Amnesty Report Kirgisistan 17. Mai 2017

Kirgisistan 2017

Amnesty Report 2016 / 2017

Der gewaltlose politische Gefangene Azimjan Askarov blieb 2016 weiter in Haft, obwohl der UN-Menschenrechtsausschuss darauf drängte, ihn unverzüglich freizulassen. Ein Gesetz über "ausländische Agenten", das sich negativ auf NGOs ausgewirkt hätte, wurde vom Parlament abgelehnt. Über einen Gesetzentwurf, der vorsah, "Propaganda für nichttraditionelle sexuelle Beziehungen" unter Strafe zu stellen, wurde jedoch weiter beraten. Eine Verfassungsreform enthielt Änderungen, die den Schutz der Menschenrechte bedrohten. Personen, die für Folter verantwortlich waren, blieben ebenso straffrei wie diejenigen, die Gewaltverbrechen gegen Frauen verübten. Polizeieinsätze gegen Sexarbeiterinnen hatten diskriminierenden Charakter. Nach wie vor unternahmen die Behörden keine ernsthaften Anstrengungen, um die gewaltsamen Auseinandersetzungen vom Juni 2010 in Osch und Dschalalabat wirksam zu untersuchen.

GEWALTLOSE POLITISCHE GEFANGENE

Am 31. März 2016 forderte der UN-Menschenrechtsausschuss Kirgisistan nachdrücklich auf, den gewaltlosen politischen Gefangenen Azimjan Askarov unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Der ethnisch usbekische Menschenrechtsverteidiger war im Jahr 2010 zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt worden, weil er angeblich an ethnisch motivierten Zusammenstößen und dem Mord an einem Polizisten beteiligt war. Der Menschenrechtsausschuss vertrat die Ansicht, Askarov sei willkürlich festgenommen und gefoltert worden. Außerdem habe man ihm das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren verweigert. Als Reaktion darauf überprüfte der Oberste Gerichtshof am 11. und 12. Juli 2016 den Fall. Er folgte jedoch nicht der Aufforderung des Ausschusses, Azimjan Askarov unverzüglich freizulassen, sondern ordnete die Wiederaufnahme des Verfahrens an. Dieses wurde am 4. Oktober 2016 am Regionalgericht Tschüi eröffnet; bis Ende Dezember nahm Azimjan Askarov an allen zehn Anhörungen teil, wobei er in einem Metallkäfig saß.

RECHT AUF VEREINIGUNGSFREIHEIT

Im Mai 2016 lehnte das Parlament ein erstmals 2014 eingebrachtes Gesetz über "ausländische Agenten" in dritter Lesung ab. Es hätte NGOs, die Geld aus dem Ausland erhalten und vage definierten "politischen Aktivitäten" nachgehen, verpflichtet, sich als "ausländische Agenten" registrieren zu lassen und diese stigmatisierende Bezeichnung in der Öffentlichkeit zu führen.

RECHTE VON LESBEN, SCHWULEN, BISEXUELLEN, TRANSGESCHLECHTLICHEN UND INTERSEXUELLEN

Ein Gesetzentwurf, der vorsah, "die Förderung einer positiven Einstellung" gegenüber "nichttraditionellen sexuellen Beziehungen" unter Strafe zu stellen, wurde im Mai 2016 vom Parlamentsausschuss für Recht, Ordnung und Verbrechensbekämpfung wegen "Beratungsbedarfs" zurückgezogen. Aktivisten, die sich für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgeschlechtlichen und Intersexuellen einsetzen, erklärten, auch wenn das Gesetz noch nicht beschlossen sei, werfe es seine Schatten voraus und schränke sie in ihren Aktivitäten ein.

GESETZLICHE, VERFASSUNGSRECHTLICHE UND INSTITUTIONELLE ENTWICKLUNGEN

In einem Referendum entschieden sich die Wähler am 11. Dezember 2016 für eine Verfassungsänderung, die den Schutz der Menschenrechte untergräbt. Die Änderungen sehen u. a. vor, Bestimmungen über "oberste staatliche Werte" einzuführen und den bisher in der Verfassung festgelegten Vorrang des internationalen Rechts gegenüber dem nationalen Recht abzuschwächen. Eine Änderung im Artikel über Ehe und Familie schreibt zudem fest, dass die Familie auf einer Verbindung zwischen einer Frau und einem Mann gründet; die gegenwärtige Verfassung enthält diese Formulierung nicht.

