Amnesty Journal Ägypten 15. Mai 2024

Kulturell sensibel

Das Bild zeigt eine Frau, die in einem Sessel sitzt und in die Kamera schaut

Der weibliche Körper und Sexualität sind in Ägypten und anderen arabischen Ländern Tabuthemen. Das gefährdet die Gesundheit von Frauen. Ein Gesundheitszentrum in Kairo bietet daher neben gynäkologischer Versorgung auch sexuelle Aufklärung. 

Von Hannah El-Hitami

Wer seinen Körper nicht kennt, kann ihn auch nicht gesund erhalten. Deshalb beginnt die Behandlung von Patientinnen in der Motherbeing Clinic in Kairo mit einer kleinen Sexualkunde: "Body Basics" heißt das Dokument, das Mädchen und Frauen vor ihrem Besuch zugeschickt bekommen. Darin werden Brust und Vulva beschrieben und die Vielfalt der Erscheinungsformen betont: "Alles ist normal, alles ist schön." Erklärt wird, wie Eierstöcke und Uterus funktionieren, was die Klitoris ist und dass sie viel größer ist als viele denken. Das Dokument stellt fest, dass Vaginen nicht nach Vanille und Rosen riechen müssen, erläutert aber auch, welche Gerüche Grund zur Sorge sind und bei welchen Symptomen ein Besuch bei der Frauenärztin sinnvoll ist. Ziel ist es, der Patientin das notwendige Wissen zu vermitteln, "um die richtigen Fragen zu stellen und die Diagnose zu verstehen".

Motherbeing ist anders als die üblichen gynäkologischen Praxen in Ägypten und weltweit. Denn bei Motherbeing ist sexuelle Aufklärung fester Bestandteil der Behandlung. Ihre eigene Gewalterfahrung bei der Geburt ihrer Tochter inspirierte die Gründerin Nour Emam dazu, Frauen über ihre Körper, ihre Gesundheit und ihre sexuellen Rechte aufzuklären. Sie tat das zunächst jahrelang nur auf Instagram. Anfang 2023 wagte Emam den nächsten Schritt und eröffnete ein Frauengesundheitszentrum in Kairo. Dort will sie alles anders machen als konventionelle gynäkologische Praxen. Patientinnen berichteten ihr, dass ihnen Eingriffe teils nicht vorab erklärt oder Untersuchungsgeräte ohne ihre Zustimmung eingeführt worden seien.

In der Motherbeing Clinic sind alle Räume mit gemütlichen Sofas ausgestattet und in warmen Farben gestaltet. Nach der medizinischen Untersuchung können Patientinnen mit einer Pflegekoordinatorin in Ruhe offene Fragen und weitere Schritte besprechen. Das 26-köpfige Team mit den drei Ärzt*innen bietet vom Aufklärungsgespräch über postnatale Versorgung bis hin zu kleineren Eingriffen eine umfassende gynäkologische Versorgung. "Von der Terminbuchung an nehmen wir die Patientinnen an der Hand", sagt die Direktorin der Einrichtung Nadine El-Borollossy. Ein wichtiges Prinzip lautet: Keine Frau wird hier komisch angesehen oder verurteilt, weil sie zum Beispiel sexuell aktiv, aber unverheiratet ist, oder gegen andere konservative Regeln verstößt. Denn, so die Überzeugung bei Motherbeing, die Tabuisierung des weiblichen Körpers und der weiblichen Sexualität in Ägypten und anderen arabischen Ländern hat zu viel Unwissen geführt.

Emam bekämpft mit ihrer Arbeit eine lange Liste irriger Annahmen: Das Hymen ist ein Zeichen für Jungfräulichkeit? Falsch. Schmerzhafte Perioden bedeuten höhere Fruchtbarkeit? Falsch. Wer einmal per Kaiserschnitt geboren hat, muss dabei bleiben? Falsch. Weil es weder in der Familie noch in der Schule sexuelle Aufklärung gebe, "müssen wir Frauen unsere Gesundheit durch jede Menge Vorurteile und Falschinformation navigieren", erklärt die 31-jährige Ägypterin. Die studierte Musikerin mit Nasenpiercing und verspielten Tattoos arbeitete jahrelang als DJ und Produzentin – bis die Geburt ihrer Tochter 2019 zum traumatischen Wendepunkt in ihrem Leben wurde. Ohne Grund hätten die Ärzte viel zu früh die Wehen eingeleitet. Als dies nicht zum ­Erfolg führte, nahmen sie einen Kaiserschnitt vor. "Das fühlte sich an, als sei mir etwas sehr Kostbares genommen worden."

