Amnesty Journal 26. August 2024

Wo sind sie?

Menschen stehen vor Granittafeln, auf denen viele Namen eingemeißelt sind, sie tragen Jeans, T-Shirts, Blusen oder Rücke, ein Mann trägt einen Cowboy-Hut.

Angehörige von Veschwundenen an einem Denkmal in San Salvador, 30. August 2022

Der 30. August ist der Internationale Tag der Opfer des Verschwindenlassens. Das Engagement gegen dieses Verbrechen ist international sehr unterschiedlich ausgeprägt.

Ein Überblick von Ute Löhning

Die Vereinten Nationen riefen den Aktionstag gegen das Verschwindenlassen im Jahr 2006 aus. Zum Verschwindenlassen gehört jede Form der Freiheitsberaubung unter Beteiligung, Ermächtigung, Unterstützung oder Duldung staatlicher Funktionsträger*innen, die mit der Verschleierung des Verbleibs einer verschwundenen Person und der Verweigerung von Rechtsschutz einhergeht.

"Verschwindenlassen hat nicht nur Auswirkungen auf das Opfer, das verschwindet, sondern auch auf diejenigen, die zurückbleiben", erklärt die thailändische Menschenrechtsverteidigerin Angkhana Neelapaijit. "Solange die Familien nicht die Wahrheit über das Schicksal und den Aufenthaltsort ihrer Angehörigen erfahren, bleiben sie in Unsicherheit." Die Aktivistin spricht aus eigener Erfahrung: Ihr Mann, der Anwalt Somchai Neelapaijit, wurde 2004 in Bangkok entführt und ist bis heute verschwunden. Angkhana blieb mit fünf Kindern zurück, forderte Aufklärung, tauschte sich mit anderen Angehörigen von Verschwundenen aus und ging selbst an die Öffentlichkeit.

Anlaufstelle für Angehörige

Seit 2022 ist Angkhana Neelapaijit Mitglied der UN-Arbeitsgruppe zur Frage des Verschwindenlassens von Personen. Die 1980 gegründete Arbeitsgruppe hat keinerlei Durchsetzungsmechanismen. Sie ist jedoch eine Anlaufstelle für Angehörige von Verschwundenen und vermittelt zwischen den Familien und den betroffenen Regierungen. 2006 beschloss die UN-Generalversammlung das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen, das 2010 in Kraft trat. Inzwischen ­haben 75 Staaten diese Konvention rati­fiziert.

Barbara Lochbihler, die von 1999 bis 2009 Generalsekretärin der deutschen Sektion von Amnesty International und von 2009 bis 2019 Europaabgeordnete der Grünen mit Schwerpunkt Menschenrechte war, lobt die Konvention als "fortschrittlichen, modernen, sehr weitreichenden Menschenrechtsvertrag". Lochbihler ist Mitglied des UN-Ausschusses über das Verschwindenlassen, der überprüft, ob die Vertragsstaaten ihre Verpflichtungen einhalten, und sie gegebenenfalls zu Verbesserungen auffordert. Der UN-Ausschuss, der eng mit der UN-Arbeitsgruppe zusammenarbeitet, ist auf Informationen aus der Zivilgesellschaft, von Angehörigen oder der Presse angewiesen, vor allem, wenn es um Länder geht, über die wenige Informationen vorliegen.

Wer Pushbacks zulässt, riskiert, sich schuldig an erzwungenem Verschwindenlassen zu machen.

Barbara
Lochbihler
Mitglied des UN-Ausschusses über das Verschwindenlassen

Die Vertragsstaaten müssen die Vor­gaben der Konvention in ihre nationale Gesetzgebung übernehmen. Sie müssen das Verschwindenlassen von Personen, geheime Inhaftierungen sowie inoffizielle Haftzentren verbieten und den Anspruch jedes Inhaftierten garantieren, dass Angehörige informiert werden und ein Rechtsbeistand hinzugezogen werden kann. ­Außerdem haben die Opfer und ­deren ­Angehörige laut Konvention ein Recht auf Wahrheit und Wiedergutmachung sowie das Recht, Vereine und Or­ganisationen für das Engagement gegen das Verschwindenlassen zu gründen. Die Konvention verbietet außerdem die unrechtmäßige Entführung oder Adoption von Kindern, deren Eltern verschwunden sind.

