Amnesty Report 23. Mai 2018

Tschad 2017/18

Report Cover 17/18

Die Übergriffe der bewaffneten Gruppe Boko Haram im Gebiet des Tschadsees rissen auch 2017 nicht ab. Immer wieder verboten die tschadischen Behörden friedliche Versammlungen. Sie nahmen Menschenrechtsverteidiger, politisch engagierte Menschen sowie Journalisten fest und verfolgten sie strafrechtlich. Amnesty International betrachtete einige der Inhaftierten als gewaltlose politische Gefangene. Menschen, die sich frei organisieren wollten, erfuhren Einschränkungen, wodurch das Recht auf Vereinigungsfreiheit verletzt wurde, bestimmte Bürgerbewegungen wurden kriminalisiert. In verschiedenen Flüchtlingslagern, u. a. in Baga Sola, lebten nach wie vor mehr als 408000 Flüchtlinge unter katastrophalen Bedingungen.

Hintergrund

Mit der entsprechenden Bekanntmachung durch Präsident Idriss Déby Itno traten zwei Änderungen des Strafrechts in Kraft: Die Todesstrafe wurde für alle Straftaten außer "Terrorismus" abgeschafft, und das Mindestheiratsalter wurde auf 18 Jahre angehoben. 

Die Nationale Sicherheitsbehörde (Agence nationale de sécurité – ANS) erhielt neue Befugnisse. ANS-Angehörige können nun auch Festnahmen durchführen.

Durch den Verfall des Ölpreises in den vergangenen Jahren geriet die Wirtschaft des Tschad in eine schwere Krise. Dies führte zur Verabschiedung von Sparmaßnahmen sowie zu öffentlichen Protesten und Streiks, u. a. im Gesundheits-, im Bildungs- und im Justizwesen.

Verstöße bewaffneter Gruppen

Die bewaffnete Gruppe Boko Haram führte weiterhin Angriffe durch, bei denen Zivilpersonen verletzt, entführt und getötet wurden und Eigentum zerstört wurde.

Am 5. Mai 2017 töteten Boko-Haram-Mitglieder in der Bezirksstadt Kaiga Kindjiria mindestens vier Zivilpersonen und brannten 50 Häuser nieder. In der Nacht vom 25. Mai wurden bei einem Angriff von Boko Haram auf die westlich von Kaiga Kindjiria gelegene Ortschaft Kirnatchoulma mindestens drei Menschen getötet, drei weitere wurden verletzt. Am 26. und am 27. Mai griff Boko Haram mehrfach die Ortschaften Konguia, Wangui und Kagrerom bei Tchoukoutalia an. 

Am 30. Mai 2017 entführten Boko-Haram-Mitglieder etwa 4 km von Kaiga Kindjiria entfernt eine Frau. Zwischen Mai und Juni 2017 gingen auch aus anderen Gegenden Berichte über ähnliche Vorfälle ein, so auch aus Bodou-Doloum im Bezirk Baga Sola, wo drei Menschen getötet und drei weitere entführt worden waren.

Recht auf Versammlungsfreiheit

Staatliche Stellen verboten 2017 mindestens sechs friedliche Versammlungen. Menschen, die Proteste organisierten oder an ihnen teilnahmen, wurden festgenommen. 

Nadjo Kaina Palmer, Sprecher der Bürgerbewegung IYINA ("Wir sind es leid"), und der frankophone nationale Berichterstatter von IYINA, Bertrand Solloh, wurden am 6. bzw. 15. April 2017 von ANS-Angehörigen festgenommen. Sie hatten die tschadische Bevölkerung aufgerufen, sich am Jahrestag der Präsidentschaftswahl von 2016 rot zu kleiden, um ihre Unzufriedenheit über Korruption und Straflosigkeit zum Ausdruck zu bringen. Die ANS hielt die beiden Männer zunächst ohne Zugang zu ihren Familien und Rechtsbeiständen in Gewahrsam und übergab sie später der Kriminalpolizei. Sie wurden wegen versuchter Verschwörung und Aufruf zu einer nichtgenehmigten Versammlung angeklagt und zu einer sechsmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt. Beide Männer gaben an, in der Haft gefoltert worden zu sein. Unter anderem habe man ihnen mit Plastiktüten, die mit Chili gefüllt waren, die Luft abgeschnürt. 

