Amnesty Report Italien 23. Mai 2018

Italien 2017/18

Report Cover 17/18

Die Regierung arbeitete mit staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren in Libyen zusammen, um zu erreichen, dass weniger Menschen über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien gelangten. Dies führte dazu, dass Flüchtlinge und Migranten auf See abgefangen und zurück nach Libyen gebracht wurden, wo sie festsaßen und Menschenrechtsverletzungen und Übergriffen ausgesetzt waren. Roma wurden 2017 erneut Opfer rechtswidriger Zwangsräumungen und mussten in speziellen Lagern unter unzumutbaren Bedingungen leben. Die Europäische Kommission leitete keine entschlossenen Maßnahmen gegen Italien ein, obwohl das Land Roma weiterhin diskriminierte, was den Zugang zu angemessenem Wohnraum betraf. Im Juli 2017 wurde ein Gesetz verabschiedet, das Folter zur Straftat erklärte. Es erfüllte jedoch nicht alle Anforderungen des UN-Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe.

Rechte von Flüchtlingen und Migranten

Schätzungen zufolge ertranken 2017 mehr als 2800 Flüchtlinge und Migranten im Mittelmeer bei dem Versuch, auf seeuntüchtigen und überfüllten Booten von Libyen aus nach Italien zu gelangen. Die Zahl war gegenüber dem Vorjahr gesunken, als 4500 Todesfälle erfasst wurden. 2017 überlebten mehr als 119000 Personen die Überfahrt und erreichten Italien; 2016 waren es 181000 gewesen. 

Im Mai 2017 veröffentlichte das italienische Nachrichtenmagazin L’Espresso neue Informationen zu der Tragödie vom 11. Oktober 2013. Damals war im maltesischen Seenotrettungsgebiet im zentralen Mittelmeer ein Boot gesunken, auf dem sich vor allem syrische Flüchtlinge befanden. Mehr als 260 Menschen ertranken, darunter 60 Minderjährige. Nach Telefonmitschnitten, die dem Magazin vorlagen, zögerten Angehörige der italienischen Marine und der Küstenwache vor dem Kentern des Boots, das in der Nähe befindliche Marineschiff Libra zu Hilfe zu schicken, obwohl die maltesischen Behörden mehrfach darum baten. Im November 2017 ordnete ein Richter eines römischen Gerichts an, Anklage gegen zwei hochrangige Angehörige der italienischen Marine und der Küstenwache zu erheben und das Verhalten der Kapitänin der Libra genauer zu untersuchen. Anklagen gegen vier weitere Angehörige der Marine und der Küstenwache wurden abgewiesen. Ende 2017 dauerte das Verfahren noch an.

Auch 2017 galten "illegale Einreise und illegaler Aufenthalt" in Italien als Straftaten. Die Regierung hatte diese Bestimmung immer noch nicht per Erlass abgeschafft, obwohl das Parlament sie bereits im April 2014 dazu aufgefordert hatte.

Zusammenarbeit mit Libyen bei der Migrationskontrolle

Um die Zahl der in Italien ankommenden Flüchtlinge zu verringern, verpflichtete sich Italien im Februar 2017 in einer Vereinbarung mit Libyen dazu, die Behörden zu unterstützen, die in dem nordafrikanischen Land die offiziellen Haftzentren für Einwanderer betrieben. In diesen Haftzentren waren Folter und andere Misshandlungen noch immer an der Tagesordnung. Italien unterstützte weiterhin die libysche Küstenwache mit Maßnahmen, um Flüchtlinge und Migranten auf dem Weg nach Europa abzufangen und nach Libyen zurückzubringen. Die Unterstützung erfolgte, obwohl es zunehmend Beweise dafür gab, dass die libysche Küstenwache dabei rücksichtslos und gewaltsam vorging und an Menschenrechtsverletzungen beteiligt war. Italien setzte die Ausbildung von Angehörigen der libyschen Marine und Küstenwache im Rahmen der EU-Militäroperation im südlichen zentralen Mittelmeer (EUNAVFOR MED) fort und lieferte der libyschen Küstenwache im Mai 2017 vier Schnellboote. Im Juli 2017 entsandte Italien auf Bitten der libyschen Regierung eine Marinemission in libysche Hoheitsgewässer, um Migration ohne offizielle Erlaubnis und das Schleusen von Flüchtlingen und Migranten zu unterbinden. 

Im November 2017 griff ein Schiff der libyschen Küstenwache während einer Rettungsaktion in internationalen Gewässern ein. Dabei ertranken mehrere Menschen. Eine Videoaufnahme zeigte, dass das Schiff der libyschen Küstenwache (eines der vier von Italien gelieferten Schnellboote) ohne Rücksicht auf die im Wasser treibenden Menschen mit hoher Geschwindigkeit losfuhr und dass sich ein Mann noch an Tauen festhielt, die die Libyer aus dem Boot ins Wasser geworfen hatten.

