Amnesty Journal 22. Januar 2016

Tödlicher Schuss vor Publikum

Textfeld "Staatlicher Mord"

Der kurdische Anwalt Tahir Elçi wurde auf einer Kundgebung erschossen. Die Opposition sagt: Es war Mord.

Von Amke Dietert

Tahir Elçi ist tot. Der kurdische Rechtsanwalt wurde am 28. November 2015 im türkischen Diyarbakır auf einer Kundgebung ­erschossen. Tahir Elçi war Mitglied des Menschenrechtsvereins und der Menschenrechtsstiftung der Türkei und Mitbegründer der türkischen Sektion von Amnesty International. Seit 2012 war er Vorsitzender der Anwaltskammer von Diyarbakır. Wir verlieren mit ihm nicht nur einen großen Verteidiger der Menschenrechte, sondern auch einen guten Freund.

Nach offiziellen Angaben soll Tahir Elçi bei einer Schießerei zwischen PKK-Angehörigen und Polizisten in die Schusslinie ­geraten und versehentlich getroffen worden sein. Filmaufnahmen, die schon kurz nach Tahirs Tod im Internet kursierten, und Aussagen zum Tathergang lassen aber Zweifel an dieser Darstellung aufkommen.

An seinem Todestag hielt die Anwaltskammer Diyarbakır eine Kundgebung für den Schutz der historischen Bauten von Diyarbakir ab. Ort der Kundgebung war ein altes Minarett, das zuvor bei einer Schießerei zwischen PKK und Polizisten beschädigt worden war. Tahir Elçi drückte seine Sorge aus, die bewaffneten Auseinandersetzungen könnten auch in der Türkei zu Zuständen wie in Syrien führen und appellierte an beide Seiten, die Gewalt zu beenden und sowohl das Leben der Menschen als auch das kulturelle Erbe zu schützen. Momente später fiel der tödliche Schuss.

Am Tag zuvor war in Diyarbakır bei einer Schießerei zwischen PKK und Polizisten ein PKK-Mitglied getötet worden. Zwei weitere PKK-Anhänger entkamen. Sie nahmen tags drauf an der Beerdigung ihres getöteten Kollegen teil und fuhren anschließend in einem Taxi in die Altstadt. Sie erschossen zwei Polizisten, die das Auto kontrollierten, und flohen in Richtung der Kundgebung der Anwaltskammer.

Videoaufnahmen zeigen, wie Zivilpolizisten dort das Feuer eröffneten. Obwohl sie direkt auf die Polizisten zukamen, wurden die Flüchtenden nicht getroffen. Sie selbst schossen offenbar nicht. Nachdem sie an den Polizisten vorbeigelaufen waren, drehten sich die Polzeibeamten um und schossen in die Richtung, in der Tahir Elçi stand. Bemerkenswert ist, dass nur Tahir Elçi getroffen wurde, und zwar von einer einzigen Kugel von hinten in den Kopf. Die einzige Aufnahme einer Überwachungskamera, die möglicherweise den Moment des Schusses auf Tahir Elçi festgehalten hat, war angeblich beschädigt und nicht mehr verwertbar.

Tahir Elçi hatte sein Leben dem Kampf für die Menschenrechte gewidmet. Nach seinem Jura-Studium in Diyarbakır kehrte er Anfang der neunziger Jahre in seine Heimatstadt Cizre zurück – eine der türkischen Regionen, die am schlimmsten von den Kämpfen zwischen Militärpolizei und PKK betroffen war.

Er war einer der wenigen Anwälte, die es noch wagten, sich dort für politisch Verfolgte einzusetzen. 1993 wurde er festgenommen und schwer gefoltert. Anschließend war er gezwungen, sein Büro nach Diyarbakır zu verlegen. In den seltenen Fällen, in ­denen es zu Gerichtsverfahren wegen der schweren Menschenrechtsverletzungen in der Region kam, war es oft die beharrliche Recherche von Tahir Elçi, die zur Eröffnung von Prozessen führte, die aber fast nie mit einem Schuldspruch endeten.

