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Mit Choro und Samba
Seit gut zwei Jahren hat Amnesty International ein Büro in Rio de Janeiro. Polizeigewalt, Zwangsräumungen und das Erbe der Militärdiktatur sind nur einige der Themen, mit denen sich Atila Roque, Generalsekretär der brasilianischen Sektion, und sein Team beschäftigen.
Von Sara Fremberg
Aller Anfang ist eine Herausforderung. Dieses Gefühl kommt auf, wenn man mit Atila Roque, dem Generalsekretär des neuen Amnesty-Büros in Rio de Janeiro spricht. Der promovierte Politikwissenschaftler hatte jahrelang für Nichtregierungsorganisationen in Brasilien, Japan und den USA gearbeitet, bevor er sich für den Posten bei Amnesty bewarb. Er bezeichnet sich daher selbst als "Kind der Zivilgesellschaft".
Seit zweieinhalb Jahren gibt es ein brasilianisches Amnesty-Büro. "Ich wollte einen Ort schaffen, der mehr als nur Büro ist. Er sollte zum Leben hin geöffnet sein, zum Bürgersteig, sollte neugierig machen. Der Ort sollte ein Bezugspunkt sein, ein Ort der Begegnung", erzählt Roque.
Große Organisationen und Unternehmen sitzen in Brasilien in der Regel in Geschäftsgebäuden mit Eingangskontrolle und Sicherheitszaun. Auch bei Amnesty gab es anfangs Bedenken wegen der Sicherheitslage in Rio. Doch dann wurde ein Haus im Stadtteil Laranjeiras gefunden, das an einem offenen Platz liegt und gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist. Auf dem Platz treffen sich abends die Musiker des Viertels und spielen Samba und Choro, einen temporeichen Mix aus europäischen und afrikanischen Rhythmen. Atila Roque hatte den perfekten Ort für Amnesty Brasilien entdeckt.
Neben den Mitarbeiterbüros gibt es in dem Haus mehrere Räume, in denen regelmäßig Kino- und Theaterveranstaltungen zum Thema Menschenrechte stattfinden. Besonders stolz ist das Team auf die Kooperation mit dem internationalen Filmfestival von Rio de Janeiro. Während des Festivals findet eine Reihe "Menschenrechtskino" mit Filmvorführungen und Diskussionen statt. Auch kleinere brasilianische Organisationen, die eine Veranstaltung planen und einen Raum suchen, sind bei Amnesty zu Gast. Inzwischen arbeiten 14 feste Mitarbeiter und viele Freiwillige für die brasilianische Amnesty-Sektion – insbesondere in den Bereichen Menschenrechte, Recherche, Lobby und Kommunikation. Fragt man Atila Roque nach einer feierlichen Einweihung, muss er lachen: "Eine? Es gab mehrere!"
Inhaltlich steht das neue Büro in Brasilien ebenfalls vor großen Herausforderungen. Amnesty hat sich entschieden, verstärkt in unterschiedlichen Weltregionen präsent zu sein und auch die Arbeit der Londoner Zentrale teilweise dorthin zu verlagern. Das Brasilien-Büro ist eines der ersten, das diese Strategie umsetzt. "Wir wollen in Brasilien eine internationale Organisation sein, die Wurzeln im Land hat, eine Organisation mit einer eigenen Stimme und einem eigenen brasilianischen Team. Das ist sehr wichtig in einem Land wie Brasilien, das so viel Wert darauf legt, seine Angelegenheiten selbst zu regeln", sagt Atila Roque.
Wie die Amnesty-Büros in anderen Ländern arbeitet auch das Brasilien-Team zu Menschenrechtsverletzungen in allen Teilen der Welt, engagiert sich für Einzelfälle auf allen Kontinenten und beteiligt sich an den globalen Kampagnen der Organisation. "Doch um Glaubwürdigkeit im Land zu haben, ist es sehr wichtig, auch die lokale Agenda anzusprechen – aus einer internen Perspektive heraus. Wenn man im Land ist, ändern sich die Dynamik und die Erwartungen an das, was man sagt. Man kann sich nicht einfach heraushalten", erklärt Roque.
Wie schwierig es sein kann, die "lokale" Agenda offen anzusprechen, erfuhr das Team während der Proteste im Juni 2013, als Hunderttausende für ein sozialeres Brasilien auf die Straße gingen. Auch die Amnesty-Aktivisten waren in diesen Wochen viel unterwegs, um zu vermitteln und die Wahrung der Menschenrechte einzufordern. Auch sie wurden mit Pfefferspray und Tränengas beschossen. "Es gab eine sehr starke Reaktion des Staates, die Institutionen reagierten äußerst verunsichert. Denn die Demonstrationen gingen nicht von herkömmlichen Institutionen wie Parteien oder gesellschaftlichen Organisationen aus. Und die Polizei reagierte darauf in einer Weise, die von der Diktatur geprägt war, von der Logik des Krieges, der Repression", berichtet Roque.
