel auf.  

Die Satellitenbilder zeigen, dass die Kommunen Yarin, Dhayra und Boustane im Distrikt Tyros am stärksten betroffen waren: Dort wurden im untersuchten Zeitraum mehr als 70 Prozent der Gebäude zerstört. In sieben weiteren Kommunen wurden mehr als 50 Prozent der Gebäude dem Erdboden gleichgemacht.  

Infografik mit einer Karte, auf der Dutzende Gebäude markiert sind.

Satellitenaufnahme des libanesischen Dorfs Kfar Kila. Rot markiert sind Gebäude, die durch die israelische Armee beschädigt oder komplett zerstört wurden (Quelle: Israelische Streitkräfte mittels YouTube und Google Earth, undatiertes Foto).

Analyse: So wurden die Kommunen Kfar Kila, Maroun el Ras, Odeisseh, Aita Ash-Shaab und Dhayra zerstört 

Amnesty International ist nicht in der Lage zu beurteilen, ob jedes einzelne der mehr als 10.000 Gebäude rechtswidrig beschädigt oder zerstört wurde. Allerdings hat die Organisation in fünf Kommunen eine detaillierte Analyse der von den israelischen Streitkräften angerichteten Schäden vorgenommen: Kfar Kila, Maroun el Ras, Odeisseh, Aita Ash-Shaab und Dhayra.  

Kfar Kila

Satellitenaufnahmen zeigen, dass in Kfar Kila zwischen dem 26. September 2024 und dem 27. Januar 2025 mehr als 1.300 Objekte und knapp 54 Hektar Obstplantagen schwer beschädigt oder zerstört wurden. Bauten, die weniger als 500 Meter von der Grenze entfernt standen, wurden mehrheitlich schwer beschädigt oder zerstört.  

Am 28. Oktober 2024 veröffentlichte das israelische Militär eine Zusammenstellung von Videos, die in Kfar Kila gefilmt worden waren, darunter auch Videos von Zerstörungen durch manuell gelegte Sprengsätze. Die Soldat*innen in den Aufnahmen verhalten sich entspannt und scheinen das Gebiet unter ihrer Kontrolle zu haben. Am 14. November 2024 folgte ein Video mit Beweisen für mutmaßlich gefundene Tunnel und Waffen, begleitet von einer Infografik, die "die Standorte der terroristischen Infrastruktur der Hisbollah" zeigte. 

Ein Abgleich der Infografik mit Boden- und Satellitenbildern macht deutlich, dass die Zerstörung ziviler Objekte weit über die Gebäude hinausging, die angeblich die Infrastruktur der Hisbollah beherbergten. Die Auswertung von Amnesty International ergab, dass die Gegend spätestens ab dem 28. Oktober 2024 zumindest teilweise unter der Kontrolle des israelischen Militärs stand. Dies wurde von Journalist*innen vor Ort bestätigt. Auch nach Inkrafttreten des Waffenstillstands am 27. November 2024 gingen die Zerstörungen weiter. 

Amnesty International dokumentierte auch die Zerstörung eines Fußballplatzes Anfang November 2024. Israelische Streitkräfte verwüsteten den Sportplatz mit einem Bagger und hinterließen gleichzeitig auf dem ehemaligen Parkplatz einen mit einer Baggerschaufel gezogenen Davidstern – ein weiterer Hinweis darauf, dass es sich um unnötige Zerstörung handelte.  

Interaktive Visualisierung der Zerstörung in Kfar Kila

Maroun el Ras

Insgesamt wurden zwischen dem 29. September 2024 und dem 30. Januar 2025 in Maroun el Ras 700 Gebäude zerstört oder schwer beschädigt. Das israelische Militär setzte die Demolierungen in Maroun el Ras bis Ende Januar 2025 fort, zwei Monate nach Inkrafttreten des Waffenstillstandsabkommens. 

Zu den rechtswidrig zerstörten Objekten gehörte auch der "iranische Garten", der ein Fußballfeld und einen Spielplatz umfasste. Am 8. Oktober 2024 wurde in den Sozialen Medien ein Video veröffentlicht, in dem Soldat*innen in den Ruinen des Gartens die israelische Flagge hissen. In den folgenden Tagen wurden Aufnahmen veröffentlicht, in denen zu sehen war, wie ein Bulldozer Bäume, Sträucher und Wegeleuchten vernichtete und ein Bagger eine Statue zerstörte. 

Interaktive Visualisierung der Zerstörung in Maroun el Ras

Odeisseh

Mehr als 580 Objekte wurden in Odeisseh zwischen dem 26. September 2024 und dem 27. Januar 2025 schwer beschädigt oder zerstört, darunter auch eine Moschee und ein Friedhof. Das israelische Militär setzte die Zerstörungen in Odeisseh bis Mitte Januar 2025 fort, obwohl es bereits die volle Kontrolle über das Gebiet erlangt hatte. 

