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"Wir haben uns selbst zensiert"
Jomanex Kassaye vom Blogger-Kollektiv Zone 9 vor der Berliner Mauer, Februar 2017
© Sarah Eick / Amnesty
Die Bloggerinnen und Blogger des Kollektivs "Zone 9" setzen sich seit Jahren für Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Äthiopien ein. Nun drohen ihnen lange Haftstrafen. Einige der Mitglieder, darunter Jomanex Kassaye, leben deshalb inzwischen im Exil.
Interview: Hannah El-Hitami
Das Blogger-Kollektiv "Zone 9" wurde 2012 gegründet. Wofür steht der Name?
Eines der berüchtigtsten Gefängnisse Äthiopiens am Stadtrand von Addis Abeba, Kaliti, ist in acht Zonen unterteilt. Wegen der repressiven politischen Atmosphäre bezeichnen die Gefangenen den Rest des Landes, vor allem die Hauptstadt, als Zone 9. Weil niemand frei ist, betrachten sie Äthiopien als großes Gefängnis.
Sie haben politischen Gefangenen in der Vergangenheit regelmäßig Besuche abgestattet. War es absehbar, dass Sie eines Tages selbst verhaftet werden würden?
Ja. Als wir mit dem Bloggen anfingen, wussten wir, dass es Risiken gibt. Sobald du die Regierung kritisierst, wirst du zum Staatsfeind. Als Individuen wurden wir weniger eingeschüchtert als als Gruppe – die Regierung konnte es einfach nicht ertragen, dass wir uns politisch organisierten. Das stellt für sie ein großes Problem dar. Dabei haben wir vor jeder Veröffentlichung den Text gemeinsam überarbeitet, um die Regierung nicht zu sehr zu provozieren. Wir haben uns in gewissem Maße selbst zensiert.
Was waren die offiziellen Gründe für Ihre Verhaftung?
Angeklagt wurden wir 2014 wegen Terrorismus und Anstiftung zur Gewalt. Die Regierung betrachtete es als Verrat, dass wir eine Online-Kampagne gestartet hatten. Es war das erste Mal in der Social-Media-Geschichte Äthiopiens, dass sich eine Gruppe für die Einhaltung der Verfassung, die Durchsetzung von Versammlungsfreiheit und Demonstrationsrechten aussprach.
Nach den Wahlen 2005 hatte es kaum oppositionelle Proteste in Addis gegeben. Aber eine Woche nachdem wir die Regierung dazu aufgefordert hatten, verschiedene Meinungen zuzulassen, schaffte es die oppositionelle Blue Party, eine Demonstration in der Hauptstadt zu organisieren. Das war ein großer Erfolg. Wir haben etwas Virtuelles gestartet, und es wurde in der Realität weitergeführt.
Wie reagierte die Regierung?
Wir wurden zur Zielscheibe. Ich erhielt einen Anruf. "Wir kennen dich, wir wissen, wo du wohnst", teilte man mir mit, und: "Lass die Regierung in Ruhe, dann lassen wir dich in Ruhe." Da sich die Herrschenden offensichtlich provoziert fühlten, beschlossen wir, für eine Weile nicht mehr zu bloggen.
Aber die Einschüchterungen gingen weiter, da wir nicht aufhörten, Journalisten und Dissidenten im Gefängnis zu besuchen und uns von Zeit zu Zeit zu treffen. Obwohl es auf dem Blog keine Aktivitäten gab, gingen sie davon aus, dass wir im Untergrund weitermachten. Im April 2014 entschieden wir, den Blog weiterzuführen. Wir teilten unseren Followern mit, dass wir uns von der Regierung nicht zum Schweigen bringen lassen würden und dass "Zone 9" mit voller Kraft zurück sei. Drei oder vier Tage später wurden wir verhaftet.
Was würde Ihnen bei einer Rückkehr nach Äthiopien drohen?
