DEINE SPENDE KANN LEBEN RETTEN!
Mit Amnesty kannst du dort helfen, wo es am dringendsten nötig ist.
DEINE SPENDE WIRKT!
Belarus 2019
Demonstration gegen eine Ausweitung der russisch-belarussischen Beziehungen am 20. Dezember 2019 in Minsk
© Human Rights Center Viasna
Belarus war das einzige Land in Europa und auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion, in dem die Todesstrafe noch verhängt und vollstreckt wurde. 2019 ergingen drei Todesurteile und mindestens drei Gefangene wurden hingerichtet. Gesetzesänderungen, die die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Versammlungsfreiheit weiter einschränkten, zielten vor allem auf Online- und Medienaktivitäten und auf das Demonstrationsrecht ab. Es lagen glaubhafte Beweise vor, dass Tausende von Kindern und Jugendlichen wegen geringfügiger Drogendelikte zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Schutzbedürftige Bevölkerungsgruppen wie Roma sowie Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intergeschlechtliche (LBGTI) waren noch immer von Diskriminierung bedroht, auch wenn einige positive Schritte unternommen wurden, um ausländische Staatsangehörige, denen in ihren Herkunftsländern Folter oder andere Misshandlung drohten, nicht abzuschieben.
Hintergrund
Aufgrund des zögerlichen Wirtschaftswachstums war Belarus 2019 wirtschaftlich nach wie vor stark von Russland abhängig. Die Preise für importierte Waren und der belarussische Widerstand gegen eine weitere Integration, die die Souveränität des Landes bedrohen könnte, führten weiterhin zu Spannungen. Im Juni war Minsk Gastgeber der Europaspiele 2019. Die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen im November war gering, und resultierte in einem dem Präsidenten gegenüber völlig loyalen Parlament. Unabhängige in- und ausländische Beobachter_innen kritisierten, dass die demokratischen Standards nicht eingehalten wurden. Zahlreiche als regierungskritisch geltende Kandidat_innen wurden aus fragwürdigen technischen Gründen von der Wahl ausgeschlossen und alle Vorwürfe der Wahlmanipulation wurden ignoriert.
Todesstrafe
Mindestens drei Männer wurden 2019 im Geheimen hingerichtet.
Als die Anwältin von Aljaksandr Schylnikau (Zhylnikau) ihren Mandanten am 13. Juni 2019 im Gefängnis besuchte, wurde ihr mitgeteilt, dieser sei "nicht mehr bei uns". Ende des Jahres hatte die Familie immer noch keine offiziellen Informationen über seine Hinrichtung erhalten. Über seinen Mitangeklagten Viachaslau Sucharko lagen keine offiziellen Informationen vor, aber es wird vermutet, dass er ebenfalls hingerichtet wurde. Der UN-Menschenrechtsausschuss hatte um Aufschub der Hinrichtung von Aljaksandr Schylnikau ersucht, bis der Ausschuss seinen Fall geprüft habe. Seit 2010 hat Belarus 13 solcher Ersuchen des Ausschusses ignoriert und Gefangene hingerichtet, in deren Fällen die Überprüfung noch nicht abgeschlossen war. Der am 9. Januar 2019 zum Tode verurteilte Aljaksandr Asipowitsch wurde am 17. Dezember hingerichtet.
Viktar Paulau und Viktar Serhil wurden in zwei getrennten Verfahren wegen Mordes zum Tode verurteilt.
Recht auf freie Meinungsäußerung
Die Meinungsfreiheit war 2019 weiterhin per Gesetz und in der Praxis stark eingeschränkt. Regierungskritiker_innen und andere abweichende Stimmen sahen sich Schikanen und anderen Repressalien seitens der Behörden ausgesetzt, zu denen auch Verwaltungs- und Strafverfahren gehörten.
