Amnesty Report Kanada 23. Mai 2018

Kanada 2017/18

Report Cover 17/18

Indigene Gemeinschaften wurden nach wie vor diskriminiert, insbesondere durch Missachtung ihrer Rechte auf Land und Ressourcen. Dringende Maßnahmen zum Schutz indigener Frauen und Mädchen waren nötig. Die Nationale Untersuchungskommission zu vermissten und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen setzte ihre Arbeit fort. Die Anzahl der Asylsuchenden, die ohne offizielle Erlaubnis aus den USA nach Kanada einreisten, stieg erheblich an.

Rechte indigener Bevölkerungsgruppen

Die Regierung beteuerte ihre Absicht, die Rechte indigener Bevölkerungsgruppen (First Nations) achten und schützen zu wollen. Nichtsdestotrotz unternahm sie nichts, um sicherzustellen, dass die durch einen historischen Vertrag geschützten Jagd- und Fischfangrechte der indigenen Bevölkerung im Zusammenhang mit dem Bau des Wasserkraftwerks Site C in der Provinz British Columbia nicht verletzt werden. Im Rahmen dieses Infrastrukturprojekts ist die Überflutung des Peace River Valley geplant.

Das Kanadische Gericht für Menschenrechte (Canadian Human Rights Tribunal) rügte die Regierung in drei Fällen, weil sie ihrer Verpflichtung, Kinder und Familien der First Nations bei der Bereitstellung von Dienstleistungen nicht zu diskriminieren, nicht nachgekommen war. 

Die staatliche Untersuchungskommission zu den Beziehungen zwischen indigenen Bevölkerungsgruppen und bestimmten öffentlichen Diensten in Québec hielt während des ganzen Jahres Anhörungen ab.

Im Juni 2017 willigte die Provinz Ontario ein, die Reinigung eines quecksilberverseuchten Gewässersystems zu finanzieren. Im November erklärte sich die kanadische Regierung bereit, für an Quecksilbervergiftung leidende Angehörige der indigenen Gemeinschaft der Grassy Narrows First Nation eine medizinische Fachbehandlung bereitzustellen.

Im Juli 2017 entschied der Oberste Gerichtshof von Kanada in einem von der Inuit-Siedlung Clyde River vorgebrachten Fall, dass die Regierung zur Intervention verpflichtet sei, wenn Aufsichtsbehörden die Rechte der indigenen Bevölkerung nicht schützen. 

Im August 2017 drückte der UN-Ausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung (CERD) seine Sorge über die Verletzung der Landrechte indigener Bevölkerungsgruppen aus und bemängelte außerdem die Nichteinhaltung ihres Rechts auf freie, vorherige und informierte Zustimmung. Der Ausschuss forderte die kanadische Regierung auf, Maßnahmen zur Bewältigung negativer Auswirkungen durch das Wasserkraftwerk Site C einzuleiten und innerhalb eines Jahres Rechenschaft über diese Maßnahmen abzulegen. Im Dezember kündigte die Provinzregierung von British Columbia an, den Bau des Kraftwerks trotz der Opposition durch die betroffenen First Nations weiter vorantreiben zu wollen.

Im November 2017 erklärte die kanadische Regierung ihre Unterstützung für einen Gesetzentwurf zur Ausarbeitung eines Rechtsrahmens für die Umsetzung der UN-Erklärung über die Rechte der indigenen Völker.

Ebenfalls im November verwarf der Oberste Gerichtshof eine möglicherweise bahnbrechende Anfechtungsklage der indigenen Gemeinschaft Ktunaxa Nation in der Provinz British Columbia. Die Kläger hatten gefordert, dass der verfassungsmäßige Schutz der Religionsfreiheit auch den Erhalt der heiligen Stätten der First Nations umfassen soll.

Frauenrechte

Im Juni 2017 führte Kanada eine "Feministische Internationale Unterstützungspolitik" (Feminist International Assistance Policy) ein und verpflichtete sich damit, Frauenrechte, Geschlechtergerechtigkeit sowie sexuelle und reproduktive Rechte in den Mittelpunkt seiner Außenpolitik zu stellen. Im November legte die Regierung ihren zweiten Nationalen Aktionsplan über Frauen, Frieden und Sicherheit vor.

Ebenfalls im Juni veröffentlichte die Regierung eine Strategie zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer Gewalt, doch fehlte noch der entsprechende nationale Aktionsplan.

Die Nationale Untersuchungskommission zu vermissten und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen setzte 2017 ihre Arbeit fort. Immer mehr Angehörige vermisster und ermordeter Frauen und Mädchen äußerten sich jedoch enttäuscht über den langsamen Fortschritt der Arbeit und die unzureichende Kommunikation der Untersuchungskommission. Einige Mitarbeiter und eines der fünf Kommissionsmitglieder verließen die Kommission. Im Juni begannen Anhörungen in den Gemeinden, und im November wurde ein Zwischenbericht herausgegeben.

