Amnesty Report Ungarn 19. Februar 2017

Ungarn 2017

Amnesty Report 2016 / 2017

Nach einer 2016 verabschiedeten Verfassungsänderung ist die Regierung befugt, nahezu ohne demokratische Kontrolle den Ausnahmezustand zu verhängen; die Bedingungen dafür sind weit gefasst und vage formuliert. Roma litten nach wie vor unter Diskriminierung und wurden Opfer von vorurteilsmotivierten Straftaten. Trotz zunehmender internationaler Kritik setzte Ungarn die systematische Einschränkung der Rechte von Flüchtlingen und Migranten fort.

ANTITERRORMASSNAHMEN UND SICHERHEIT

Die Regierung weitete die Anwendung der Antiterrorgesetzgebung zunehmend aus. Im Januar 2016 urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) im Verfahren Szabó und Vissy gegen Ungarn, dass das ungarische Polizeigesetz das Recht der Beschwerdeführer auf Respektierung ihres Privat- und Familienlebens verletzt habe, da es die Exekutive ermächtige, ohne ausreichende Beweise und über längere Zeiträume hinweg deren gesamte Kommunikation abzuhören. Nach Ansicht des Gerichts gewährleistete Ungarn keine angemessene richterliche Kontrolle und wirksamen Rechtsbehelfe gegen gesetzwidrige Überwachung.

Im Juni 2016 beschloss das Parlament die sechste Änderung der ungarischen Verfassung und führte die Möglichkeit der Verhängung eines Ausnahmezustands aufgrund einer "terroristischen Bedrohungslage" ein, dessen weitgefasste Definition die Anforderungen internationaler Menschenrechtsnormen nicht erfüllt. Das damit verbundene Maßnahmenpaket würde der Regierung weitreichende Befugnisse ohne richterliche oder umfassende parlamentarische Kontrolle einräumen, u. a. die Einschränkung der Freizügigkeit innerhalb des Landes, das Einfrieren der Vermögenswerte von Staaten, Einzelpersonen, Organisationen und juristischen Personen, das Verbot oder die Einschränkung von Veranstaltungen und öffentlichen Versammlungen sowie die Anwendung nicht näher definierter Sondermaßnahmen zur Verhinderung von Terrorismus. Diese Befugnisse könnten nach 15 Tagen mit Zustimmung des Parlaments noch ausgeweitet werden. Die Sicherheitskräfte hätten im Falle eines derartigen Ausnahmezustands umfangreiche Befugnisse, Schusswaffen in Situationen einzusetzen, die weit über das hinausgehen, was nach Völkerrecht und internationalen Standards erlaubt ist.

Ende November 2016 wurde ein syrischer Staatsbürger zu zehn Jahren Haft wegen "terroristischer Handlungen" verurteilt. Die Anklage stand im Zusammenhang mit seiner Beteiligung an gewaltsamen Zusammenstößen mit ungarischen Grenzschützern an einem Grenzübergang zwischen Serbien und Ungarn im September 2015. Sowohl die Anklage als auch die Verteidigung legten Rechtsmittel gegen das erstinstanzliche Urteil ein.

RECHT AUF VEREINIGUNGSFREIHEIT

2016 musste die angeblich unabhängige Kontrollbehörde der Regierung (Kormányzati Ellenőrzési Hivatal, bekannt als KEHI) nach einer gerichtlichen Anordnung Unterlagen zum Hintergrund ihrer unangemeldeten Überprüfung mehrerer regierungskritischer NGOs im Jahr 2014 offenlegen. Daraus ging hervor, dass die Überprüfung der Organisationen von Ministerpräsident Viktor Orbán persönlich angeordnet worden war.

Im Zuge der Überprüfung hatte die Polizei NGOs durchsucht und Computer beschlagnahmt. Die anschließende langwierige Untersuchung hatte jedoch keinerlei Hinweise auf kriminelle Handlungen der NGOs ergeben. Regierungsvertreter drohten den betroffenen Organisationen jedoch mit weiteren Überprüfungen und trugen damit zur Verunsicherung der Zivilgesellschaft bei.

