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Kritik am Ukraine-Krieg: Russische Behörden verfolgen auch Kinder und Familien
Varvara (Varya) Galkina musste mit ihrer Mutter Elena Jolicoeur aus Russland fliehen, weil sie im Oktober 2022 als Zehnjährige den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kritisiert hatte (Aufnahme vom April 2024).
© Amnesty International, Foto Tori Ferenc
Festnahmen, Hausdurchsuchungen, erzwungene Familientrennungen und strafrechtliche Verfolgung: Die russischen Behörden nehmen bei ihrem Vorgehen gegen Andersdenkende verstärkt auch Kinder und ihre Familien ins Visier – insbesondere diejenigen, die sich gegen den Angriffskrieg in der Ukraine stellen. Dies zeigt ein neuer Amnesty-Bericht.
Wer in Russland den Krieg gegen die Ukraine kritisiert, muss mit Verfolgung und Unterdrückung rechnen. Von diesen Repressionen sind auch immer mehr Kinder und ihre Familien betroffenen, wie der Bericht Russia: "Your children will go to an orphanage": Children and the Crackdown on Protest dokumentiert: Kindern wird das Recht auf freie Meinungsäußerung verwehrt und sie werden mit Kriegspropaganda indoktriniert. Sie werden außerdem instrumentalisiert, um Druck auf kriegskritische Erwachsene auszuüben. Hierfür werden die Kinder von ihren Eltern getrennt oder die Behörden drohen den Eltern mit dem Entzug des Sorgerechts. In manchen Fällen wurden Kinder den Eltern weggenommen und in staatlichen Einrichtungen untergebracht.
"Zwar spricht der Kreml gerne über Familienwerte, doch in der Praxis beutet er die Bindung zwischen Kindern und ihren Eltern schamlos aus, um kritische Stimmen zu unterdrücken. In diesem politisch motivierten Vorgehen gegen Kinder werden Schulen und Lehrende instrumentalisiert, um sich willkürlich in das Leben von Menschen einzumischen. Die Schulen indoktrinieren die Kinder mit falschen, von der Regierung vorgeschriebenen Narrativen und melden Andersdenkende direkt der Polizei und dem Geheimdienst", so Oleg Kozlovsky, Russland-Experte bei Amnesty International. Vor allem diejenigen, die sich gegen den Krieg aussprechen, würden Gefahr laufen, dass sie von ihrer Familie getrennt werden oder dass ihren Eltern das Sorgerecht entzogen wird. "Selbst das entfernte Risiko solcher Repressalien hält viele Menschen aus Angst davon ab, sich frei zu äußern", sagt Oleg Kozlovsky.
Die Behörden wenden unterschiedliche repressive Mittel an, um gegen kriegskritische Kinder und ihre Eltern beziehungsweise ihre Betreuer*innen vorzugehen, dazu gehören: Heimunterbringungen, willkürliche Festnahme, Hausdurchsuchungen und die strafrechtliche Verfolgung von Kindern. Auch Bildungseinrichtungen werden für die Unterdrückung Andersdenkender instrumentalisiert.
All das hat bei Kindern bereits zu schwerwiegenden psychischen und körperlichen Gesundheitsfolgen geführt, einschließlich stressbedingter Erkrankungen und Traumata. Wenn Eltern oder Erziehungsberechtigte verfolgt werden, hat dies finanzielle Konsequenzen für Familien. Dies kann wirtschaftliche Not und die Beeinträchtigung der Bildung der Kinder zur Folge haben. In manchen Fällen sind Familien gezwungen, Russland zu verlassen, um der Strafverfolgung oder einer erzwungenen Familientrennung zu entgehen.
Varvara (Varya) Galkina
Am 5. Oktober 2022 wurde die zehnjährige Varvara (Varya) Galkina von der Polizei in Moskau wegen ihres WhatsApp-Profilbildes verhört. Das Bild zeigte eine Zeichnung im Anime-Stil und signalisierte Solidarität mit der Ukraine. Die Polizei bedrohte ihre Mutter Elena Jolicoeur und führte eine Hausdurchsuchung bei ihr durch. Nachdem Elena zur Teilnahme an einem "präventiven" Programm für "Eltern, die ihre Pflichten nicht ordnungsgemäß erfüllen" verpflichtet wurde, floh sie mit ihren beiden Töchtern aus Angst vor weiterer Verfolgung ins Ausland.