Am 27. November 2024 wurden in den Sozialen Medien acht Videos veröffentlicht, die zeigen, wie Dutzende Gebäude durch manuell ausgelegte Sprengsätze demoliert werden, darunter auch das Haus der Familie Baalbaki. Satellitenbilder zeigen, dass das Wohnhaus der Familie zwischen dem 21. und 23. Oktober 2024 zerstört wurde, zusammen mit einem Dutzend weiterer Gebäude und mehr als zwei Hektar umliegender Obstgärten.  

Interaktive Visualisierung der Zerstörung in Odeisseh

Aita Ash-Shaab

In Aita Ash-Shaab zerstörte das israelische Militär zwischen dem 26. September 2024 und dem 30. Januar 2025 etwa 1.000 Gebäude, viele davon mit manuell gelegten Sprengsätzen oder Bulldozern. 

Zwischen dem 13. und 25. Oktober 2024 wurden offenbar weite Teile der Ortschaft in Schutt und Asche gelegt, darunter auch vier Moscheen. Ein Video, das ein Soldat am 23. Oktober 2024 auf seinem privaten Social-Media-Account veröffentlichte, zeigt, wie Soldat*innen auf Hebräisch "Möge dein Dorf brennen" singen, während Bagger Gebäude abreißen.  

Am 29. Oktober 2024 veröffentlichte das israelische Militär eine Karte von Aita Ash Shaab mit "terroristischen Standorten", die durch rote Punkte gekennzeichnet waren, ohne dass die Bedeutung der einzelnen Punkte näher ausgeführt wurde. Die tatsächliche Verwüstung ging weit über die auf der Karte markierten roten Punkte hinaus. Die Zerstörungen wurden in mehreren Wellen vorgenommen und die letzte Welle erfolgte zwischen dem 14. und 18. Januar 2025, während der vereinbarten Waffenruhe. 

Hajj Muhammad Srour, der Bürgermeister von Aita Ash Shaab, sagte: "Die Zerstörung ist unbeschreiblich und beispiellos ... Man hat das Gefühl, dass sie keinem anderen Zweck diente, als großen Schaden anzurichten, als ob jemand versucht, Chaos zu stiften ... Wir haben unser gesamtes ziviles Eigentum verloren ... Wohnhäuser, landwirtschaftliche Flächen, Lebensgrundlagen, Geschäfte, Restaurants ... Die öffentlichen Plätze, die Orte in jedem Viertel, an denen sich die Leute vor den Geschäften trafen, der Fußballplatz für die Kinder und Jugendlichen... alles weg." 

Interaktive Visualisierung der Zerstörung in Aita Ash-Shaab

Dhayra

Zwischen dem 4. Oktober 2024 und dem 30. Januar 2025 wurden in Dhayra 264 Gebäude zerstört, das sind 71 Prozent der kompletten Bausubstanz. Außerdem wurden gut 18 Hektar landwirtschaftlicher Flächen vernichtet. Die israelischen Streitkräfte setzten die Zerstörungen in Dhayra bis Mitte Januar 2025 fort. 

Am 13. Oktober 2024 veröffentlichte ein israelischer Journalist Videoaufnahmen, die zeigen, wie die Ahel-El-Quran-Moschee am Stadtrand mit manuell gelegten Sprengsätzen zerstört wurde. Satellitenbilder bestätigen, dass die Moschee und mehrere umliegende Bauten zwischen dem 11. und 13. Oktober 2024 zerstört wurden.  

Interaktive Visualisierung der Zerstörung in Dhayra 

Amnesty-Posting auf X (ehemals Twitter):

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Was fordert Amnesty International? 

"Angesichts des Ausmaßes der Zerstörung durch das israelische Militär haben viele Menschen aus dem Südlibanon nichts, wohin sie zurückkehren können", so Erika Guevara Rosas. 

"Die israelischen Behörden müssen umgehend vollständige und angemessene Wiedergutmachung für alle Personen leisten, die von Kriegsverbrechen und Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht betroffen sind – das gilt sowohl für Einzelpersonen als auch für ganze Gemeinschaften. Auch die Familien derjenigen, die durch Israels rechtswidriges Verhalten Schaden erlitten haben, müssen entschädigt werden."  

Die libanesische Regierung sollte unverzüglich alle rechtlichen Möglichkeiten ausloten, einschließlich der Einrichtung eines nationalen Entschädigungsmechanismus und der Forderung nach Wiedergutmachung von den Konfliktparteien. Die Regierung sollte außerdem neu in Erwägung ziehen, dem Internationalen Strafgerichtshof die Zuständigkeit zu übertragen für die Untersuchung und Verfolgung von Verbrechen unter dem Römischen Statut, die auf libanesischem Hoheitsgebiet begangen wurden. 

Alle Staaten sollten unverzüglich alle Waffenlieferungen und andere Formen von militärischer Unterstützung an Israel aussetzen, da ein erhebliches Risiko besteht, dass diese Waffen dazu eingesetzt werden könnten, schwere Verstöße gegen das Völkerrecht zu begehen oder zu ermöglichen. 

 

*Name geändert

 

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