Im Oktober 2017 verabschiedete Québec ein Gesetz über die religiöse Neutralität des Staates (Act to Foster Adherence to State Religious Neutrality), das von jeder Person fordert, ihr Gesicht zu enthüllen, wenn sie staatliche Dienstleistungen – auch in öffentlichen Verkehrsmitteln und Büchereien – in Anspruch nimmt oder bereitstellt. Dies gilt auch für muslimische Frauen, die einen Nikab (Gesichtsschleier) tragen.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen

Im Juni 2017 verabschiedete das Parlament gesetzliche Bestimmungen, mit denen ein Verbot der Diskriminierung aufgrund von Geschlechtsidentität und Ausdruck der Geschlechtlichkeit einer Person in das Menschenrechtsgesetz und das Strafgesetzbuch aufgenommen wurden.

Antiterrormaßnahmen und Sicherheit

Im Januar 2017 wurden sechs Personen getötet und 19 weitere verletzt, als ein Mann in einer Moschee in Québec das Feuer auf die Anwesenden eröffnete.

Im März 2017 beschloss das Parlament einen Antrag auf Einsetzung einer Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Ansatzes für die Bekämpfung von Islamfeindlichkeit und religiöser Diskriminierung. 

Gleichfalls im März erhielten die kanadischen Staatsbürger Abdullah Almalki, Ahmad Abou-Elmaati und Muayyed Nureddin von der kanadischen Regierung eine mit einer Entschuldigung verbundene Entschädigung. Hierbei ging es um die Beteiligung kanadischer Sicherheitsbeamter an der rechtswidrigen Festnahme, Inhaftierung und Folterung der drei Männer in Syrien und Ägypten zwischen 2001 und 2004.

Im Juni 2017 wurden Gesetzesreformen zur nationalen Sicherheit vorgeschlagen, die u. a. eine bessere Überprüfung und Beaufsichtigung nationaler Sicherheitsagenturen ermöglichen sollen. Anhaltende Besorgnis bereiteten z.B. die unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen beim Informationsaustausch, die unzulänglichen Rechtsbehelfe für Personen, die auf Flugverbotslisten stehen, sowie die erweiterten Befugnisse zur Massenüberwachung und Datensammlung.

Ebenfalls im Juni erfolgte die Verabschiedung von Gesetzesänderungen, mit denen Reformen des Staatsbürgerschaftsgesetzes von 2014 zurückgenommen wurden. Diese hatten es ermöglicht, Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft, die wegen Terrorismus und anderer Straftaten verurteilt wurden, die kanadische Staatsbürgerschaft zu entziehen.

Im Juli 2017 erhielt der kanadische Staatsbürger Omar Khadr eine mit einer offiziellen Entschuldigung verbundene Entschädigung wegen der Beteiligung kanadischer Sicherheitsangehöriger an Menschenrechtsverletzungen, denen er ab 2002 zehn Jahre lang im US-amerikanischen Gefangenenlager Guantánamo Bay auf Kuba ausgesetzt war.

Im September 2017 wurden neue Leitlinien veröffentlicht, um im Zusammenhang mit dem Austausch geheimdienstlicher Erkenntnisse mit anderen Regierungen besser gegen Mittäterschaft bei Folter vorbeugen zu können. Diese Richtlinien enthielten jedoch kein absolutes Verbot der Nutzung von Informationen, die andere Regierungen durch Folter erpresst hatten.

Justizsystem

Im Juni 2017 wurde der Entwurf für ein landesweites Gesetz vorgelegt, das die Einzelhaft auf 20 Tage begrenzen sollte. Diese Zeitspanne sollte 18 Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes auf 15 Tage reduziert werden. Ein Verbot der Einzelhaft für Personen mit geistiger Behinderung war in dem Gesetzesvorschlag nicht enthalten. Im Dezember erging ein Gerichtsbeschluss, der die derzeitigen Bestimmungen rund um die Einzelhaft für verfassungswidrig erklärte, da sie keine ausreichenden Schutzmaßnahmen beinhalteten. Der Regierung wurde eine einjährige Frist gesetzt, um neue Standards zu beschließen.

Im Oktober 2017 wurde das Gesetz über journalistischen Quellenschutz (Journalistic Source Protection Act) verabschiedet, mit dem eine Art "rechtliches Schild" zum Schutz von Journalisten und ihren Quellen geschaffen wurde.

Rechte von Flüchtlingen und Migranten

Mehr als 18000 Asylsuchende reisten 2017 ohne gültige Papiere aus den USA nach Kanada ein, weil sich die Bedingungen für Flüchtlinge und Migranten in den USA weiter verschlechtert hatten. Die Asylsuchenden überquerten die Grenze ohne offizielle Erlaubnis, da es ihnen nach dem zwischen Kanada und den USA abgeschlossenen Abkommen über sichere Drittländer aus dem Jahr 2004 (Safe Third Country Agreement) nicht erlaubt war, an den offiziellen Grenzübergängen Asylanträge zu stellen. Zivilgesellschaftliche Gruppen und Asylsuchende legten im Juli 2017 gemeinsam Rechtsmittel gegen dieses Abkommen ein.