Am 12. April 2017 wurde Dingamnayal Nely Versinis, Vorsitzender des Kollektivs gegen hohe Lebenskosten (Collectif Tchadien Contre la Vie Chère), von Angehörigen der ANS im Rathaus von N'Djamena festgenommen. Er hatte die Händler des Hirsemarkts in N'Djamena zum Streik gegen die Erhöhung der Marktstandmieten aufgerufen. Dingamnayal Nely Versinis wurde ohne Zugang zu seiner Familie und seinem Rechtsbeistand in Gewahrsam gehalten und wegen Betrug sowie der Verwendung einer falschen Identität angeklagt. Am 27. April wurde er von der Staatsanwaltschaft aus der Haft entlassen – mit der Begründung, er habe keine Straftat begangen.

Recht auf Vereinigungsfreiheit

Bestimmte soziale Bewegungen und zivilgesellschaftliche Plattformen wurden verboten, das Streikrecht wurde eingeschränkt. Damit verstieß der Tschad gegen das Völkerrecht. 

Die Bürgerbewegung IYINA blieb verboten. Am 6. Januar 2017 verbot der Minister für Territorialverwaltung der landesweit agierenden Bürgerbewegung Mouvement d’Eveil Citoyen (MECI) weitere Aktivitäten mit der Begründung, dass die Bewegung "widernatürlich" sei und sich "ohne jede Rechtsgrundlage" betätige. Am 27. Mai unterbrach die Polizei die Generalversammlung der MECI und verbot deren Fortsetzung. 

Die Rechte von Gewerkschaften wurden verletzt. Dabei handelte es sich um eine Reaktion auf den Streik, den die Gewerkschaften im Tschad im September 2016 initiiert hatten und der bis Januar 2017 dauerte. Für sie galt nach wie vor ein 2016 erlassenes Dekret, mit dem das Streikrecht eingeschränkt wurde. Anträge der Gewerkschaften zur Anmeldung von Demonstrationen wurden durchgehend abgelehnt. 

Im Januar 2017 zwangen die Behörden die Gewerkschaft Syndicat National des Enseignants et Chercheurs du Supérieur, die Wissenschaftler und Universitätsdozenten vertritt, ihren Vorsitzenden abzusetzen und ihren Streik zu beenden. Dies war eine Einmischung in die internen Angelegenheiten der Gewerkschaft. Im selben Monat verweigerten die Behörden Vertretern des französischen Gewerkschaftsbundes Confédération générale du Travail, dem internationalen Partner der tschadischen Gewerkschaften, Visa für die Einreise ins Land.

Recht auf freie Meinungsäußerung

Journalisten, die Kritik an der Regierung äußerten, erhielten Drohungen und wurden überwacht. Gleichzeitig wurde weiterhin versucht, sie durch die Instrumentalisierung von Verleumdungsgesetzen und anderen ähnlichen Bestimmungen zum Schweigen zu bringen. 

Eric Kokinagué, Herausgeber der Zeitung Tribune Info, erhielt zwischen dem 22. und dem 24. Februar 2017 mehr als zwölf anonyme Anrufe von unterschiedlichen Telefonnummern aus, nachdem er einen Artikel abgedruckt hatte, in dem Präsident Déby scharf kritisiert wurde. Daniel Ngadjadoum, der Kolumnist, der den Artikel geschrieben hatte, wurde am 25. Februar von vier Bewaffneten entführt, nach eigenen Angaben vermutlich in einer Hafteinrichtung der ANS fast 24 Stunden in Gewahrsam gehalten und gezwungen, einen Brief mit einer Entschuldigung an den Präsidenten zu schreiben.

Déli Sainzoumi Nestor, Herausgeber der zweimonatlich erscheinenden Zeitung Eclairages, wurde im Juni 2017 wegen Verleumdung angeklagt, nachdem Daoussa Déby Itno, ehemaliger Minister und Bruder von Präsident Déby, ihn wegen eines Artikels angezeigt hatte, in dem der Vorwurf erhoben worden war, Daoussa Déby sei in betrügerische Machenschaften der Zuckerindustrie verstrickt. 

Der Radiojournalist Mbairaba Jean Paul wurde am 4. September 2017 festgenommen und wegen Verleumdung angeklagt, nachdem er über einen lokalen Konflikt zwischen Hirten und Bauern in Doba berichtet hatte. Er wurde am nächsten Tag freigelassen. Der Präfekt, der seine Festnahme angeordnet hatte, wurde seines Amtes enthoben.

Gewaltlose politische Gefangene

Wie schon in den Vorjahren nahmen die Behörden Journalisten fest und inhaftierten sie, nur weil sie ihrer Arbeit nachgingen. Auch Menschenrechtsverteidiger wurden festgenommen und inhaftiert, weil sie von ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machten. 

