Amnesty Report 16. Mai 2017

Kamerun 2017

Amnesty Report 2016 / 2017

Die bewaffnete Gruppe Boko Haram verübte 2016 in der Region Extrême-Nord weiterhin schwere Menschenrechtsverstöße und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht. Sie war u. a. für die Tötung und Entführung Hunderter Zivilpersonen verantwortlich. Die staatlichen Stellen und Sicherheitskräfte, die Boko Haram bekämpften, begingen ihrerseits Menschenrechtsverletzungen, wie willkürliche Festnahmen, Haft ohne Kontakt zur Außenwelt, Folter und Verschwindenlassen. Als Folge des Konflikts waren seit 2014 mehr als 170000 Menschen aus ihrer Heimat geflohen. Die Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit waren weiterhin eingeschränkt. Ende Oktober 2016 gingen die Sicherheitskräfte gewaltsam gegen Demonstrationen im englischsprachigen Teil des Landes vor. Journalisten, Studierende, Menschenrechtsverteidiger und Mitglieder von Oppositionsparteien wurden festgenommen und in einigen Fällen vor Militärgerichte gestellt. Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgeschlechtliche und Intersexuelle wurden weiterhin diskriminiert, eingeschüchtert und schikaniert, allerdings sank die Zahl der Festnahmen und Strafverfahren weiter.

MENSCHENRECHTSVERSTÖßE DURCH BEWAFFNETE GRUPPEN – BOKO HARAM

Boko Haram beging völkerrechtliche Verbrechen und Menschenrechtsverstöße, darunter Selbstmordanschläge auf die Zivilbevölkerung, summarische Hinrichtungen, Folter, Geiselnahmen, Entführungen, Rekrutierungen von Kindersoldaten, Plünderungen und Zerstörungen von staatlichem und privatem Eigentum sowie von religiösen Einrichtungen. Die bewaffnete Gruppe verübte 2016 mindestens 150 Angriffe, darunter 22 Selbstmordanschläge, bei denen mindestens 260 Zivilpersonen getötet wurden. Die Verbrechen waren Teil einer Angriffsstrategie, die sich gezielt gegen die Zivilbevölkerung in der Region des Tschadsees richtete.

Mit Angriffen auf Märkte, Moscheen, Kirchen, Schulen und Bushaltestellen wollte Boko Haram bewusst die Zivilbevölkerung treffen. Allein im Januar 2016 wurden bei mindestens neun Selbstmordanschlägen mehr als 60 Zivilpersonen getötet. Ein Selbstmordanschlag auf eine Beerdigungsgesellschaft, den zwei Frauen am 10. Februar in der 60 km von Maroua entfernten Ortschaft Nguéchéwé verübten, tötete mindestens neun Zivilpersonen, unter ihnen ein Kind. Mehr als 40 weitere Personen wurden verletzt. Am 19. Februar verübten zwei Attentäterinnen einen Selbstmordanschlag auf einen stark besuchten Markt in der Ortschaft Meme bei Mora. Dabei wurden mindestens 24 Zivilpersonen getötet und 112 weitere verletzt. Bei Selbstmordanschlägen auf Märkte in Mora am 21. August und am 25. Dezember 2016 starben insgesamt fünf Personen, mindestens 34 trugen Verletzungen davon.

WILLKÜRLICHE FESTNAHMEN UND INHAFTIERUNGEN

Die Sicherheitskräfte nahmen nach wie vor Menschen willkürlich fest, denen sie vorwarfen, Boko Haram zu unterstützen, auch wenn es dafür oft nur schwache oder gar keine Beweise gab, und inhaftierten sie unter unmenschlichen, häufig sogar lebensbedrohlichen Bedingungen. Hunderte Verdächtige wurden in inoffiziellen Hafteinrichtungen festgehalten, z. B. auf Militärstützpunkten oder in Gebäuden der Geheimdienste, ohne Zugang zu ihren Familien und Rechtsbeiständen.

Die Sicherheitskräfte riegelten weiterhin Gebiete ab und durchsuchten sie. Dabei kam es zu Massenfestnahmen.