Amnesty Brasilien fordert im Zusammenhang mit den Protesten eine grundlegende Reform des Polizeiapparats, der sich in Struktur, Ausbildung und Mentalität seit der Militärdiktatur kaum verändert hat. Anfang 2014 veranstaltete die Organisation eine Diskussionsveranstaltung, zu der Experten für öffentliche Sicherheit, Wissenschaftler, Menschenrechtler und Polizeibeamte eingeladen waren. Vor den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2014 wird Amnesty verstärkt mit konkreten Reformvorschlägen an die Öffentlichkeit gehen. "Wir versuchen, mit der Polizei in einen Dialog zu treten. Ich habe den Innenminister und den Polizeichef schon mehrfach persönlich getroffen. Sie empfangen mich immer. Ich kann sie anrufen. Aber das Verhältnis ist wegen dieser Fragen etwas reserviert", erzählt Atila Roque.
Große Sorgen macht sich der Leiter des Brasilien-Büros auch wegen der eskalierenden Gewalt aufseiten der Demonstranten. Roque befürchtet, dass diese als Vorwand missbraucht wird, um die Proteste weiter zu kriminalisieren und Repressionen durchzusetzen. Ende Februar starb ein Kameramann an Verletzungen, die er durch Feuerwerkskörper von Demonstranten erlitten hatte. Derzeit wird im brasilianischen Parlament ein Gesetzentwurf diskutiert, wonach Demonstranten wegen "Verbreitung von Terror" oder "kollektiver Angst" als Terroristen verfolgt werden können. "Wir sprechen über Gewaltfreiheit, und doch gibt es bei den Demonstrationen Gewalt. Die brasilianischen Zeitungen fordern inzwischen ein neues Anti-Terrorismusgesetz. Der gesamte Diskurs kriminalisiert die Proteste. Und den Menschenrechtsorganisationen wird die Schuld zugeschoben, weil wir angeblich nur über die Rolle der Polizei sprechen", stellt Roque fest.
Doch es geht nicht nur um die Polizeiübergriffe während der Proteste. In den brasilianischen Armenvierteln, den Favelas, ist exzessive Gewalt durch Sicherheitskräfte bei Festnahmen alltäglich. "Eine unserer wichtigsten Untersuchungen derzeit geht der Ermordung afro-brasilianischer Jugendlicher durch Polizeibeamte nach. Mit diesem speziellen Thema beschäftigt sich Amnesty zum ersten Mal. Damit berühren wir natürlich auch die Diskussion um Rassismus und Diskriminierung", sagt Atila Roque.
2014 gibt es für Amnesty in Brasilien einiges zu tun: Mit großen Kampagnen fordert die Organisation ein Ende der rechtswidrigen Zwangsräumungen in indigenen Gemeinden und in Favelas, um Bauprojekten für die Fußball-WM und die Olympischen Spiele Platz zu machen. Außerdem fordert Amnesty die Veranstalter und die Regierung auf, sich ihrer menschenrechtlichen Verantwortung zu stellen. Im Frühjahr erinnert das Land anlässlich des 50. Jahrestags des Militärputsches an die Opfer der Diktatur. In der Öffentlichkeit wird lebhaft über die Aufarbeitung der Vergangenheit, Gerechtigkeit und Erinnerungskultur diskutiert. Gleichzeitig sorgt das Amnestiegesetz dafür, dass die Verantwortlichen für Verfolgung, Folter und "Verschwindenlassen" während der Diktatur weiterhin straffrei bleiben. Amnesty unterstützt die Arbeit der nationalen Wahrheitskommission, deren Mandat allerdings in diesem Jahr endet, und fördert den Austausch mit ähnlichen Institutionen in anderen Ländern. Außerdem plant die Organisation eine Kampagne für eine Änderung des Amnestiegesetzes.
"Die größte Herausforderung in diesem WM-Jahr besteht darin, den Wert der Menschenrechte im Bewusstsein der Gesellschaft zu verankern. Klarzumachen, dass die Menschenrechte all unser Handeln lenken sollten", sagt Atila Roque. "Wir müssen kreative Formen finden, fröhliche Formen, die zeigen, dass Menschenrechte etwas Gutes sind und nichts Deprimierendes." Die Spiele ihrer Nationalmannschaft werden die brasilianischen Amnesty-Mitarbeiter in ihren Büros in Laranjeiras verfolgen – mit Choro und Samba.
Atila Roque hofft natürlich, dass Brasilien die WM gewinnt: "Da uns die Fußballweltmeisterschaft schon so viele Probleme bereitet hat, soll sie uns ruhig auch mal etwas Freude machen", sagt er lachend.
Die Autorin ist Pressereferentin bei der deutschen Amnesty-Sektion.