DISKRIMINIERUNG – SEXARBEITERINNEN

Im Juni und Juli 2016 fanden in der Hauptstadt Bischkek, in der angrenzenden Region Tschüi sowie in Osch im Süden des Landes koordinierte und zielgerichtete Polizeieinsätze in den Gegenden statt, in denen Sexarbeiterinnen üblicherweise anzutreffen sind. Die Polizei nahm die Frauen fest, die sie dort vorfand, und bestrafte sie. Sexarbeit ist in Kirgisistan nicht verboten, dennoch erhielten einige der Frauen Verwaltungsstrafen wegen "geringfügigen Rowdytums" oder weil sie keine Ausweispapiere vorlegen konnten. Hochrangige Polizeibeamte äußerten sich im Juni 2016 in diskriminierender und stigmatisierender Weise über Sexarbeiterinnen. Sie forderten, die Straßen müssten "gesäubert werden", und warben für "Nachbarschaftspatrouillen". Diese sollten Frauen fotografieren, die sie für Sexarbeiterinnen hielten, und die Fotos an die Polizei weitergeben. Es war zu befürchten, dass dadurch Einschüchterungen und Gewalttaten von nationalistischen Gruppen und anderen nichtstaatlichen Akteuren gegen Sexarbeiterinnen zunehmen könnten. Diese hatten Sexarbeiterinnen bereits in der Vergangenheit ins Visier genommen.

NGOs wiesen darauf hin, dass Sexarbeiterinnen nur eingeschränkten Zugang zur Gesundheitsfürsorge hatten, dies galt auch für Dienste im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit. Sexarbeit ist in Kirgisistan in hohem Maße stigmatisiert. Einrichtungen zur Gesundheitsfürsorge diskriminierten Sexarbeiterinnen, indem sie ihnen die Behandlung verweigerten, ihnen eine minderwertige Behandlung anboten oder sich nicht an die Schweigepflicht hielten. Viele Sexarbeiterinnen besaßen keine Ausweispapiere, da diese sich ohne feste Adresse nur schwer erneuern lassen. Fehlende Ausweispapiere erschwerten wiederum den Zugang von Sexarbeiterinnen zur Gesundheitsfürsorge und anderen grundlegenden Diensten.

STRAFLOSIGKEIT

Folter und andere Misshandlungen waren immer noch weit verbreitet. Die Täter wurden nach wie vor nicht zur Rechenschaft gezogen. Gerichtsverfahren, in denen es um Foltervorwürfe ging, zogen sich oft über Monate oder Jahre hin.

Die Behörden unternahmen 2016 weiterhin keine ernsthaften Anstrengungen, um die ethnisch motivierten Auseinandersetzungen im Süden des Landes im Juni 2010 wirksam zu untersuchen. Dabei hatten sowohl ethnische Kirgisen als auch ethnische Usbeken Gewalt angewandt, auf usbekischer Seite waren jedoch mehr Tote und Verletzte und größere Schäden zu verzeichnen. Die strafrechtliche Verfolgung richtete sich jedoch unverhältnismäßig oft gegen ethnische Usbeken.

Im Fall von Usmanzhan Khalmirzaev, einem ethnischen Usbeken mit russischer Staatsbürgerschaft, der im August 2011 an seinen Verletzungen gestorben war, nachdem er von der Polizei festgenommen und verprügelt worden war, wurde niemand zur Rechenschaft gezogen. Vier Polizisten, die beschuldigt wurden, in seinen Tod verwickelt zu sein, waren im Oktober 2015 aus Mangel an Beweisen freigesprochen worden. Am 22. Juli 2016 bestätigte ein Richter des Regionalgerichts Tschüi den Freispruch.

GEWALT GEGEN FRAUEN UND MÄDCHEN

Häusliche Gewalt, Zwangsverheiratungen und andere Formen der Gewalt gegen Frauen und Mädchen waren unvermindert an der Tagesordnung. In den meisten Fällen gingen die Betroffenen nicht zur Polizei, weil sie kein Vertrauen in Polizei und Justiz hatten und Diskriminierung und gesellschaftliche Stigmatisierung befürchteten. Mangelnde ökonomische Möglichkeiten erschwerten es Frauen, missbräuchliche Beziehungen zu verlassen und selbstständig zu leben, vor allem dann, wenn sie ihre Kinder mitnehmen wollten.

Nach Angaben des Nationalen Statistikausschusses wurden zwischen Januar und Oktober 2016 insgesamt 4960 Fälle von familiärer Gewalt angezeigt, in 158 der Fälle wurden strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet.

Ein Gesetz, das minderjährige Mädchen vor Früh- und Zwangsverheiratung schützen soll, wurde vom Parlament im Oktober 2016 abschließend gebilligt und am 18. November vom Präsidenten in Kraft gesetzt. Es sieht Haftstrafen von bis zu fünf Jahren für Personen vor, die in irgendeiner Weise an der Organisation oder Durchführung einer religiösen Hochzeitszeremonie beteiligt sind, bei der die Braut oder der Bräutigam oder beide unter 18 Jahre alt sind. Dazu zählen sowohl Religionsvertreter als auch die Eltern des Paares.

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