Gaza-Stadt: Massenvertreibungen verschärfen humanitäre Krise
Eine palästinensische Familie flüchtet aufgrund der angekündigten israelischen Offensive mit ihren wenigen verbliebenen Habseligkeiten aus Gaza-Stadt (2. September 2025).
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Die humanitäre Situation für die Palästinenser*innen in Gaza-Stadt verschlechtert sich weiter dramatisch. Das israelische Militär hat am Dienstag die komplette Stadt zur "Evakuierungszone" erklärt. Alle Zivilpersonen sollen demnach in den südlichen Gazastreifen flüchten. Doch viele der knapp eine Million Menschen in Gaza-Stadt können nicht fliehen. Im ganzen Gazastreifen gibt es keinen einzigen sicheren Ort, an den sie sich retten könnten. Eine solche gewaltsame Vertreibung von Palästinenser*innen durch das israelische Militär ist nicht nur grausam und unmenschlich – es verstößt gegen das humanitäre Völkerrecht und stellt ein Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.
Noor ist eine ältere Frau und am Ende ihrer Kräfte (Name von der Redaktion geändert). Zu oft schon musste sie vor der Gewalt der israelischen Armee im Gazastreifen flüchten. "Wir wurden allein in der vergangenen Woche zweimal vertrieben", sagte sie gegenüber Amnesty. "Wir haben nicht die Mittel, um in den Süden zu gehen.Und wir sind es leid, gezwungen zu werden, diese Tortur immer wieder durchzuleben."
Wie Noor geht es hunderttausenden Menschen in Gaza-Stadt, die sich der drohenden Einnahme durch das israelische Militär schutzlos ausgesetzt sehen. Am Dienstag ließ das Militär Flugblätter über der Stadt abwerfen, in denen die Bevölkerung aufgefordert wurde, Gaza-Stadt in Richtung Süden zu verlassen.
Das israelische Militär wirft über Gaza-Stadt Flugbätter ab mit der Aufforderung, aus der Stadt zu flüchten (9. September 2025).
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Noor kümmert sich um ihre achtjährige verletzte Enkelin, deren Eltern im vergangenen Mai bei einem israelischen Luftangriff getötet wurden. "Sie ist alles, was ich noch habe, und ich habe alles versucht, um sie zu beschützen", sagt sie.
In den vergangenen Wochen hat das israelische Militär seine Angriffe intensiviert und sich dabei zunehmend auf Gaza-Stadt konzentriert. Bei Militärangriffen in den Stadtvierteln Sheikh Radwan, Zeitoun und Shejaiyah wurden zahlreiche Zivilist*innen getötet und Häuser sowie andere zivile Objekte zerstört. Die Mobilisierung von Reservist*innen für die israelische Armee sowie die jüngste "Evakuierungsankündigung" deuten auf eine baldige, umfassende Einnahme der Stadt hin.
"Der vom israelischen Militär erteilte Befehl zur Massenvertreibung der Bewohner*innen von Gaza-Stadt ist grausam, ungesetzlich und verschärft die Lebensbedingungen, die Israel den Palästinensern auferlegt", sagt Heba Morayef, Regionaldirektorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
"Für Hunderttausende Palästinenser*innen in Gaza-Stadt, die seit fast zwei Jahren unerbittlichen Bombardierungen ausgesetzt sind, während sie hungern und in provisorischen Lagern zusammengepfercht sind oder in extrem überfüllten Gebäuden Zuflucht suchen, ist dies eine verheerende und unmenschliche Wiederholung des Massenvertreibungsbefehls, der am 13. Oktober 2023 für ganz Nord-Gaza erlassen wurde."
Zerstörung eines Hochhauses in Gaza-Stadt durch einen israelichen Luftangriff (5. September 2025)
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Massenvertreibungsbefehle als militärische Taktik
Tatsächlich sind die wiederholten Massenvertreibungsbefehle ein zentrales Element der israelischen Militäroperation. Mit einer Anordnung vom 26. August 2025 wurden erneut über 200.000 verbliebene Einwohner*innen aufgefordert, Gaza-Stadt zu verlassen und sich in das Gebiet al-Mawasi im Süden zu begeben. Doch diese Anordnungen sind aus mehreren Gründen unmenschlich und grausam:
- Unzureichende Aufnahmebedingungen: Die Vereinten Nationen und andere humanitäre Organisationen haben wiederholt darauf hingewiesen, dass das ausgewiesene Gebiet al-Mawasi nicht über die notwendige Infrastruktur verfügt, um Hunderttausende Vertriebene aufzunehmen. Es mangelt an Wasser, Unterkünften und medizinischer Versorgung.
