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Indonesien 2023
© Amnesty International
Berichtszeitraum: 1. Januar 2023 bis 31. Dezember 2023
Friedliche Demonstrierende wurden festgenommen und Proteste unter Einsatz von exzessiver Gewalt aufgelöst. Bei Militäreinsätzen in Papua kam es zu rechtswidrigen Tötungen, Folter und anderen Misshandlungen. Unabhängigkeitsaktivist*innen wurden inhaftiert. Folter und andere Misshandlungen mutmaßlicher Straftäter*innen durch Sicherheitskräfte waren an der Tagesordnung und führten in einigen Fällen zum Tod der Betroffenen. Nichtstaatliche bewaffnete Gruppen in Papua waren ebenfalls für rechtswidrige Tötungen verantwortlich. Die Regierung führte keine angemessenen Konsultationen mit Bevölkerungsgruppen durch, die von umstrittenen Entwicklungsprojekten betroffen waren. Indonesien war bei der Energieerzeugung weiterhin stark von der Kohle abhängig, und die Pläne des Landes zum Ausstieg aus den fossilen Brennstoffen waren unzureichend.
Hintergrund
In Papua nahmen die Spannungen zu, nachdem Angehörige der Nationalen Befreiungsarmee Westpapuas (Tentara Pembebasan Nasional Papua Barat-Organisasi Papua Merdeka – TPNPB-OPM) im Februar 2023 einen neuseeländischen Piloten auf dem Flughafen von Paro im abgelegenen Hochland des Regierungsbezirks Nduga in der Provinz Papua Pegunungan als Geisel genommen hatten. Als Reaktion auf die Geiselnahme versetzte das indonesische Militär die Truppen vor Ort in "Gefechtsbereitschaft" und entsandte zusätzliche Truppen in das Gebiet. Die Maßnahmen weckten Sorge um die Sicherheit der dort und in den umliegenden Gebieten lebenden Zivilbevölkerung.
Recht auf Versammlungsfreiheit
Die Sicherheitskräfte nahmen im Jahr 2023 friedliche Demonstrierende fest und setzten exzessive Gewalt ein, um Proteste aufzulösen, was zu zahlreichen Verletzten führte.
Am 5. August 2023 nahm die Polizei 18 Personen fest, die an Protesten gegen die Pläne für eine Erdöl- und petrochemische Raffinerie im Dorf Nagari Air Bangis im Regierungsbezirk Barat teilgenommen hatten. Sie befanden sich zur Zeit der Festnahme in der Großen Moschee von Westsumatra in der Provinzhauptstadt Padang, wo sie sich ausruhten. Weitere Protestierende, von denen einige beteten, wurden von der Polizei gezwungen, das Gebäude zu verlassen. Unter ihnen befanden sich auch Frauen, die von den Polizist*innen aus der Moschee gezerrt wurden. Mindestens fünf Journalist*innen, die live über die Veranstaltung berichteten, wurden von Polizeikräften angegriffen und bedroht. Alle Festgenommenen, darunter Sprecher*innen von Gemeinschaften, Aktivist*innen, Studierende und Anwält*innen, kamen anschließend ohne Anklage wieder frei. Diesen Ereignissen war ein sechstägiger Protest von Einwohner*innen des Dorfes Nagari Air Bangis vorausgegangen, die sich Sorgen über die mit dem Bau der Raffinerie einhergehenden Gefahren für ihre Existenzgrundlage und die lokale Umwelt machten.
Am 14. August 2023 setzten Sicherheitskräfte Tränengas ein, um Demonstrierende auseinanderzutreiben, die eine Straße in der Stadt Bandung (Westjava) blockierten. Sieben der Personen, die sich aus Protest gegen die geplante Vertreibung von rund 300 Einwohner*innen von Dago Elos, einem Vorort von Bandung, versammelt hatten, wurden festgenommen. Zu den Festgenommenen gehörte neben Einwohner*innen von Dago Elos auch ein Rechtsanwalt, der sie in dem Landkonflikt unterstützte. Am 16. August kamen alle wieder frei, gegen drei von ihnen wurde jedoch Anklage wegen gewalttätiger Handlungen erhoben. Berichten zufolge erlitten mehrere Personen im Zusammenhang mit der exzessiven Gewaltanwendung durch die Polizei Verletzungen.
Recht auf freie Meinungsäußerung
Die Behörden verfolgten auch 2023 Menschen wegen Straftaten gegen die Sicherheit des Staates, wenn diese lediglich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung wahrnahmen, wie z. B. Personen, die die Unabhängigkeit Papuas forderten. Mindestens drei Aktivisten aus Papua wurden im Laufe des Jahres wegen ihrer öffentlichen Meinungsbekundungen inhaftiert.