Kostenlose Aufklärung im Netz

Gewalt in der Geburtshilfe ist ein weltweites Phänomen. Falsche Informationen, Unwissen und Scham führen dazu, dass viele Frauen ihre Bedürfnisse nicht durchsetzen können. Es kommt vor, dass Ärzt*innen gegen den Willen der Patientin oder ohne Betäubung Eingriffe vornehmen, sie respektlos behandeln oder vernachlässigen. Wie im Fall von Emam: Obwohl sie sich intensiv auf die Geburt vorbereitet hatte, war sie im entscheidenden Moment machtlos. Nachdem ihre Tochter auf der Welt war, fiel sie in eine tiefe Depression. Während dieser Zeit stieß sie auf den Beruf der Doula, einer persönlichen Schwangerschafts- und Geburtsbegleiterin. Kurzerhand absolvierte sie eine Online-Ausbildung bei einem kanadischen Anbieter.

Danach begann Emam, unter dem Namen Motherbeing Videos auf Instagram zu posten, um ihre Arbeit zu bewerben und sich für die Rechte von Frauen während Schwangerschaft und Geburt starkzumachen. Schnell bemerkte sie, dass viele ihrer Followerinnen keine werdenden Mütter waren, sondern Mädchen und junge Frauen, die Fragen zu ihrem Körper hatten. "Reproduktive Gesundheit ist keine Momentaufnahme, sondern ein Spektrum", wurde Emam klar. "Um eine positive Geburtserfahrung zu haben, muss man lange vorher aufgeklärt werden."

Instagram-Posting der Motherbeing Clinic:

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Und so startete sie im ersten Pandemiejahr 2020 Online-Kurse zu Menstruation, Sex und Verhütungsmethoden. Zeitgleich erfasste die arabische "MeToo"-Bewegung Ägypten, nachdem Dutzende junge Frauen in den Online-Netzwerken sexuelle Übergriffe öffentlich gemacht hatten. "Es ging vor allem um sexuelle Belästigung, aber Motherbeing wurde zu einer der führenden Stimmen für sexuelle und reproduktive Rechte", erinnert sich Emam. Im März hatte Motherbeing mehr als 660.000 Follower*innen auf Instagram.

Weil Motherbeing eine private Einrichtung ist, können sich die meisten Ägypterinnen eine Behandlung dort nicht leisten, das ist den Mitarbeiter*innen klar. "Wir würden gerne pro bono arbeiten oder subventionierte Behandlungen anbieten", sagt El-Borollossy. Doch bisher fehlen ihnen die Mittel. Immerhin macht Motherbeing einen Großteil des Aufklärungs- und Behandlungsangebots online zugänglich: kostenlos auf Instagram, wo das Team regelmäßig Informationsvideos postet und Fragen beantwortet. Und zu günstigen Preisen auf der Website, wo Frauen an Kursen teilnehmen, Ratgeber bestellen oder sich ärztlich beraten lassen können.

Die Online-Sprechstunde ermöglicht auch jenen Patientinnen den Zugang, die ihre Eltern nicht von einem Besuch überzeugen können: "In unserer Kultur ist es nicht üblich, dass unverheiratete Frauen zur Vorsorge gehen", sagt El-Borollosy. Deren Gesundheit werde normalerweise ausgeblendet, kritisiert auch Emam: "Manche Mädchen leiden jahrelang an Infektionen, weil ihre Eltern sie nicht zum Frauenarzt bringen." Die digitale Konsultation ist niedrigschwelliger. Junge Frauen können, wenn nötig, die Kameras ihres Geräts abschalten oder nur per Chat eine der drei Ärzt*innen um Rat fragen. Außerdem ist das digitale Angebot auch für Frauen außerhalb Kairos und in Nachbarländern zugänglich.

Motherbeing geht es nicht nur um weibliche Gesundheit, sondern auch um ein selbstbestimmtes Sexualleben. Darüber öffentlich aufzuklären, ist in Ägypten eine Herausforderung. "Konservative warfen uns vor, dass wir Mädchen zu sexueller Freizügigkeit ermutigten", sagt Emam. Seit mit Praxisgründung auch Ärzt*innen zum Team gehörten, sei es einfacher – die Arbeit stehe nun in einem medizinischen Kontext. Und sie haben sich angepasst: "Wir müssen sensibel dafür sein, wie die meisten Frauen hier aufgewachsen sind", sagt Emam. Anfangs habe sie sich darüber geärgert, nicht offen sprechen zu können, doch dann habe sie verstanden, dass sie mit einer behutsameren Wortwahl viel mehr Menschen erreichen könne. Zum Beispiel sprechen sie und ihre Kolleg*innen von der "Hochzeitsnacht" statt dem "ersten Mal", sie sagen "Ehemann" statt "Partner". "Dafür können wir jetzt offen über Sex und Intimität sprechen und darüber, dass Frauen ein Recht auf sexuelle Lust haben."

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