- Fehlende Sicherheit: Das als Evakuierungszone deklarierte Gebiet wurde selbst wiederholt zum Ziel israelischer Angriffe, was das Konzept einer "sicheren Zone" untergräbt.
- Verstoß gegen das Völkerrecht: Die Zwangsumsiedlung von Zivilist*innen innerhalb eines besetzten Gebiets stellt einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht dar und kann als Kriegsverbrechen gewertet werden. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat erklärt, dass eine Massenevakuierung unter den gegebenen Umständen nicht im Einklang mit dem Völkerrecht durchführbar ist.
Diese Befehle zur Massenvertreibung dienen effektiv dazu, die Stadt zu entvölkern und bereiten so die militärische Übernahme vor.
"Gaza-Stadt, die ein Jahrtausende altes Erbe besitzt und bereits verheerende Zerstörungen und Schäden erlitten hat, steht nun vor der vollständigen Auslöschung", sagt Heba Morayef. "Es ist offensichtlich, dass Israel entschlossen ist, sein Ziel der physischen Zerstörung der Palästinenser*innen im Gazastreifen zu verfolgen."
Eine Palästinenserin sitzt in Gaza-Stadt neben einer Gruppe Menschen, die vor der Küche einer Hilfsorganisation für Essen anstehen (26. Juni 2025).
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Die Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung in Gaza-Stadt
Für die in Gaza-Stadt verbliebenen oder dorthin geflohenen Zivilist*innen ist die Lage katastrophal. Aussagen von Zeug*innen, die Amnesty International gesammelt hat, belegen eindrücklich, wieso eine Flucht für sie oft unmöglich ist:
- Mehrfache Vertreibung: Ein Großteil der Betroffenen wurde bereits mehrfach vertrieben und lebt in überfüllten Notunterkünften ohne Zugang zuden grundlegendsten Gütern, um ihre Grundbedürfnisse zu stillen.
- Unmöglichkeit der Flucht: Viele Menschen können nicht fliehen, weil sie verletzt, krank, alt oder behindert sind. Hinzu kommen die untragbar hohen Kosten für Transport und eine notdürftige Unterkunft, die für die meisten Familien nach monatelangem Konflikt unbezahlbar sind.
Ein Kinderarzt berichtete Amnesty, dass er vor der Wahl stehe, seine unterernährten Patienten*innen zurückzulassen oder selbst einer ungewissen Vertreibung ins Auge zu sehen: "Ich möchte meine Patient*innen nicht verlassen, die kleinen Kinder, deren Körper zu zerbrechlich sind, um noch eine weitere Vertreibung zu verkraften. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es ist, als müsste man zwischen zwei Toden wählen: dem Tod durch Bombardierung oder dem langsamen Tod der Vertreibung, ohne zu wissen, wohin man gehen soll."
Eine Hilfsorganisation verteilt Essen an hungernde Menschen in Gaza-Stadt im palästinensischen Gazastreifen (14. August 2025).
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Welche Pläne verfolgt die israelische Regierung?
Die vergangenen Tage und Wochen haben gezeigt, dass die israelische Regierung ihre Politik der Zerstörung fortsetzt. Dazu zählen Befehle zur Massenvertreibung ebenso wie die Zerstörung dutzender Hochhäuser im Gazastreifen, in denen Tausende Familien Zuflucht gesucht hatten. Die Regierung ignoriert weiterhin Warnungen humanitärer und Menschenrechtsorganisationen vor den katastrophalen Folgen dieser Operation und widersetzt sich den Anordnungen des Internationalen Gerichtshofs, der Zivilbevölkerung in Gaza Hilfe und Schutz zukommen zu lassen. All dies zeigt die Absicht der israelischen Regierung, den Völkermord in Gaza fortzusetzen.
"Schändlicherweise profitieren Unternehmen und Investoren weiterhin vom Völkermord Israels", so Heba Morayef. "Staaten und Unternehmen, die Israel weiterhin mit Waffen beliefern, riskieren, sich mitschuldig daran zu machen. Alle, die Einfluss auf Israel haben, müssen auf eine sofortige Beendigung der Völkermordkampagne Israels und einen uneingeschränkten humanitären Zugang zu den Zivilisten im Gazastreifen drängen."