Die Änderungen des Gesetzes über die Massenmedien, die im Dezember 2018 in Kraft getreten waren, verschärften die staatliche Kontrolle über die Online-Medien 2019 erheblich. So wurden registrierte und nicht registrierte Online-Medien verpflichtet, die Namen der Personen, die Kommentare abgeben, aufzuzeichnen und den Behörden auf Anfrage die entsprechenden Informationen zur Verfügung zu stellen. Außerdem wurden die Eigentümer_innen von registrierten Online-Medien für den Inhalt von Kommentaren verantwortlich gemacht.
Trotz einer Unterbrechung der Schikanierung von Journalist_innen während der Europaspiele in Minsk im Juni 2019 verhängten die Behörden weiterhin hohe Geldstrafen gegen freiberufliche Journalist_innen, die mit internationalen Medien zusammenarbeiteten. Nicht beim Außenministerium akkreditierte Journalist_innen, die Inhalte an ausländische Medien lieferten, wurden gemäß Artikel 22, Absatz 9 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten ("rechtswidrige Erstellung und Verbreitung von Massenmedienprodukten") zur Verantwortung gezogen.
Der Zugang zu der unabhängigen Nachrichtenseite Charter'97 war nach ihrer Sperrung durch die Behörden im Januar 2018 auch 2019 weiterhin blockiert.
Die Schikanen gegen den Anarchisten und ehemaligen gewaltlosen politischen Gefangenen Dzmitry Paliyenka gingen 2019 weiter. Er wurde im März verhaftet und bis Oktober in Untersuchungshaft gehalten. Die gegen ihn erhobene Anklage umfasste vier Punkte, von denen drei offensichtlich unbegründet waren und im Verlauf des Verfahrens fallen gelassen wurden. Dennoch wurde er mit einer fragwürdigen Begründung wegen Rowdytum zu Hausarrest verurteilt. Ende des Jahres legte er Berufung dagegen ein.
Recht auf Versammlungsfreiheit
Das Recht auf Versammlungsfreiheit wurde in Rechtsprechung und Praxis weiterhin stark eingeschränkt, und wer versuchte, es auszuüben, musste mit der Festnahme durch die Polizei (oft unter Anwendung übermäßiger Gewalt), hohen Geldstrafen und willkürlicher Inhaftierung rechnen.
Im Januar 2019 traten Änderungen des Gesetzes über Massenveranstaltungen in Kraft, die neue Verfahren und Gebühren für die Organisator_innen öffentlicher Veranstaltungen vorsahen. Diese müssen jetzt die Kosten für Polizei- und Sanitätseinsätze sowie die Reinigungs- und Entsorgungskosten tragen. Nach wie vor bedurften alle Versammlungen einer vorherigen Anmeldung und einer ausdrücklichen behördlichen Genehmigung. Zusätzlich wurde das Anmeldeverfahren auch auf bestimmte Orte ausgedehnt, die vorher genehmigt worden waren (in der Regel sehr abgelegene Plätze). Für Versammlungen in anderen Gebieten wurde die Genehmigung oft verweigert oder verzögert.
Artikel 23, Absatz 34 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten ("Verstoß gegen die Regeln für die Organisation und Durchführung von Massenveranstaltungen") wurde 2019 weiterhin dazu benutzt, Menschen an der Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung zu hindern.
Die inoffiziellen Feierlichkeiten zum "Tag der Freiheit" im März wurden eingeschränkt. Am 24. März 2019 wurden die Organisator_innen und gewaltfrei protestierenden Teilnehmer_innen einer Veranstaltung mit über 1.000 Menschen im Kiewski-Park in Minsk festgenommen, obwohl diese zuvor genehmigt worden war. Am 25. März wurden unabhängige Medien und Vertreter_innen der Zivilgesellschaft daran gehindert, auf dem Platz Kastryčnickaja in Minsk inmitten eines massiven Polizeiaufgebots eine friedliche Gedenkfeier abzuhalten. Mindestens 15 Personen wurden festgenommen und in nicht gekennzeichnete Polizeifahrzeuge verbracht. Alle an den beiden Tagen Festgenommenen wurden später ohne Anklage freigelassen.