FOLTER, TOD IN GEWAHRSAM UND VERSCHWINDENLASSEN

Zahlreiche Männer, Frauen und Minderjährige, die im Verdacht standen, Boko Haram zu unterstützen, wurden gefoltert – entweder von Angehörigen einer Eliteeinheit der Armee (Bataillon d’Intervention Rapide) am Militärstandort Salak bei Maroua oder von Mitarbeitern des Geheimdienstes (Direction Dénérale de la Recherche Extérieure – DGRE) in dessen Gebäuden in der Hauptstadt Yaoundé. Einige starben aufgrund der Folter, andere fielen dem Verschwindenlassen zum Opfer.

RECHTE AUF MEINUNGS-, VERSAMMLUNGS- UND VEREINIGUNGSFREIHEIT

Menschenrechtsverteidiger, zivilgesellschaftlich engagierte Bürger und Journalisten wurden 2016 weiterhin eingeschüchtert, schikaniert und bedroht. Journalisten gaben an, angesichts der eingeschränkten Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit vermehrt Selbstzensur zu üben, da sie negative Auswirkungen befürchteten, wenn sie die Politik der Regierung kritisierten, vor allem was die innere Sicherheit betraf.

Die Vorsitzende der Kamerunischen Volkspartei (Cameroon People’s Party), Kah Walla, wurde 2016 mehrfach willkürlich festgenommen. Am 8. April 2016 wurde sie gemeinsam mit elf weiteren Parteimitgliedern in der Wache der Kriminalpolizei im Stadtviertel Elig-Essono in Yaoundé inhaftiert. Man warf ihr "Aufstand und Rebellion gegen den Staat" vor, weil sie friedlich gegen die Regierung protestiert hatte. Am 20. Mai 2016 nahm der Geheimdienst Direction de la Surveillance du Territoire Kah Walla und 14 weitere Parteimitglieder in Yaoundé in Gewahrsam wegen "Rebellion, Anstiftung zu Aufstand und Anstiftung zu Revolte". Alle kamen am selben Tag ohne jede Erklärung wieder frei. Am 28. Oktober 2016 nahm die Polizei Kah Walla in den Räumen ihrer Partei in Yaoundé fest und inhaftierte sie in der Zentralen Polizeiwache Nr. 1 der Hauptstadt gemeinsam mit 50 Unterstützern, die sich zum gemeinsamen Gebet für die Opfer des Zugunglücks von Eseka versammelt hatten. Die Inhaftierung erfolgte ohne Haftbefehl. Nach mehr als sieben Stunden wurden alle ohne Anklageerhebung freigelassen. Der Grund für die Inhaftierung wurde nicht genannt.

Ende Oktober 2016 traten Rechtsanwälte, Studierende und Lehrkräfte aus den englischsprachigen Gebieten Kameruns in den Streik, um gegen die ihrer Ansicht nach im Land herrschende Ausgrenzung der englischsprachigen Minderheit zu protestieren. Es kam zu Protesten in mehreren Städten im Südwesten und Nordwesten des Landes, u. a. in Bamenda, Kumba und Buea. Die Sicherheitskräfte inhaftierten Demonstrierende willkürlich und lösten die Kundgebungen unter Einsatz exzessiver Gewalt auf. Bei einer Demonstration in Bamenda im Nordwesten des Landes führte der Einsatz scharfer Munition durch die Sicherheitskräfte am 8. Dezember 2016 zum Tod von zwei bis vier Personen.

UNFAIRE GERICHTSVERFAHREN

Wie in den Vorjahren wurden auch 2016 Personen vor Militärgerichte gestellt, deren Verfahren nicht die Standards der Fairness erfüllten.

Am 29. Februar 2016 begann vor dem Militärgericht in Yaoundé der Prozess gegen Ahmed Abba. Der Korrespondent des Senders Radio France Internationale war im Juli 2015 in Maroua festgenommen worden. Die Anklage warf ihm vor, er sei "Komplize der Terroristen" und habe Informationen, die er im Zuge seiner journalistischen Arbeit von Boko-Haram-Mitgliedern erhielt, nicht an die Behörden weitergeleitet. Ahmed Abba war nach seiner Festnahme drei Monate lang ohne Kontakt zur Außenwelt in Haft gehalten und gefoltert worden. Der Prozess war von zahlreichen Mängeln gekennzeichnet. So wurden u. a. Zeugen nicht geladen, und die Verteidigung erhielt keine Akteneinsicht.