Deutschland ratifizierte die Konvention 2009. Im Juni 2024 beschloss der Bundestag, mit Paragraf 234b den Straftat­bestand des Verschwindenlassens explizit ins Strafgesetzbuch aufzunehmen. ­Somit wird sichergestellt, dass künftige Fälle von Verschwindenlassen auch in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden müssen. "Das ist gut für Deutschland und hat auch Ausstrahlung auf andere Staaten", sagt Lochbihler. Damit Verschwindenlassen ein "relevantes Menschenrechtsthema" bleibe, sei es wichtig, noch mehr Staaten zur Ratifizierung der Konvention zu bewegen. 

Auch Migrant*innen häufig betroffen 

Vom Verschwindenlassen sind heute insbesondere Menschen bedroht, die sich ­gegen Landraub und Korruption, für Umweltschutz und Menschenrechte einsetzen. Zunehmend gefährdet sind auch ­Migrant*innen. Barbara Lochbihler hat für den UN-Ausschuss den Grundsatzkommentar "Erzwungenes Verschwindenlassen im Kontext von Migration" geschrieben, der 2023 als Erläuterung der Bestimmungen der UN-Konvention beschlossen wurde. Lochbihler bezeichnet ihn als "Handreichung für eine menschenrechtsorientierte Grenzpolitik". 

Es dürfe nicht sein, dass Flüchtende in grenznahen Lagern nicht registriert werden oder dass der staatliche Grenzschutz, das Militär oder EU-Institutionen wie Frontex an den europäischen Außengrenzen Menschen rechtswidrig zurückweisen. "Wer Pushbacks zulässt, riskiert, sich schuldig an erzwungenem Verschwindenlassen zu machen", sagt Lochbihler.

Die meisten Fälle von Verschwindenlassen werden in Lateinamerika registriert, allein in Mexiko sind derzeit mehr als 114.000 Menschen als verschwunden gemeldet. Ihre Zahl stieg im Zuge des Kriegs gegen die Drogenkartelle seit 2006 stark an. "Aber Lateinamerika ist auch führend im Kampf gegen erzwungenes Verschwindenlassen", erklärt Lochbihler: Viele lateinamerikanische Staaten haben die UN-Konvention ratifiziert, und es gibt zahlreiche Organisationen von Angehörigen der Verschwundenen, allein in Mexiko existieren mehr als 100 Verbände. 

Schon in den 1970er Jahren schlossen sich Betroffene zusammen, um ihre Angehörigen zu suchen. Bekannt wurden etwa die argentinischen Madres de Plaza de Mayo, die während der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 für Aufklärung kämpften und entscheidend zum Sturz der Diktatur beitrugen. Menschenrechte und die Aufarbeitung der Diktatur wurden in der Folge zu zentralen Pfeilern staatlicher Politik. Allerdings will die aktuelle argentinische Regierung von Javier Milei dies nun wieder rückgängig machen.

Situation in Asien

In Asien sind vergleichsweise wenige Fälle von Verschwindenlassen offiziell registriert. Angkhana Neelapaijit geht von einer hohen Dunkelziffer aus. Die Situation sei kompliziert, sagt sie, und weist auf Fälle grenzüberschreitenden Verschwindenlassens in den ASEAN-Staaten hin. ­Dabei werden Oppositionelle entführt, während sie sich in einem Nachbarland aufhalten. Auch Barbara Lochbihler fordert, ein stärkeres Augenmerk auf Asien zu richten. Denn nur wenige Staaten der Region haben die UN-Konvention ratifiziert, und es gibt dort keinen Menschenrechtsmechanismus, der dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oder dem Interamerikanischen System von Menschenrechtsgerichtshof und -kommission vergleichbar wäre. 

"Die Afrikanische Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker hat mit den 2022 verabschiedeten 'Leitlinien zum Schutz vor Verschwindenlassen' immerhin ein wichtiges Signal ­gesetzt und die Staaten der Region zu wirksamen Maßnahmen aufgefordert", betont Silke Voß-Kyeck vom Deutschen Institut für Menschenrechte. "Für An­gehörige von Verschwundenen in den meisten asiatischen Ländern hingegen bleibt die UN-Arbeitsgruppe gegen das Verschwindenlassen vorerst die Haupt­anlaufstelle."

Ute Löhnung ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.

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