Das Verfahren gegen mich läuft noch. Eine Rückkehr aus dem Exil könnte deshalb von der Regierung so interpretiert werden, dass ich im Ausland ausgebildet worden bin, um vor Ort politisch weiterzuarbeiten. Also würde ich wieder im Gefängnis landen. Natürlich will ich zurück nach Hause, zu meiner Familie und meinen Freunden. Aber ich will nicht zurück ins Gefängnis. Es würde nur einen weiteren Schauprozess gegen mich geben.
Die Europäische Union kooperiert im Rahmen des Khartum-Prozesses bereits mit einigen ostafrikanischen Regierungen, die bereit sind, ihre nach Europa geflohenen Staatsbürger zurückzunehmen oder diese daran zu hindern, ihr Land zu verlassen – im Gegenzug für finanzielle Unterstützung. Was würde ein solches Abkommen mit Äthiopien für die Menschenrechtssituation in Ihrem Land bedeuten?
Ich empfinde das als Unterstützung einer Diktatur. Die EU-Staaten, darunter auch Deutschland, setzen ihre eigenen Prioritäten, und das sind die Bekämpfung von Terrorismus sowie die Lösung der Flüchtlingskrise. Dabei missachten sie, dass Äthiopien bald zusammenbricht, wenn man unsere brutale Regierung so weitermachen lässt wie bisher: ohne Rechenschaftspflicht, ohne bürgerliche Freiheitsrechte und ohne Lebensmittelsicherheit für die Bevölkerung.
Wer glaubt, dass das noch zehn oder zwanzig Jahre weitergehen kann, irrt sich gewaltig – und wird die Konsequenzen dafür tragen müssen. Alle Welt weiß, was aus Syrien seit der Niederschlagung der Proteste 2011 geworden ist. Man stelle sich nur vor, was passiert, wenn Äthiopien scheitert.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Ihr Land im vergangenen Herbst besucht. Was kann Deutschland, was kann Europa für Äthiopien tun?
Wegen ihrer weltpolitischen Stellung sollten die EU und Deutschland eine wichtige Rolle dabei spielen, Veränderungen in eine positive Richtung zu lenken. Eine Möglichkeit wäre, die Regierung an ihre Verantwortung zu erinnern, eine Atmosphäre politischer Offenheit zu schaffen. Denn nur so können Menschen Hoffnung entwickeln, in ihrem eigenen Land etwas zu bewirken. Schließlich haben wir alle lange versucht, auf legalem Weg Änderungen zu erreichen. Aber wenn Menschen das verwehrt wird, werden sie andere Wege finden – und das will niemand von uns erleben. Leider bemerken Diktatoren das immer erst, wenn es schon zu spät ist.
Eine Nation hinter Gittern
Seit den Parlamentswahlen 2005 ist die Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Äthiopien sukzessive eingeschränkt worden. Nachdem die Opposition der regierenden Revolutionären Demokratischen Front der Äthiopischen Völker (EPRDF) Wahlbetrug vorgeworfen hatte, waren zahlreiche Journalistinnen und Journalisten, Oppositionelle und Demonstrierende verhaftet worden. Die Regierung von Ministerpräsident Hailemariam Desalegn ging auch im vergangenen Jahr gewaltsam gegen Proteste vor, die sich 2015 zunächst gegen die geplante Erweiterung Addis Abebas gerichtet hatten: Bauern in der Region Oromia fürchteten eine Beschlagnahmung ihrer Ländereien. Obwohl der Plan zurückgezogen wurde, kam es zu weiteren Demonstrationen, die sich nun auch gegen willkürliche Festnahmen, Polizeigewalt und wirtschaftliche Missstände richteten. Seitdem haben Sicherheitskräfte mehr als 800 Menschen getötet. Im Oktober 2016 rief Desalegn den Notstand aus und stattete Armee und Polizei mit erweiterten Befugnissen aus.
Dieser Artikel ist in der Ausgabe April / Mai 2017 des Amnesty Journals erschienen.