Yegor Balazeykin
Am 22. November 2023 wurde Yegor Balazeykin aus St. Petersburg im Nordwesten Russlands vor einem Militärgericht zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. Er hatte zehn Monate zuvor Flaschen mit Dieselkraftstoff und Lackbenzin auf zwei Rekrutierungszentren der Armee geworfen. Dies ist in Russland eine weit verbreitete Form des Protests gegen den Krieg in der Ukraine. Zum Zeitpunkt des Vorfalls war er 16 Jahre alt. Seine Handlungen richteten keinen Schaden an und wurden auf unverhältnismäßige Weise als "terroristische Anschläge" bezeichnet. Da "terroristische" Fälle vor Militärgerichten verhandelt werden, ist nicht viel bekannt über die Umstände anderer ähnlicher Fälle wie dem von Yegor Balazeykin.
Maria Moskalyova
Die zwölfjährige Maria Moskalyova aus Jefremow in Zentralrussland wurde am 1. März 2023 von ihrem Vater Aleksei Moskalyov getrennt und in ein Waisenhaus gebracht. Ihre Familie war zuvor fast ein Jahr lang verfolgt worden, weil Maria im April 2022 eine kriegskritische Zeichnung in der Schule angefertigt hatte. Maria wurde daraufhin von der Schulleitung bei der Polizei angezeigt. Aleksei Moskalyov, ein alleinerziehender Vater, wurde zunächst zu einer Geldstrafe und später zu zwei Jahren in einer Strafkolonie verurteilt wegen Social-Media-Beiträgen, in denen er "wiederholt die russischen Streitkräfte diskreditiert" haben soll. Maria Moskalyova litt im Waisenhaus unter Stress und Isolation. Infolge öffentlichen Drucks gestattete man ihr schließlich, bei Verwandten zu leben.
Die Russin Maria Moskalyova fertigte im April 2022 als Sechtsklässlerin in der Schule diese Zeichnung an, mit der sie den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kritisierte.
© Maria Moskalyova
Natalya Filonova
Am 24. September 2022 nahm die Polizei in der Stadt Ulan-Ude in der autonomen Republik Burjatien im Osten Sibiriens willkürlich die Oppositionelle Natalya Filonova fest, als sie an einer friedlichen Demonstration gegen die Mobilisierung von Reservisten für den Krieg in der Ukraine teilnahm. Sie wurde wegen "Gewalt gegen einen Behördenvertreter" angeklagt und nach mehreren Monaten Hausarrest in einem Untersuchungsgefängnis inhaftiert. Sie bestreitet die Vorwürfe. Ihr 16-jähriges Pflegekind Vladimir Alalykin hat eine Behinderung und wurde in einem Waisenhaus untergebracht. Vladimir durfte dem Prozess gegen seine Pflegemutter nicht beiwohnen. Am 31. August 2023 wurde Natalya Filonova zu zwei Jahren und zehn Monaten Gefängnis verurteilt. Vladimir wurde im Waisenhaus 18 Jahre alt.
Die russische Oppositionelle Natalya Filonova wird aus einem Gerichtsgebäude abgeführt, nachdem sie zu fast drei Jahren Gefängnis verurteilt wurde (Aufnahme vom August 2023).
© Nadezhda Nizovkina
Die Behörden müssen die Meinungsfreiheit achten!
"In dieser verqueren Welt, zu der sich Russland entwickelt hat, stellen die Polizei, die Gerichte und sogar die Schulen eine unmittelbare Bedrohung für Kinder dar, die nicht die Regierungslinie vertreten", so Oleg Kozlovsky.
Amnesty International appelliert an die russischen Behörden, die Rechte von Kindern auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit zu achten und zu schützen. Die Behörden müssen dafür sorgen, dass diese Rechte ohne Angst vor Vergeltung wahrgenommen werden können. Sie müssen damit aufhören, die Rechte von Eltern einzuschränken oder abzuerkennen und Kinder als Strafe für die Ausübung ihrer Menschenrechte in staatliche Obhut zu geben. Soziale Dienste und Kinderrechtsbeauftragte sollten zum Wohl des Kindes handeln und internationale Menschenrechtsnormen respektieren.
Darüberhinaus müssen russischen Behörden die Praxis beenden, Zivilpersonen, insbesondere Kinder, vor Militärgerichte zu stellen. Das Justizsystem darf nicht zur Verfolgung Andersdenkender missbraucht werden und die Kriegspropaganda und politische Indoktrination in den Schulen muss aufhören.
Amnesty International fordert die umgehende Freilassung von Aleksei Moskalyov, Natalya Filonova und allen anderen Menschen, die lediglich deshalb in Haft sind, weil sie friedlich von ihren Rechten Gebrauch gemacht haben. Unbegründete terrorismusbezogene Anklagen gegen Personen wie Yegor Balazeykin müssen fallengelassen werden.