Am 8. August 2023 befand das Bezirksgericht von Jayapura die drei Angeklagten Yoseph Ernesto Matuan, Devio Tekege und Ambrosius Fransiskus Elopere des Hochverrats gemäß den Paragrafen 55 und 106 des Strafgesetzbuchs für schuldig und verurteilte sie zu je zehn Monaten Haft. Die drei Studierenden waren im November 2022 festgenommen worden, als sie an einer Mahnwache an einer Privatuniversität (Jayapura University of Technology and Science) teilnahmen, die an den einstigen Führer der Unabhängigkeitsbewegung, Theys Eluay, erinnern wollte, der 21 Jahre zuvor entführt und ermordet worden war. Dabei war die Morgensternflagge, ein Symbol für die Unabhängigkeit Papuas, gehisst worden. Da die Zeit in Haft vor ihrer Verurteilung auf ihre Strafe angerechnet wurde, kamen die drei Männer im September 2023 nach Verbüßung ihrer Strafe wieder frei.
Rechtswidrige Tötungen
Im Jahr 2023 wurden in Papua mindestens 26 Vorfälle rechtswidriger Tötungen durch Sicherheitskräfte registriert, denen insgesamt 58 Menschen zum Opfer fielen.
Im September 2023 erschossen die Sicherheitskräfte fünf indigene Papua in Dekai, der Hauptstadt des Regierungsbezirks Yahukimo (Provinz Papua Pegunungan). Die Sicherheitskräfte gaben an, dass die zwischen 15 und 18 Jahre alten Männer bei einem Schusswechsel mit der TPNPB-OPM getötet worden seien. Andere Quellen bestritten, dass die jungen Männer Angehörige der bewaffneten Gruppe gewesen seien, und gaben an, dass sie in Dekai Lebensmittel eingekauft hatten und sich auf dem Weg zurück in ihr Dorf befanden. Jede Person, die Dekai verließ, musste sich bei einem Sicherheitsposten am Stadtrand melden. Wer dies nicht tat, wurde automatisch als Mitglied der TPNPB-OPM betrachtet. Bis zum Jahresende hatten die Behörden noch keine Ermittlungen zu der mutmaßlichen rechtswidrigen Tötung der fünf Männer eingeleitet.
Folter und andere Misshandlungen
Sicherheitskräfte setzten Folter und anderweitige Misshandlungen ein, um Informationen oder "Geständnisse" von Häftlingen zu erzwingen.
Folter und andere Misshandlungen waren in Papua 2023 nach wie vor an der Tagesordnung. Auch im Zusammenhang mit Militäreinsätzen in und um den Regierungsbezirk Nduga kam es zu willkürlichen Inhaftierungen und Folterungen. Am 6. April 2023 inhaftierte und folterte das Militär sechs indigene Papua aus dem Dorf Kwiyawagi im Regierungsbezirk Lanny Jaya (Provinz Papua Pegunungan), darunter vier Minderjährige. Die sechs wurden mit einem Hubschrauber in das Militärhauptquartier in Timika gebracht, wo der 17-jährige Wity Unue Berichten zufolge an den Folgen der Folterungen starb. Die anderen fünf wurden am 20. April 2023 ohne Anklageerhebung freigelassen, sollen sich jedoch in einem schlechten Gesundheitszustand befunden haben. Bis Ende 2023 wurde niemand in Verbindung mit dem Fall zur Rechenschaft gezogen.
Im September 2023 wurden acht Angehörige des Drogendezernats der Stadtpolizei von Jakarta als Verdächtige in einem Fall benannt, bei dem im Juli 2023 ein mutmaßlicher Drogendealer während eines Verhörs zu Tode geprügelt worden war. Bis zum Jahresende wurde gegen keinen der acht Polizisten Anklage erhoben.
Im August 2023 wurde die Leiche von Imam Masykur gefunden, nachdem er mehr als drei Wochen zuvor von drei Angehörigen der Sicherheitsgarde des Präsidenten (Pasukan Pengamanan Presiden) und des indonesischen Militärs entführt und gefoltert worden war. Angaben der Asiatischen Menschenrechtskommission zufolge hielten die drei Soldaten den 25-Jährigen in der Hauptstadt Jakarta fest, nachdem sie ihn des Verkaufs illegaler Drogen beschuldigt hatten. Sie sollen ein Lösegeld für seine Freilassung gefordert haben. Die Leiche von Imam Masykur wurde in einem Stausee in Westjava gefunden. Im Dezember 2023 wurden die drei Täter zu lebenslanger Haft verurteilt und aus dem Dienst entlassen.