Der am 30. September 2016 festgenommene Online-Aktivist Tadjadine Mahamat Babouri (auch bekannt als Mahadine) befand sich weiterhin in Haft. ANS-Angehörige hatten ihn festgenommen, nachdem er mehrere Videos auf Facebook gepostet hatte. Darin kritisierte er die Regierung wegen ihres Umgangs mit öffentlichen Geldern. Er wurde wegen Untergrabung der verfassungsmäßigen Ordnung, Gefährdung der territorialen Einheit und der Sicherheit des Landes sowie der Zusammenarbeit mit einer aufständischen Bewegung angeklagt. Er berichtete, dass er im Gewahrsam der ANS drei Tage lang weder zu essen noch zu trinken bekommen hatte und mit Elektroschocks und Schlägen gefoltert worden war. 

Maoundoe Decladore Djikoldingam, Sprecher der zivilgesellschaftlichen Plattform ça doit changer("Das muss sich ändern"), wurde am 5. Mai 2017 in Moundou von vier bewaffneten Männern in Zivil festgenommen. Er war 25 Tage lang ohne Zugang zu seiner Familie und seinem Rechtsbeistand in Gewahrsam. Er vermutet, dass er in einer Hafteinrichtung der ANS gefangen gehalten wurde. Am 30. Mai wurde er an die Kriminalpolizei übergeben und wegen Störung der öffentlichen Ordnung angeklagt. Wegen seines schlechten Gesundheitszustands wurde er gegen Kaution aus der Haft entlassen. Sein Gerichtsverfahren stand Ende 2017 noch aus.

Sylver Beindé Bassandé, Journalist und Leiter des lokalen Radiosenders Al Nada FM in Moundou, wurde am 20. Juni 2017 vom Hohen Gericht von Moundou zu zwei Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe in Höhe von 100000 CFA-Francs (knapp 150 Euro) verurteilt. Ihm wurde Beihilfe zur Missachtung des Gerichts und Untergrabung der richterlichen Autorität vorgeworfen. Er war nach der Ausstrahlung eines Interviews mit einem Stadtrat angeklagt worden. Darin hatte der Stadtrat Richter kritisiert, die ihn und in einem separaten Prozess zwei weitere Stadträte verurteilt hatten. Sylver Beindé Bassandé legte gegen das Urteil Rechtsmittel ein und wurde am 19. Juli gegen Kaution aus der Haft entlassen. Ein Berufungsgericht hob das Urteil des Hohen Gerichts von Moundou am 26. September 2017 auf und verurteilte Sylver Beindé Bassandé wegen Beihilfe zur Verleumdung zu einer Geldstrafe von 100000 CFA-Francs (etwa 150 Euro). Er legte Rechtsmittel vor dem Obersten Gerichtshof ein.

Flüchtlinge und Binnenvertriebene

Mehr als 408000 Flüchtlinge aus Nigeria, dem Sudan, der Zentralafrikanischen Republik und der Demokratischen Republik Kongo lebten nach wie vor unter schlechten Bedingungen in Flüchtlingslagern. Die Anschläge von Boko Haram und die Militäroperationen der tschadischen Armee führten dazu, dass 2017 mindestens 25000 Menschen in andere Landesteile fliehen mussten. Die Zahl der Binnenvertriebenen im Tschad belief sich insgesamt auf mehr als 174000 Menschen.

Im Juni 2017 flohen etwa 5000 Menschen vor einer Anschlagswelle von Boko Haram auf Ortschaften in der Nähe von Kaiga Kindjiria und Tchoukoutalia. Durch die Flucht entstanden zwei weitere Lager für Binnenvertriebene: Kengua (Bezirk Kiskra, Departement Fouli) und Kane Ngouboua (Diameron). Ab Juli kamen etwa 6700 Rückkehrer aus Niger nach Baga Sola. Nach dem Abzug der tschadischen Soldaten aus Niger waren sie aus Angst vor Angriffen von Boko Haram in den Tschad zurückgekehrt.

Recht auf Nahrung

Die tschadische Armee hob die Einschränkung der Bewegungsfreiheit für Personen und Waren an den Ufern des Tschadsees nicht auf. Damit gefährdete sie die Lebensgrundlagen der dortigen Bevölkerung und erhöhte die Gefahr einer Unterversorgung mit Nahrungsmitteln. 

Laut Angaben der Vereinten Nationen stieg die Anzahl der Menschen, die in der Region an schwerer akuter Unterernährung litten, im Jahr 2017 von 2,1 % auf 3,4 % an. Nach Schätzungen der UN war die Ernährung von 2,8 Mio. Menschen nicht sichergestellt; mehr als 380000 von ihnen befanden sich in einer akut kritischen Ernährungssituation bzw. waren auf Soforthilfe angewiesen.

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