Einer der Prozesse, in denen er sich in den vergangenen Jahren engagiert hatte, war das sogenannte "Temizöz-Verfahren" in Eskişehir. Nach jahrelangen Bemühungen Tahir Elçis wurde 2009 gegen sieben Personen – den Oberst der Militärpolizei ­Cemal Temizöz, "Dorfschützer" und ehemalige Mitglieder der PKK, die mit dem Staat zusammenarbeiteten – Anklage erhoben wegen Mordes in zwanzig Fällen während der neunziger Jahre. Tahir Elçi erhielt wegen seiner führenden Rolle in diesem Prozess mehrfach Morddrohungen. Er fühlte sich ernsthaft gefährdet, insbesondere für den Fall, dass die Angeklagten freigesprochen würden. Genau dies passierte am 5. November 2015.

Nach einer ruhigeren Phase war der bewaffnete Konflikt zwischen der PKK und dem Staat nach den Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015 wieder heftig aufgeflammt. Die pro-kurdische Partei HDP hatte ein sensationelles Ergebnis von gut 13 Prozent der Stimmen erreicht und die regierende AKP ihre absolute Mehrheit verloren.

Die AKP verweigerte sich einer Koalitionsbildung und setzte Neuwahlen an. In der Folgezeit kam es zu Bombenanschlägen auf Wahlkundgebungen der HDP und auf eine Solidaritätsaktion mit den Kurden in Syrien. Die Täter waren mutmaßlich IS-Anhänger, Oppositionelle beschuldigten aber die Regierung, die Aktivitäten des IS zu dulden und damit mitverantwortlich für die Anschläge zu sein.

Nach dem Mord an zwei Polizisten, denen die PKK Beteiligung an den Anschlägen vorwarf, beendete die türkische Regierung offiziell den Friedens­prozess. In kurdischen Städten gab es Ausgangssperren und militärische Operationen mit zahlreichen Todesopfern. Kritiker vermuten, die Regierung habe die Eskalation bewusst herbeigeführt, damit die Menschen sich bei den Neuwahlen für die "Sicherheit", also eine stabile AKP-Regierung, entscheiden. Bei den Wahlen am 1. November gewann die AKP ihre absolute Mehrheit zurück.

Zwei Tage zuvor hatte Ministerpräsident Davutoğlu gedroht, wenn die AKP nicht gewinne, würden wieder die "weißen Toros" fahren. Dieses Automodell wurde in den neunziger Jahren regelmäßig von geheimen Kommandos eingesetzt, um Menschen zu verhaften und zu verschleppen.

Tahir Elçi hatte auch Menschenrechtsverletzungen durch die PKK kritisiert und ihr gerade in jüngster Zeit vorgeworfen, das Leben der kurdischen Zivilbevölkerung dadurch zu gefährden, dass sie die Kämpfe in die Städte trug. Deshalb wurde er auch von der PKK bedroht. Gerade weil er sich weigerte, sich auf eine Seite zu stellen, war er besonders gefährdet. Einen Monat vor seinem Tod wurde er in einer Fernsehdiskussion zu einer Stellungnahme genötigt, ob die PKK eine Terrororganisation sei.

Er verweigerte sich einer Vereinnahmung und sagte, er würde zwar einzelne Aktionen der PKK als terroristisch bezeichnen, nicht aber die gesamte Organisation, die eine breite politische Bewegung sei und Rückhalt in weiten Teilen der kurdischen Bevölkerung genieße. Daraufhin wurde in verschiedenen Medien eine Hasskampagne gegen ihn eröffnet und die Morddrohungen nahmen weiter zu.

Die bisherigen Ermittlungen geben nicht viel Hoffnung, dass der Tod Tahir Elçis aufgeklärt wird. Anwälte, die den Staatsanwalt zu einer Untersuchung des Tatorts begleiteten, berichten, sie seien dort beschossen worden, die Spurensicherung wurde daraufhin abgebrochen. Die Kugel, die Tahir Elçi tötete, wurde nicht gefunden. Das gleiche Szenario wiederholte sich bei späteren Versuchen der Spurensicherung. Schon vor der Beerdigung hatte Türkan Elçi, die Ehefrau von Tahir Elçi, eine Twitter-Nachricht mit dem Text "Du bist die Nächste" erhalten. Ermittlungen ergaben, dass der Absender ein Polizist war.

Die Autorin ist Türkei-Expertin und engagiert sich seit 1976 ehrenamtlich für Amnesty International.

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