Menschenrechtsverstöße bewaffneter Gruppen
Im Laufe des Jahres 2023 wurden in Papua elf Vorfälle dokumentiert, bei denen insgesamt 24 Personen von Angehörigen der TPNPB-OPM rechtswidrig getötet wurden.
Am 28. August 2023 erklärte ein Sprecher der bewaffneten Gruppe, dass die TPNPB-OPM Michelle Kurisi Doga in Kolawa im Regierungsbezirk Lanny Jaya (Provinz Papua Pegunungan) getötet habe. Als die Tat geschah, war sie gerade unterwegs, um Daten über Vertreibungen infolge von Militäroperationen in Nduga zu sammeln. Dem Sprecher der TPNPB-OPM zufolge wurde sie von der bewaffneten Gruppe jedoch verdächtigt, für den militärischen Geheimdienst zu arbeiten.
Der im Februar 2023 von der TPNPB-OPM als Geisel genommene neuseeländische Pilot (siehe "Hintergrund") war bis zum Jahresende noch nicht freigelassen worden.
Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Die Regierung führte weder angemessene Konsultationen noch eine wirksame Sorgfaltsprüfung unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten durch, bevor sie den Beginn der Arbeiten am Projekt Rempang Eco-City genehmigte. Das milliardenschwere Industrie- und Tourismusprojekt auf der Insel Rempang sieht die Umsiedlung von rund 7.500 Menschen aus 16 Dörfern vor. Die hauptsächlich der indigenen Gemeinschaft der Tempatan angehörenden Bewohner*innen würden dadurch den Zugang zu ihrem angestammten Land verlieren. Das Großprojekt stieß auf heftigen Widerstand der Tempatan und anderer betroffener lokaler Gemeinschaften. Im August 2023 wurden zwar Konsultationen mit den betroffenen Gemeinschaften zu dem Projekt durchgeführt, doch sollen die Treffen von einer starken Sicherheitspräsenz begleitet worden sein, und Beobachter*innen beschrieben die Veranstaltungen als einseitige Weitergabe von Informationen seitens der Regierung und des Unternehmens an die Anwohner*innen.
Im August und September 2023 kam es zu mehreren Protesten gegen den Landerwerb für das Projekt Rempang Eco-City, die am 7. September in gewaltsamen Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften gipfelten. Nachdem einige Demonstrierende mit Steinen und Wasserflaschen geworfen hatten, setzten die Sicherheitskräfte Wasserwerfer, Tränengas und Gummigeschosse gegen sie ein. Mindestens 20 Demonstrierende wurden verletzt, und etwa 25 Schüler*innen von zwei Schulen in der Nähe mussten wegen der Folgen des Einsatzes von Tränengas im Krankenhaus behandelt werden. Nach den Ereignissen vom 7. September wurden auf der Insel neue gemeinsame Sicherheitsposten der Polizei und des Militärs eingerichtet. Nach Angaben der örtlichen Vertretung der NGO "Institut für Rechtshilfe" (Lembaga Bantuan Hukum) wurden mindestens 35 Personen wegen Anwendung oder Androhung von Gewalt gegen Staatsbedienstete im Dienst angeklagt. Im Fall einer Verurteilung drohten ihnen Freiheitsstrafen von bis zu 16 Monaten.
Recht auf eine gesunde Umwelt
Obwohl Indonesien einen zunehmenden Anteil seines Stroms aus erneuerbaren Energien erzeugte, war es weiterhin stark auf Kohle als Energieträger angewiesen. Kohle war zudem Indonesiens wichtigstes Exportgut. Die in der Präsidialverordnung Nr. 112/2022 zur Beschleunigung des Ausbaus der erneuerbaren Energien für die Stromversorgung vorgesehenen Pläne zum schrittweisen Ausstieg aus der Verwendung fossiler Brennstoffe für die Energieerzeugung waren unzureichend. Unter anderem verbot die Verordnung zwar die Errichtung neuer Kohlekraftwerke, ließ aber die Fertigstellung bereits geplanter Anlagen zu. So setzte die Regierung auch die Arbeiten an einem im Jahr 2015 beschlossenen 35-Gigawatt-Projekt fort, das den Bau von 109 Kraftwerken im ganzen Land vorsah, die meisten davon Kohlekraftwerke.
Veröffentlichungen von Amnesty International
- Indonesia: Release three Papuan students from treason charge, 8 August (Indonesian only)
- Indonesia: The Indonesian people have not yet gained freedom from state violence, 16 August (Indonesian only)
- Indonesia: Investigate the perpetrators of the murder of Michelle Kurisi and armed violence against civilians in Papua, 30 August (Indonesian only)
- Indonesia: Do not force Batam residents to accept national strategic project, 8 September (Indonesian only)