Zwischen August und Dezember 2017 kritisierten der Menschenrechtskommissar des Europarats, der UN-Hochkommissar für Menschenrechte und weitere Experten und Organe der UN die Zusammenarbeit Italiens mit den libyschen Behörden. Der UN-Ausschuss gegen Folter äußerte sich besorgt, weil es vonseiten Italiens keine Zusicherungen gab, angesichts der Menschenrechtsverletzungen die Zusammenarbeit mit der Küstenwache und anderen Sicherheitskräften Libyens zu überprüfen.

 

Such- und Rettungsaktionen von NGOs

Viele der Menschen, die auf dem Seeweg nach Italien gelangten, wurden von NGOs gerettet – 2017 waren es mehr als 45400 Personen. Im Juli 2017 erließ Italien mit Unterstützung der EU einen Verhaltenskodex für NGOs, die in der Seenotrettung tätig waren, und schränkte damit deren Möglichkeiten ein, Menschen aus Seenot zu retten und in Italien an Land zu bringen. Im Laufe des Jahres warfen mehrere italienische Politiker und Staatsbedienstete den NGOs vor, sie würden dazu beitragen, dass sich Flüchtlinge und Migranten von Libyen aus auf den Weg machten. Gegen einige NGOs wurden strafrechtliche Ermittlungen wegen Begünstigung illegaler Migration eingeleitet, die am Jahresende noch nicht abgeschlossen waren.

Asylverfahren

2017 beantragten fast 130000 Personen Asyl in Italien, dies waren etwa 6 % mehr als im Vorjahr, als fast 122000 Asylanträge gestellt worden waren. Mehr als 40 % aller Antragsteller erhielten 2017 bereits in erster Instanz einen Schutzstatus.

Im April 2017 trat ein Gesetz zur Beschleunigung des Asylverfahrens und zur Bekämpfung unerlaubter Migration in Kraft, das u. a. Verfahrensgarantien beim Widerspruch gegen abgelehnte Asylanträge abschwächte. Das Gesetz enthielt keine klaren Angaben zu den sogenannten Hotspots, die 2015 nach entsprechenden Vereinbarungen zwischen der EU und Italien eingerichtet worden waren. Dabei handelte es sich um Einrichtungen zur Erstaufnahme, Identifizierung und Registrierung von Asylsuchenden und Migranten, die auf dem Seeweg in die EU gelangten. Im Mai wies der Nationale Mechanismus zur Verhütung von Folter in einem Bericht darauf hin, dass es nach wie vor keine Rechtsgrundlage und keine Anwendungsbestimmungen gab, um Menschen in diesen Hotspots festzuhalten.

Der UN-Menschenrechtsausschuss übte im Mai 2017 Kritik an der lang anhaltenden Inhaftierung von Flüchtlingen und Migranten in den Hotspots. Er monierte außerdem, dass es keine Schutzmechanismen gab, um zu verhindern, dass Asylsuchende fälschlicherweise als Wirtschaftsflüchtlinge eingestuft wurden, und dass die Behörden Berichten über exzessive Gewaltanwendung bei der Identifizierung von Asylsuchenden und Migranten nicht nachgingen. Im Dezember 2017 äußerte sich der UN-Ausschuss gegen Folter besorgt über fehlende Schutzmechanismen gegen die Rückführung von Personen in Länder, in denen ihnen möglicherweise Menschenrechtsverletzungen drohten.

Im September 2017 begann in Perugia das Strafverfahren gegen sieben Staatsbedienstete wegen Beteiligung an der rechtswidrigen Abschiebung von Alma Shalabayeva, der Ehefrau des kasachischen Oppositionspolitikers Mukhtar Ablyazov, und ihrer sechsjährigen Tochter Alua Ablyazova nach Kasachstan im Mai 2013. Unter den Angeklagten, die wegen Entführung, Falschaussagen und Machtmissbrauchs vor Gericht standen, waren drei hochrangige Polizeibeamte und die Richterin, die die Abschiebung angeordnet hatte.

Unbegleitete Minderjährige

2017 gelangten fast 16000 unbegleitete Minderjährige auf dem Seeweg nach Italien. Im April wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Schutz von unbegleiteten Minderjährigen verbessern sollte, indem es ihren Zugang zu grundlegenden staatlichen Leistungen regelte und Schutzmechanismen gegen ihre Abschiebung einführte. Die Behörden hatten aber nach wie vor Mühe, die Aufnahme unbegleiteter Minderjähriger gemäß internationalen Standards zu gewährleisten.

Umverteilung und Neuansiedlung von Flüchtlingen

Von den etwa 35000 Asylsuchenden, die gemäß dem EU-Umverteilungsprogramm von anderen Mitgliedstaaten übernommen werden sollten, hatten Ende 2017 nur 11464 Personen Italien verlassen, weitere 698 standen unmittelbar vor der Aufnahme in einem anderen EU-Land.