MEINUNGSFREIHEIT – JOURNALISTEN

Im Oktober 2016 stellte die regierungskritische Zeitung Népszabadság überraschend ihr Erscheinen ein. Alle Journalisten, die für die Zeitung arbeiteten, wurden entlassen. Die Schließung erfolgte einige Tage vor dem Verkauf des Unternehmens an einen der Regierung nahestehenden Geschäftsmann.

JUSTIZSYSTEM

Im Juni 2016 entschied die Große Kammer des EGMR im Verfahren Baka gegen Ungarn, das Land habe gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen, als es den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs seines Amtes enthob, nachdem dieser Gesetzesvorhaben kritisiert hatte. Nach Ansicht des Gerichts wurden Artikel 6 Paragraph 1 (Recht auf Zugang zu einem Gericht) und Artikel 10 (Recht auf freie Meinungsäußerung) der Konvention verletzt.

DISKRIMINIERUNG – ROMA

Im Januar 2016 wies ein Gericht in der Hauptstadt Budapest die Stadtverwaltung von Miskolc an, einen Aktionsplan für die Einwohner des überwiegend von Roma bewohnten Stadtviertels "Nummerierte Straßen", die vertrieben worden waren oder denen die Zwangsräumung drohte, zu erstellen. Der Plan sah für die ungefähr 100 von Zwangsräumung betroffenen Familien jedoch nur 30 Wohneinheiten und keine weiteren finanziellen Mittel für alternative Unterkünfte oder Entschädigungen vor.

Im März 2016 entschied ein Gericht in Eger in erster Instanz, es sei rechtswidrig, dass Roma-Kinder im Verwaltungsbezirk Heves von anderen Kindern getrennt in Schulen und Klassen für Kinder mit besonderem Förderbedarf unterrichtet würden. Im Mai 2016 leitete die Europäische Kommission gegen Ungarn ein Vertragsverletzungsverfahren wegen Diskriminierung von Roma im Bildungsbereich ein.

Hassverbrechen

Die Rechtsprechung in Bezug auf Hassverbrechen war weiterhin widersprüchlich. Im Januar 2016 fällte der Oberste Gerichtshof in letzter Instanz endlich sein Urteil zu einer Mordserie an Roma in den Jahren 2008 und 2009, die sich gezielt gegen diese Bevölkerungsgruppe gerichtet hatte. Dabei waren sechs Personen getötet worden, unter ihnen ein fünfjähriger Junge, und weitere Personen hatten Verletzungen erlitten. Das Gericht bestätigte die lebenslänglichen Haftstrafen, die gegen drei Angeklagte verhängt worden waren. Entgegen europäischen Menschenrechtsnormen ist die Möglichkeit einer Strafaussetzung zur Bewährung ausgeschlossen. Der vierte Angeklagte hatte eine Freiheitsstrafe von 13 Jahren erhalten.

Im April 2016 hob ein Berufungsgericht in Debrecen ein erstinstanzliches Urteil auf. 2015 hatte das Landgericht Eger geurteilt, die Polizei in Gyöngyöspata habe Roma diskriminiert, als sie ihnen im Frühjahr 2011 keinen Schutz vor rechtsradikalen Gruppen geboten habe. Die Hungarian Civil Liberties Union legte beim Obersten Gerichtshof Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Berufungsgerichts ein.