Im August 2017 forderte der CERD Kanada dringend auf, einen maximalen Zeitrahmen für die Inhaftierung von Asylsuchenden festzulegen, die Inhaftierung von minderjährigen Migranten zu beenden und sicherzustellen, dass alle Menschen in Kanada, unabhängig von ihrem Migrationsstatus, Zugang zu grundlegenden medizinischen Versorgungsleistungen erhalten. Im November wurden daraufhin neue Richtlinien herausgegeben, laut denen die Inhaftierung von minderjährigen Migranten nur unter "äußerst spezifischen Umständen" gestattet ist.

Die staatliche Zielvorgabe für die Anzahl an Flüchtlingen, die in Kanada aufgenommen werden sollten, wurde 2017 wieder auf 7500 reduziert und entsprach damit der vor dem Jahr 2016 angesetzten Zahl. Im Jahr 2016 war die Quote wegen des staatlichen Resettlement-Programms für syrische Flüchtlinge auf 25000 angehoben worden.

Unternehmensverantwortung

Die Umweltschutzbehörde von British Columbia (British Columbia Conservation Officer Service) beendete ihre Untersuchung über den im Jahr 2014 erfolgten Dammbruch des Abwasserstausees des Bergbauunternehmens Mount Polley Mining Corporation (MPMC), ohne Klage zu erheben. Eine auf Bundesebene geführte Untersuchung über eine mögliche Verletzung des Fischereigesetzes dauerte noch an. Entgegen den Forderungen indigener und anderer Gemeinschaften genehmigten die Behörden von British Columbia im April 2017 den Plan von MPMC zur Ableitung von Grubenabwässern, deren Qualität nicht den von der Provinz vorgegebenen Richtlinien für Trinkwasser entspricht, in den Quesnel Lake. Im Juni 2017 unterstützte die UN-Arbeitsgruppe für Wirtschaft und Menschenrechte die Empfehlung des Generalauditors von British Columbia, eine vom Ministerium für Energie und Bergbau unabhängige Abteilung zur Einhaltung und Durchsetzung von Vorschriften zu gründen. Im August wurde eine Privatklage gegen MPMC erhoben. Ebenfalls im August 2017 forderte der CERD Kanada auf, innerhalb eines Jahres über die im Zusammenhang mit der Katastrophe von 2014 ergriffenen Schadensregulierungsmaßnahmen zu berichten.

Im Januar 2017 ließ das Berufungsgericht von British Columbia ein in Kanada geführtes Gerichtsverfahren gegen den kanadischen Bergbaukonzern Tahoe Resources Ltd. zu. In dem Fall geht es um Schüsse auf Protestierende vor einer Mine des Konzerns in Guatemala. Im November bestätigte das Berufungsgericht ein vorinstanzliches Urteil, nach dem ein Prozess gegen den kanadischen Rohstoffkonzern Nevsun Resources wegen dessen mutmaßlicher Mitschuld an Zwangsarbeit in seiner Mine in Eritrea fortgesetzt werden könne.

Im Dezember 2017 verkündete die Regierung, Anfang 2018 eine Ombudsperson einsetzen zu wollen, die für die Menschenrechtssituation in den ausländischen Minen kanadischer Bergbaugesellschaften zuständig sein soll.

Im Jahr 2017 begannen Verhandlungen zur Überarbeitung des Nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) zwischen Kanada, Mexiko und den USA. Hierbei sollen auch kanadische Vorschläge bezüglich Geschlechtergerechtigkeit und indigener Bevölkerungsgruppen Berücksichtigung finden.

Gespräche über ein mögliches Freihandelsabkommen mit China wurden fortgeführt, wobei Bedenken wegen möglicher Auswirkungen auf die Menschenrechte in China bestanden.

Gesetzliche, verfassungsrechtliche und institutionelle Entwicklungen

Im Juni 2017 legte die Regierung ein Gesetz über den Beitritt Kanadas zum UN-Waffenhandelsabkommen vor, das jedoch nicht auf Waffenlieferungen an die USA – dem Primärmarkt für kanadische Waffenverkäufe – Anwendung finden soll. 

Im Oktober 2017 wurde ein Gesetz über Gerechtigkeit für die Opfer korrupter ausländischer Beamter (Justice for Victims of Corrupt Foreign Officials Act) verabschiedet, das die Möglichkeit auf Wiedergutmachung und Sanktionen in bestimmten Fällen schwerer Menschenrechtsverletzungen verbessern soll.

Im Dezember 2017 trafen sich zum ersten Mal seit 1988 die für Menschenrechte zuständigen Bundes-, Provinz- und Territorialminister. Sie verpflichteten sich zur Einrichtung eines hochrangigen Gremiums zur wirksameren Umsetzung der internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen Kanadas.

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