Italien nahm weiterhin Menschen im Rahmen eines humanitären Programms auf, das von der katholischen Gemeinschaft Sant’Egidio, der Föderation evangelischer Kirchen in Italien und der Waldenserkirche (Tavola Valdese) finanziert wurde. Seit Beginn des Programms im Jahr 2016 waren dies mehr als 1000 Personen.

Ende Dezember 2017 nahm Italien außerdem 162 schutzbedürftige Flüchtlinge auf, die das Amt des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge aus Libyen ausgeflogen hatte.

Recht auf Wohnen und rechtswidrige Zwangsräumungen

Roma wurden beim Zugang zu angemessenem Wohnraum nach wie vor systematisch diskriminiert. Die Europäische Kommission ergriff auch 2017 keine wirksamen Maßnahmen gegen Italien, obwohl das Land gegen das im EU-Recht festgeschriebene Diskriminierungsverbot verstieß, indem es Roma das Recht auf Wohnen verwehrte, sie nicht gegen rechtswidrige Zwangsräumungen schützte und nach wie vor in speziellen, eigens für sie geschaffenen Siedlungen unterbrachte. 

Im April 2017 wurden Hunderte Roma in der informellen Siedlung Gianturco in Neapel Opfer einer rechtswidrigen Zwangsräumung, ohne dass die Behörden zuvor ernsthaft mit den betroffenen Familien in Kontakt getreten waren. Das einzige Angebot bestand darin, 130 Personen in ein neues Lager speziell für Roma umzusiedeln. Die übrigen Erwachsenen und Minderjährigen wurden durch die Räumung obdachlos. Etwa 200 von ihnen ließen sich auf dem Gelände eines ehemaligen Obst- und Gemüsemarkts nieder. Dort drohte ihnen jedoch ebenfalls die Räumung. 

Im August 2017 räumten die Behörden ein Gebäude im Zentrum der Hauptstadt Rom, in dem Hunderte Menschen lebten, darunter zahlreiche Minderjährige. Viele der Bewohner waren anerkannte Flüchtlinge, die bereits seit Jahren in der Gegend lebten und arbeiteten. Da sie keinen anderen angemessenen Wohnraum erhielten, übernachteten viele von ihnen im Freien, bis sie einige Tage später von Polizisten in Kampfausrüstung gewaltsam vertrieben wurden. Die Polizei setzte Wasserwerfer und Schlagstöcke ein und verletzte mehrere Menschen. Einige Familien wurden schließlich vorübergehend außerhalb von Rom untergebracht.

Folter und andere Misshandlungen

Im Juli 2017 führte Italien ein Gesetz ein, das Folter zur Straftat erklärte, nachdem das Land bereits 1989 das UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe ratifiziert hatte. Im Dezember 2017 stellte der UN-Ausschuss gegen Folter jedoch fest, dass die Definition von Folter in dem neuen Gesetz nicht dem Übereinkommen entsprach. Zudem enthielt das neue Gesetz keine Angaben zur Umsetzung anderer zentraler Artikel des Übereinkommens, z. B. zur Überprüfung der Vernehmungspraktiken oder zur Entschädigung für Opfer. 

Im September 2017 veröffentlichte der Ausschuss des Europarats zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe den Bericht über seinen Besuch in Italien im April 2016. Darin hieß es, in nahezu allen besuchten Haftanstalten hätten Inhaftierte Misshandlungsvorwürfe erhoben und sich u. a. über unnötige und exzessive Gewaltanwendung durch Polizei und Gefängnispersonal beschwert. Des Weiteren stellte der Ausschuss fest, dass die Haftanstalten ungeachtet der jüngsten Reformen nach wie vor überbelegt waren. 

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fällte im Oktober 2017 ein Urteil im Fall von 59 Personen, die im Zusammenhang mit Protesten gegen den G8-Gipfel in Genua im Jahr 2001 festgenommen worden waren. Nach Ansicht des Gerichts kam die Behandlung der Inhaftierten durch die Polizei und das medizinische Personal Folter gleich.

Im Oktober 2017 wurde gegen 37 Polizisten aus der Region Lunigiana im Norden der Toskana Anklage wegen zahlreicher Fälle von Körperverletzung und anderer Verstöße erhoben. In vielen Fällen waren ausländische Staatsangehörige Opfer der Misshandlungen, in zwei Fällen wurden Elektroschlagstöcke eingesetzt. Das Gerichtsverfahren war Ende 2017 noch nicht abgeschlossen.

Todesfälle in Gewahrsam

Nach Abschluss des zweiten Ermittlungsverfahrens zum Tod von Stefano Cucchi, das 2016 eingeleitet worden war, wurde im Juli 2017 Anklage gegen fünf Polizisten erhoben. Stefano Cucchi war 2009 in der Häftlingsabteilung eines römischen Krankenhauses gestorben. Drei der Polizisten wurden wegen Totschlag angeklagt, die beiden anderen wegen Verleumdung und Falschaussage. Das Verfahren war am Jahresende noch anhängig.

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