Das Gerichtsverfahren gegen die drei Journalisten Rodrigue Tongué, Felix Ebole Bola and Baba Wamé vor dem Militärgericht in Yaoundé wurde 2016 fortgesetzt. Sie waren im Oktober 2014 angeklagt worden, weil sie Informationsquellen nicht offenlegen wollten. Im Falle einer Verurteilung drohten ihnen bis zu fünf Jahre Haft. Das Gerichtsverfahren war von zahlreichen inhaltlichen und verfahrensrechtlichen Mängeln gekennzeichnet. So weigerten sich die Richter u. a., Zeugen anzuhören. Außer den drei Journalisten standen auch der Vorsitzende der Partei Mouvement Patriotique du Salut Camerounais, Aboubakar Siddiki, und der bekannte Notar Abdoulaye Harissou vor Gericht. Beide hatten sich nach ihrer Festnahme im August 2014 mehr als 40 Tage lang ohne Kontakt zur Außenwelt im Gewahrsam des Geheimdienstes DGRE befunden, bevor sie in das Zentralgefängnis von Yaoundé überstellt wurden. Die Anklage warf ihnen illegalen Waffenbesitz, Einsatz von Kriegswaffen, Mord, Revolution, Beleidigung des Staatsoberhaupts und "Feindseligkeit gegenüber dem Staat" vor.

Am 2. November 2016 verurteilte ein Militärgericht in Yaoundé Fomusoh Ivo Feh zu zehn Jahren Haft wegen "Nichtanzeige einer terroristischen Straftat". Er war im Dezember 2014 in Limbe festgenommen worden, nachdem er eine sarkastische SMS zu Boko Haram weitergeleitet hatte. Der Prozess war von zahlreichen Unregelmäßigkeiten gekennzeichnet. So erhielt Fomusoh Ivo Feh keinen Dolmetscher, und die Beweise, die zu dem Schuldspruch führten, waren äußerst begrenzt und nicht nachprüfbar.

STRAFLOSIGKEIT

Am 11. Juli 2016 erklärte der Staatssekretär des Verteidigungsministeriums, der für die Gendarmerie zuständig ist, man werde eine Untersuchungskommission zur Aufklärung von Straftaten der Sicherheitskräfte im Kampf gegen die bewaffnete Gruppe Boko Haram einrichten. Nähere Angaben wurden dazu nicht gemacht.

Im August 2016 begann vor dem Militärgericht in Yaoundé der Prozess gegen den Gendarmerieoberst Zé Onguéné Charles, der sich wegen Fahrlässigkeit und Verletzung des Gesetzes über Polizeigewahrsam verantworten musste. Der Oberst war verantwortlich für die Region, in der am 27. und 28. Dezember 2014 im Gewahrsam der Gendarmerie mindestens 25 Männer starben, denen vorgeworfen worden war, Boko Haram unterstützt zu haben.

HAFTBEDINGUNGEN

Die Haftbedingungen waren 2016 weiterhin schlecht und geprägt von chronischer Überbelegung der Gefängnisse, mangelhafter Ernährung, unzureichender medizinischer Versorgung und miserablen sanitären Einrichtungen und hygienischen Zuständen. Im Gefängnis von Maroua waren etwa 1400 Personen inhaftiert und damit mehr als dreimal so viele, wie ursprünglich vorgesehen. Im Zentralgefängnis von Yaoundé, das für maximal 2000 Personen ausgelegt war, befanden sich etwa 4000 Inhaftierte. Mutmaßliche Boko-Haram-Unterstützer waren dort bis August 2016 ständig angekettet.

Die Hauptursachen für die Überbelegung waren die Massenfestnahmen mutmaßlicher Boko-Haram-Unterstützer, die hohe Zahl von Inhaftierten, die ohne Anklageerhebung festgehalten wurden, und das ineffiziente Justizsystem. Die Regierung versprach, neue Gefängnisse zu bauen, und begann damit, das Gefängnis in Maroua um zwölf Zellen zu erweitern. Die Maßnahmen wurden jedoch als unzureichend für die Lösung des Problems angesehen.

RECHTE VON FLÜCHTLINGEN UND MIGRANTEN

Im Grenzgebiet zur Zentralafrikanischen Republik im Südosten Kameruns lebten mindestens 276000 Flüchtlinge aus der Zentralafrikanischen Republik unter extrem schlechten Bedingungen in überfüllten Lagern oder bei Familien, die sie aufgenommen hatten. In der Region Extrême-Nord bot das UN-geführte Flüchtlingslager Minawao etwa 59000 Flüchtlingen aus Nigeria Unterkunft. Ungefähr 27000 weitere nigerianische Flüchtlinge, die nicht im Lager lebten, befanden sich in einer schwierigen Situation, da es ihnen an Lebensmitteln und Grundversorgungsleistungen mangelte und sie zudem von den Sicherheitskräften schikaniert wurden. Außerdem gab es aufgrund der unsicheren Lage, für die sowohl Boko Haram als auch die Armee verantwortlich war, etwa 199000 Binnenvertriebene in der Region Extrême-Nord. Ende 2016 schlossen Kamerun, Nigeria, die Zentralafrikanische Republik und der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge Vereinbarungen, um die freiwillige Rückkehr von Flüchtlingen zu erleichtern.

RECHTE VON LESBEN, SCHWULEN, BISEXUELLEN, TRANSGESCHLECHTLICHEN UND INTERSEXUELLEN

Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgeschlechtliche und Intersexuelle waren weiterhin Diskriminierung, Einschüchterungen, Schikanen und Gewalt ausgesetzt. Gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen waren weiterhin strafbar, daran änderte auch eine im Juni 2016 verabschiedete Reform des Strafgesetzbuchs nichts.

Am 2. August wurden in Yaoundé drei junge Männer festgenommen und auf eine Wache der Gendarmerie gebracht. Dort wurden sie geschlagen und beleidigt. Außerdem wurden ihre Haare zum Teil abrasiert. Die Gendarmen schütteten kaltes Wasser über die Männer, zwangen sie, das Gebäude zu putzen, und drängten sie, ihre sexuelle Orientierung zu "gestehen". Die Männer kamen nach 24 Stunden frei, nachdem ein Bestechungsgeld gezahlt worden war.

RECHT AUF EINEN ANGEMESSENEN LEBENSSTANDARD

Die Gewalt von Boko Haram sorgte dafür, dass sich die schwierige Lage der Bevölkerung in der Region Extrême-Nord weiter verschlechterte, da grundlegende Sozialleistungen nur noch eingeschränkt zugänglich waren und Handel, Landwirtschaft und nomadische Viehwirtschaft zum Erliegen kamen. Etwa 1,4 Mio. Menschen in der Region waren von Ernährungsunsicherheit betroffen bzw. auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen, die meisten von ihnen Minderjährige. Wegen der unsicheren Lage mussten 144 Schulen und 21 Gesundheitszentren schließen.

Eine Änderung des Strafgesetzbuchs, die im Juli 2016 in Kraft trat, sah vor, dass Mieter, die mit der Mietzahlung mehr als zwei Monate im Rückstand sind, zu Freiheitsstrafen bis zu drei Jahren Gefängnis verurteilt werden können. Ungefähr ein Drittel der Haushalte lebte in Mietwohnungen, und fast die Hälfte der Bevölkerung Kameruns lebte unterhalb der Armutsgrenze.

TODESSTRAFE

Nach wie vor wurden Menschen, die wegen Unterstützung von Boko Haram angeklagt waren, in unfairen Gerichtsverfahren von Militärgerichten zum Tode verurteilt. In fast allen Fällen stützte sich die strafrechtliche Verfolgung auf das mit gravierenden Mängeln behaftete Antiterrorgesetz, das im Dezember 2014 verabschiedet worden war. Hinrichtungen wurden 2016 nicht vollstreckt.

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