FLÜCHTLINGE UND MIGRANTEN

Ungarn schränkte die Einreise von Flüchtlingen und Asylsuchenden 2016 weiterhin stark ein. Tausende Menschen wurden wegen des Einreisens ohne offizielle Erlaubnis über die an der südlichen Grenze errichteten Zäune zu Straftätern erklärt. Obwohl die Zahl der Neuankömmlinge stark zurückging, verlängerte die Regierung den von ihr ausgerufenen "Notstand wegen Masseneinwanderung" und setzte entlang der Grenze mehr als 10000 Polizisten und Soldaten ein. Bis zum Jahresende wurden mehr als 3000 Personen wegen des Einreisens ohne Erlaubnis vor Gericht gestellt und abgeschoben, ohne dass ihre Schutzbedürftigkeit gründlich geprüft worden war. Nach einer Reihe von Gesetzesänderungen konnten alle ausländischen Staatsangehörigen, die ohne gültige Einreisedokumente an der Grenze oder bis zu acht km vom Grenzzaun entfernt angetroffen wurden, sofort wieder zurückgeschoben werden. 16000 Personen wurde die Einreise verweigert, oder sie wurden umgehend nach Serbien zurückgeschickt, in einigen Fällen unter Anwendung von Gewalt.

Am 31. März 2016 wurde die Türkei in die von der Regierung aufgestellte Liste der "sicheren Herkunftsstaaten" und "sicheren Drittstaaten" aufgenommen. Gesetzesänderungen, die das Parlament im Mai verabschiedete, schränkten den Zugang von Menschen mit Schutzstatus zu Wohnungen, Gesundheitsfürsorge und Integrationsprogrammen beträchtlich ein.

Ungarn weigerte sich, Asylsuchende auf Grundlage der Dublin-Verordnung zurückzunehmen, und setzte die Zusammenarbeit mit anderen EU-Staaten diesbezüglich aus. Das Land versuchte seinerseits, mindestens 2500 Asylsuchende, die sich in Ungarn aufhielten, nach Griechenland abzuschieben, obwohl es angesichts der systemischen Mängel im griechischen Asylsystem Vorbehalte gegen Rückführungen in das Land gab, die der EGMR bestätigt hatte.

Der Zustand des ungarischen Asylsystems veranlasste mehrere europäische Länder, keine Personen mehr nach Ungarn zurückzuschicken. In einigen Fällen wurde sogar empfohlen, die in der Dublin-Verordnung vereinbarte Rückführung von Flüchtlingen in die Länder, in denen sie als Erstes in die EU eingereist waren, ganz aufzuheben.

Die Inhaftierung von Asylsuchenden in Ungarn erfolgte weiterhin ohne die notwendigen Schutzvorkehrungen, die sicherstellen, dass eine Inhaftierung rechtmäßig, notwendig und verhältnismäßig ist. Im Juli 2016 entschied der EGMR im Verfahren O.M. gegen Ungarn, dass Ungarn durch die Inhaftierung eines homosexuellen Asylsuchenden dessen Recht auf Freiheit und Sicherheit verletzt habe. Der Gerichtshof erklärte, die Behörden hätten keine individuelle Bewertung seiner Situation vorgenommen, um die Inhaftierung zu rechtfertigen. Außerdem sei die Schutzbedürftigkeit des Betroffenen in der Haftanstalt aufgrund seiner sexuellen Orientierung nicht ausreichend berücksichtigt worden.

Die Regierung gab mehr als 20 Mio. Euro für Informationskampagnen aus, in denen Flüchtlinge und Migranten als Kriminelle und Bedrohung für die nationale Sicherheit dargestellt wurden. Im Oktober 2016 hielt die Regierung ein Referendum über die von ihr abgelehnten EU-Quoten zur Umverteilung von Flüchtlingen ab. Die Abstimmung war jedoch wegen zu geringer Beteiligung ungültig. Ungarn reicht, ebenso wie die Slowakei, beim Europäischen Gerichtshof gegen die vom Europäischen Rat beschlossenen Quoten zur Umverteilung von Flüchtlingen Klage ein. Eine Entscheidung des Gerichts stand Ende 2016 noch aus.

Im November 2016 veröffentlichte der Europäische Ausschuss zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe einen Bericht über Haftanstalten für Migranten und Asylsuchende in Ungarn. Darin wurde festgestellt, dass zahlreiche ausländische Staatsangehörige, unter ihnen auch unbegleitete Minderjährige, über körperliche Misshandlungen durch Polizisten berichtet hätten. Die Regierung wies die Vorwürfe zurück.

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