Ungeachtet aller Aufforderungen der UN-Sonderberichterstatterin für die Lage der Menschenrechte in Belarus vor den Parlamentswahlen im November 2019, die Grundfreiheiten zu respektieren, wurden Dutzende von Menschen, darunter auch Parlamentskandidat_innen, wegen ihrer friedlichen Teilnahme an nicht genehmigten Protesten während des Parlamentswahlkampfs und der Proteste im Dezember gegen eine mögliche Vertiefung der Beziehungen zu Russland gemäß Artikel 23, Absatz 34 mit Geldstrafen oder Verwaltungsstrafen von fünf bis 45 Tagen belegt oder mussten eine entsprechende Anklage befürchten. Wiederholte Anträge von Anwält_innen, Zugang zu einigen der Inhaftierten zu erhalten, wurden willkürlich abgelehnt.
Recht auf Vereinigungsfreiheit
Die Hindernisse für die offizielle Registrierung unabhängiger NGOs bestanden 2019 weiter. In vielen Fällen wurden Anträge auf Zulassung aus willkürlichen Gründen abgelehnt.
Der aufgehobene Artikel 193, Absatz 1 des Strafgesetzbuches, der die Teilnahme an den Aktivitäten einer nicht registrierten Organisation unter Strafe stellte, wurde durch Artikel 23, Absatz 88 des Gesetzes über Verwaltungsvergehen ersetzt, der der Polizei die Befugnis gab, "Straftäter" ohne gerichtliche Überprüfung mit einer Geldstrafe von bis zu 1.275 belarussischen Rubeln (rund. 600 Euro) zu belegen.
Justizsystem – Jugendgerichtsbarkeit und faire Verfahren
Es lagen glaubwürdige Beweise vor, dass Tausende Kinder und Jugendliche 2019 wegen geringfügiger, gewaltloser Drogendelikte zu langen Haftstrafen verurteilt wurden. Davon verbüßten Dutzende, möglicherweise auch Hunderte lange Haftstrafen für kleinere, gewaltlose Drogendelikte, die sie als Kinder begangen hatten. Viele erhielten keine fairen Gerichtsverfahren, und gerade einmal 16-jährige Kinder wurden gemäß Artikel 328 des Strafgesetzbuches wegen illegalen Drogenhandels als Mitglieder krimineller "Gruppen" bis zu elf Jahren inhaftiert, oft ohne dass andere Gruppenmitglieder ermittelt wurden. Fünf UN-Überwachungsorgane, darunter die Arbeitsgruppe für willkürliche Inhaftierung und der Sonderberichterstatter für Folter und andere grausame, unmenschliche und erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, brachten im Oktober 2019 gegenüber den belarussischen Behörden ihre Besorgnis über die Situation der wegen Drogendelikten aufgegriffenen und inhaftierten Kinder zum Ausdruck.
Unverhältnismäßige Gewaltanwendung und andere Menschenrechtsverletzungen durch Strafverfolgungsbeamte, einschließlich stundenlanger Haft ohne Kontakt zur Außenwelt und Misshandlung von Kindern, die wegen Drogen verhaftet wurden, sowie die Vorlage konstruierter Beweise wurden aus früheren Jahren berichtet. Im August 2019 wurde ein ehemaliger befehlshabender Polizeibeamter aus Mahilyou zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, weil er andere zu Unrecht des Drogenhandels beschuldigt hatte. Sein Verfahren fand hinter verschlossenen Türen statt, und die Anklage wurde unter Verschluss gehalten, sodass diejenigen, die aufgrund der Anschuldigungen des Polizisten wegen Drogenhandels verurteilt wurden, keine Rechtsmittel dagegen einlegen konnten.
Auch 2019 gab es zahlreiche Berichte über die schlechten Haftbedingungen und die diskriminierende Behandlung von Kindern, die wegen Drogendelikten verurteilt worden waren.
