Amnesty Journal 06. Februar 2018

Vermischte Vorurteile

Zeichnung einer aufgeschlagenen Zeitschrift

Von der höfischen Kunst des 17. Jahrhunderts bis zu Pegida: Der Soziologe Wulf D. Hund untersucht die Entwicklung von Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus in Deutschland.

Von Maik Söhler

Nur eine kurze Kolonialgeschichte, nur am Rande an der Sklaverei beteiligt und bis zum 20. Jahrhundert kaum Erfahrung mit Nicht-Weißen: Warum sollte ausgerechnet Deutschland einen spezifischen Rassismus hervorgebracht haben, während andere Nationen über Jahrhunderte Kolonialreiche oder eine auf Versklavung basierende Plantagenwirtschaft unterhielten? Die Antwort des Soziologen Wulf D. Hund in seinem neuen Buch "Wie die Deutschen weiß wurden" auf diese Frage lautet: Weil sich in Deutschland wie nirgendwo sonst Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus vermischten.

In dem Kapitel "'Schwarzes Volk' als 'faules Gesindel' – Facetten des Zigeunerstereotyps" schreibt Hund: "Schwärze war womöglich eine Tarnfarbe sozialer Devianz." Damit benennt er einen Kern des deutschen Rassismus, denn als deviant, als von den geltenden Werten und Normen abweichend, galten schon im Mittelalter in den deutschen Fürstentümern "Juden und Zigeuner". Während im Begriff "schwarzes Volk" bereits eine auf die Hautfarbe zielende rassistische Komponente enthalten war, musste die Schmähung und Diskriminierung der Juden ohne Verweise auf spezifische Hautpigmente auskommen. "Hautfarben gehören nur in einer bestimmten Epoche seiner Entwicklung zum Rassismus", schreibt Hund und verweist auf eine ­Verfolgungsgeschichte, die auch religiös, kulturell, ethnisch, sprachlich oder mit Verweisen auf den Bildungsgrad und das "Abendland" daherkommen kann.

Der Autor analysiert die verschiedenen Epochen des Rassismus in Deutschland. Während das Landvolk im Mittelalter allein auf der Grundlage von Gerüchten weiß, gegen wen sich ein Pogrom zu richten hat, spiegeln bei Hofe und in den Städten bildende Künste, Literatur und Philosophie Formen des Rassismus wider. Und auch nach dem Mittelalter übernehmen Philosophen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Immanuel Kant ungeprüft rassistische Kategorien, Schriftsteller der Romantik verbreiten Ressentiments in großer Zahl.

Vom Mittelalter über die Neuzeit bis zur Gegenwart reicht, wenn man Hunds Argumentation folgt, eine Spur der Diskriminierung und des Ausschlusses "Anderer", die nicht minder breit ist als heutzutage eine sechsspurige Autobahn. Am Ende dieser Spur stehen Auschwitz und der Versuch der vollständigen Vernichtung der europäischen Juden. Auch Sinti und Roma wurden im Nationalsozialismus systematisch erfasst, stigmatisiert und getötet.

Hund nimmt sich darüber hinaus die Zeit nach 1945 vor und untersucht, wie sich Teile des spezifisch deutschen Rassismus in lebensweltlichen Bereichen wie der Werbung halten und wie in der Gegenwart plötzlich wieder das "Abendland" ­gegen "Andere" bemüht wird, diesmal von Pegida in Dresden. Dort und anderswo stehen nun Muslime pauschal unter Verdacht. "Rassismus vereinheitlicht seine Opfer", schreibt Hund.

"Wie die Deutschen weiß wurden" ist ein Buch, das die vielen Facetten der deutschen Rassismusrezeption betrachtet und dabei nie an der Oberfläche bleibt. Ein Kapitel zum internationalen Vergleich hätte aus einem guten Buch ein noch besseres machen können.

Wulf D. Hund: Wie die Deutschen weiß wurden. Kleine ­(Heimat)Geschichte des Rassismus. J. B. Metzler, Stuttgart 2017. 212 Seiten, 19,99 Euro.

Buchtipps

Queere Rechte und rechte Gegner

Ein Paradoxon lädt zum Nachdenken ein: Niederländische Rechtspopulisten betonen den Schutz vielfältiger sexueller Orientierungen und Genderidentitäten, um vor muslimischer Migration zu warnen, die sich angeblich gegen jene Vielfalt richte. Die australischen Wissenschaftler und Queeraktivisten Dennis Altman und Jonathan Symons analysieren in ihrem neuen Buch "Queer Wars" diese Pseudofrontstellung und weisen sie gekonnt zurück: als Instrumentalisierung der erfolgreichen Kämpfe von lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans- und intergeschlechtlichen Personen (LGBTI), die weltweit, insbesondere aber in den westlichen Demokratien, in der Auseinandersetzung mit Konservativen viel erreicht hätten. