Algerien 2016
Die Behörden schränkten die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit ein, nahmen friedliche Demonstrierende, Aktivisten und Journalisten fest, inhaftierten sie und gingen strafrechtlich gegen sie vor. Das Strafgesetzbuch wurde abgeändert, um Frauen besser vor gewaltsamen Übergriffen zu schützen. Die Verantwortlichen für Folter und andere schwere Menschenrechtsverstöße während der 1990er Jahre gingen nach wie vor straffrei aus. Die Gerichte verhängten Todesurteile, Hinrichtungen gab es jedoch keine.
Hintergrund
Im Januar 2015 fanden im Süden Algeriens noch nie dagewesene Proteste gegen Fracking statt – eine Methode, bei der Gestein hydraulisch aufgebrochen wird, um daraus Schiefergas zu gewinnen.
Im Juli 2015 kamen bei gewaltsamen Auseinandersetzungen im 600 km südlich der Hauptstadt Algier gelegenen M’zab-Tal mindestens 25 Menschen ums Leben, einige weitere Personen wurden verletzt.
Laut Medienberichten kam es in verschiedenen Landesteilen zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und bewaffneten oppositionellen Gruppen. Die Behörden erklärten, dass 109 mutmaßliche Angehörige bewaffneter Gruppen von den Sicherheitskräften getötet worden seien, gaben jedoch nur wenig über die Umstände dieser Tötungen bekannt. Die bewaffnete Gruppe Al-Qaida im islamischen Maghreb erklärte, sie habe im Juli einen Angriff in der nördlichen Provinz Ain Defla durchgeführt, bei dem 14 Soldaten getötet wurden.
Die Regierung verweigerte nach wie vor die seit langem geforderten Besuche von UN-Institutionen und -Experten zu den Themen Folter, Kampf gegen den Terrorismus, Verschwindenlassen und Vereinigungsfreiheit.
Recht auf Versammlungsfreiheit
Im Januar 2015 kam es in Laghouat, einer Stadt im Süden des Landes, zu Protesten gegen die Arbeitslosigkeit. Die Regierung reagierte mit Festnahmen von friedlichen Aktivisten und Protestierenden, von denen einige auch ihre Solidarität mit inhaftierten Aktivisten ausdrücken wollten. Etliche der Festgenommenen wurden strafrechtlich verfolgt. Ihnen wurde u.a. vorgeworfen, an "unbewaffneten Versammlungen" teilgenommen zu haben. Mohamed Rag, Belkacem Khencha und weitere Angehörige des Nationalen Komitees zur Verteidigung der Rechte der Arbeitslosen (Comité National pour la Défense des Droits de Chômeurs – CNDDC) erhielten Freiheitsstrafen zwischen zwölf und 18 Monaten, von denen ein Berufungsgericht einige herabsetzte. Im März 2015 verurteilte ein Gericht in der im Süden des Landes gelegenen Stadt El Oued fünf friedliche Demonstrierende zu Haftstrafen von bis zu vier Monaten. Ende 2015 befanden sich die Verurteilten noch in Erwartung ihrer Berufungsverhandlung vor dem Hohen Gericht auf freiem Fuß. Im Oktober 2015 wurden sieben Protestierende vor einem Gericht in Tamanrasset zu einjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Im Berufungsverfahren wurden die Haftstrafen von sechs der Angeklagten zur Bewährung ausgesetzt.
Die Behörden untersagten weiterhin alle Demonstrationen in der Hauptstadt Algier. Im Februar 2015 unterbanden Sicherheitskräfte eine friedliche Versammlung zur Unterstützung von Fracking-Gegnern. Als die Demonstrierenden am Ort der Kundgebung eintrafen, wurden sie festgenommen und mehrere Stunden lang in Gewahrsam gehalten.
Im Juni löste die Polizei gewaltsam eine friedliche Protestkundgebung von SOS Disparus auf, einer Gruppe, die sich für die Opfer des Verschwindenlassens während des bewaffneten internen Konflikts in den 1990er-Jahren einsetzt. Unter den Festgenommenen befanden sich auch betagte Angehörige von "Verschwundenen", deren Schicksal die Behörden noch immer nicht offengelegt haben.
Recht auf freie Meinungsäußerung
Die Behörden gingen wegen "Beleidigung", "Diffamierung" und ähnlicher Vorwürfe strafrechtlich gegen Journalisten, Karikaturisten, Aktivisten und andere Personen vor.
Im Februar 2015 befand ein Gericht in Oran Mohamed Chergui für schuldig, den Propheten Mohammed diffamiert zu haben. Zuvor hatte sich der Arbeitgeber von Mohamed Chergui, die Tageszeitung El Djoumhouria, über einen Artikel beschwert, den er zur Veröffentlichung eingereicht hatte und der auf der Grundlage ausländischer wissenschaftlicher Forschung über den Islam verfasst worden war. Mohamed Chergui wurde in Abwesenheit zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe von 200000 Algerischen Dinar (rund 1700 Euro) verurteilt. Die Gefängnisstrafe wurde später auf eine einjährige Bewährungsstrafe reduziert. Mohamed Chergui legte Rechtsmittel ein.
Im März 2015 verurteilte ein Gericht in El Oued den Antikorruptions- und CNDDC-Aktivisten Rachid Aouine wegen "Aufwiegelung zu einer unbewaffneten Versammlung" zu einer Geldstrafe von 20000 Algerischen Dinar (rund 180 Euro) und einer sechsmonatigen Freiheitsstrafe, die vom Berufungsgericht auf vier Monate herabgesetzt wurde. Die Anklage bezog sich auf einen sarkastischen Kommentar, den er auf Facebook veröffentlicht hatte.
Der Journalist Abdelhai Abdessamia kam im September nach mehr als zwei Jahren Untersuchungshaft auf Kaution frei. Er hatte für die Tageszeitungen Djaridati und Mon Journal gearbeitet, bevor diese 2013 auf Anordnung der Behörden ihren Betrieb einstellen mussten, weil sie über den Gesundheitszustand von Präsident Bouteflika berichtet hatten. Die Behörden warfen Abdelhai Abdessamia vor, den Chefredakteur der Zeitungen von Algerien nach Tunesien geschmuggelt zu haben. Nach seiner Festnahme im Jahr 2013 hielten Polizeibeamte Abdelhai Abdessamia willkürlich sechs Tage lang in Haft, was einer Verletzung des algerischen Rechts gleichkommt. Danach übergaben sie ihn der nationalen Gendarmerie und dem Militärgeheimdienst zum Verhör.
Im Oktober 2015 wurde Hassan Bouras, ein führendes Mitglied der Algerischen Liga für die Verteidigung der Menschenrechte (Ligue Algérienne pour la Défense des Droits de l'Homme), in der Stadt El Bayadh im Nordwesten des Landes von Sicherheitskräften festgenommen. Ende 2015 befand er sich nach wie vor in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe gegen ihn lauteten auf "Diffamierung einer öffentlichen Institution" und "Anstiftung von Staatsangehörigen bzw. Einwohnern, mit Waffengewalt gegen die Behörden bzw. gegeneinander vorzugehen" und könnten mit der Todesstrafe geahndet werden.
Im November verurteilte ein Gericht in El Oued den Karikaturisten Tahar Djehiche zu sechs Monaten Haft und einer Geldstrafe von 500000 Algerischen Dinar (rund 4200 Euro). Ihm wurde vorgeworfen, in einem Facebook-Beitrag Präsident Bouteflika "beleidigt" und andere dazu "angestiftet" zu haben, sich an einer Demonstration gegen Fracking zu beteiligen. Zuvor war er jedoch bereits von einem erstinstanzlichen Gericht freigesprochen worden. Ende 2015 befand sich Tahar Djehiche noch in Erwartung seines Berufungsverfahrens vor dem Hohen Gericht auf freiem Fuß.
Recht auf Vereinigungsfreiheit
Organisationen, die ihre Registrierung gemäß Gesetz 12-06 beantragten – darunter auch die algerische Sektion von Amnesty International –, wurden von den Behörden im Unklaren gelassen und erhielten auf ihre Anträge keine Antwort. Das Gesetz, welches 2012 in Kraft getreten war, enthält weitreichende und willkürliche Einschränkungen bezüglich der Registrierung von Vereinigungen. Die Mitgliedschaft in einer nicht registrierten, vorübergehend geschlossenen oder aufgelösten Organisation ist eine Straftat und wird mit einer Gefängnisstrafe von bis zu sechs Monaten sowie einem Bußgeld belegt.
Menschenrechtsverteidiger
Im August 2015 nahmen die italienischen Behörden den algerischen Menschenrechtsanwalt und in der Schweiz lebenden politischen Flüchtling Rachid Mesli fest. Rachid Mesli ist der Gründer der in Genf ansässigen Menschenrechtsorganisation Alkarama. Die Festnahme erfolgte nach einem Auslieferungsantrag der algerischen Behörden, die ihn bezichtigten, für terroristische Gruppen Telefone und Kameras beschafft zu haben. Wegen dieses Vorwurfs war er in Abwesenheit auf der Grundlage eines "Geständnisses" für schuldig befunden worden, das nach seinen Angaben unter Folter erpresst worden war. Die italienischen Justizbehörden ordneten einen mehr als dreiwöchigen Hausarrest an, bevor die Einschränkung aufgehoben wurde und er in die Schweiz zurückkehren durfte.
Im Dezember 2015 verboten die algerischen Behörden eine Schulungsveranstaltung für Mitglieder der Menschenrechtsvereinigung Maghreb Coordination of Human Rights Organizations, an der u.a. Menschenrechtsverteidiger aus Algerien, Marokko, Tunesien und Mauretanien teilnehmen wollten und die in Algier stattfinden sollte.
Justizsystem
Im Juli 2015 verfügte die Regierung Änderungen der Strafprozessordnung, um eine größere Bandbreite an Alternativen zur Untersuchungshaft einzuführen. Tatverdächtige erhielten das Recht auf Zugang zu einem Rechtsbeistand während der Untersuchungshaft, nicht jedoch während des Verhörs.
Ebenfalls im Juli nahmen die Sicherheitskräfte in Ghardaia 25 Personen fest, nachdem es in der Region Nordsahara zu gewaltsamen Auseinandersetzungen mit Todesfolge gekommen war. Unter den Festgenommenen befanden sich Kameleddine Fekhar und andere Aktivisten, die sich für die Unabhängigkeit der Region M'zab einsetzen. Sie wurden wegen des Verdachts auf "Terrorismus" und "Anstiftung zum Hass" in Untersuchungshaft genommen und befanden sich Ende 2015 nach wie vor in Gewahrsam.
Frauenrechte
Im Dezember 2015 wurde das Strafgesetzbuch abgeändert, um körperliche Gewalt gegen einen Ehepartner sowie die sexuelle Belästigung von Frauen in der Öffentlichkeit unter Strafe zu stellen. Allerdings waren Frauen in Ermangelung eines umfassenden Gesetzes nach wie vor nur unzureichend gegen geschlechtsspezifische Gewalt geschützt. Das Strafgesetzbuch sah weiterhin vor, dass Männer, die ein Mädchen unter 18 Jahren vergewaltigt haben, straffrei ausgehen können, wenn sie ihr Opfer heiraten.
Straflosigkeit
2015 jährte sich die Verabschiedung der Charta für Frieden und Nationale Versöhnung (Charte pour la paix et la réconciliation nationale) zum zehnten Mal. Dieses Gesetzeswerk gewährt den Sicherheitskräften Straffreiheit für Taten, die während des bewaffneten internen Konflikts in den 1990er Jahren begangen wurden, und stellt jede Form von öffentlicher Kritik an ihrem Vorgehen unter Strafe. Die Behörden leiteten noch immer keine Schritte zur Untersuchung und Klärung des Schicksals von Tausenden von Menschen ein, die während des bewaffneten internen Konflikts dem Verschwindenlassen oder anderen schweren Menschenrechtsverletzungen und -verstößen zum Opfer gefallen waren. Die Verantwortlichen wurden noch immer nicht zur Rechenschaft gezogen, und den Angehörigen der "Verschwundenen" blieb der Zugang zu wirksamen Rechtsbehelfen versagt. Die Familien der "Verschwundenen", die weiterhin Wahrheit und Gerechtigkeit forderten, standen unter Beobachtung und wurden immer wieder von den Sicherheitskräften zu Verhören vorgeladen.
Rechte von Flüchtlingen und Migranten
Flüchtlinge und Migranten aus den Ländern südlich der Sahara reisten nach wie vor meist über die südliche Landesgrenze ohne Erlaubnis nach Algerien ein. Dort nahmen algerische Sicherheitskräfte Migranten und Asylsuchende fest. Presseberichten zufolge nahm die algerische Armee im April 2015 rund 500 Migranten aus Ländern südlich der Sahara in der Nähe der Grenze zu Niger in Gewahrsam. Die algerischen Behörden berichteten, dass nigrische Staatsangehörige, die sich in der Gruppe befanden, in Zusammenarbeit mit den nigrischen Behörden "freiwillig" in ihr Heimatland zurückgebracht wurden.
Todesstrafe
Gerichte verhängten zahlreiche Todesurteile, meist für Mord und terrorismusbezogene Straftaten sowie für Fälle, die bis in die Zeit des bewaffneten internen Konflikts in den 1990er Jahren zurückreichen. Seit 1993 gab es keine Hinrichtungen mehr.