Diskriminierung
Mehrere gefährdete Minderheiten litten 2019 weiterhin unter Diskriminierung und genossen keinen ausreichenden rechtlichen Schutz, was zu einem Klima der Angst und Selbstzensur führte.
Roma
Die Roma waren nach wie vor sozial benachteiligt, vor allem in den Bereichen Beschäftigung und Bildung.
Im Mai führten die Behörden in Mahilyou nach dem mutmaßlichen Mord an einem Verkehrspolizisten in mehreren Roma-Gemeinschaften Razzien durch und nahmen Dutzende Menschen, auch Kinder, unter Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt fest. Nach Angaben lokaler Menschenrechtsverteidiger_innen wurden über 50 Männer willkürlich drei Tage lang festgehalten und dann ohne Anklageerhebung wieder freigelassen. Später wurde der Tod des Polizeibeamten auf Selbstmord zurückgeführt. Zwar erhielten die Roma-Gemeinschaften eine offizielle Entschuldigung, doch leiteten die Behörden keine Verfahren gegen die für die exzessive Gewaltanwendung verantwortlichen Beamt_innen ein.
Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Transgender und Intergeschlechtlichen
Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intergeschlechtliche (LGBTI) waren 2019 weiterhin Schikanen ausgesetzt, darunter auch diskriminierenden und stigmatisierenden Äußerungen von Staatsbeamt_innen.
Im Mai 2019 veröffentlichte das Innenministerium auf seiner Website einen Artikel, in dem von der "zerstörerischen Wirkung der Ansichten und Ideen der LGBT-Gemeinschaft" die Rede war. Weiter hieß es: "Obwohl die Wissenschaft keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Pädophilie und gleichgeschlechtlichen sexuellen Beziehungen festgestellt hat, sprechen doch die Zahlen für sich."
Nach einem verbalen und körperlichen Angriff auf den Filmemacher Mikhail Kuprich im August durch einen Mann, der ihn für schwul hielt, befand ein Gericht in Minsk am 24. Dezember 2019 den Angreifer des "bösartigen Rowdytums" für schuldig und verurteilte ihn nach Artikel 339, Absatz 2 zu 18 Monaten Hausarrest und zur Zahlung einer Entschädigung an Mikhail Kuprich. Ein Antrag von Kuprichs Anwalt, die ursprüngliche Anklage des Rowdytums zu ändern, um das Hassmotiv gegen die LGBTI-Gemeinschaft deutlich zu machen, wurde abgelehnt.
Rechte von Migrant_innen und Asylsuchenden
Belarus führte auch 2019 ausländische Staatsangehörige einschließlich Asylsuchende unter Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung in Länder zurück, in denen ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen einschließlich Folter und anderer Misshandlungen drohten.
Im Mai wurde Ismail Nalgiev, ein oppositioneller Journalist aus Inguschetien, auf dem Flughafen von Minsk verhaftet und am 10. Mai 2019 nach Russland abgeschoben, obwohl dort mit politisch motivierter Strafverfolgung, Folter und anderen Misshandlungen sowie mit einem unfairen Prozess zu rechnen war. In Russland wurde er dann unter dem politisch motivierten Vorwurf der "Anwendung von Gewalt gegen einen Beamten" bei den Protesten am 26. und 27. März 2019 in Inguschetien festgenommen.
Positiv ist zu vermerken, dass der iranische Staatsbürger Merhdad Jamshidian am 17. Juni 2019 "aus humanitären Gründen" einen einjährigen Aufenthaltsstatus erhielt, der im September auf fünf Jahre verlängert wurde. Mehrdad Jamshidian lebt seit 1993 in Belarus und ist mit einer Belarussin verheiratet, mit der er drei Kinder hat. Nach einem Auslieferungsersuchen aus dem Iran, wo ihm Folter und andere Misshandlungen sowie die Todesstrafe drohten, hatte er elf Monate in Haft verbracht.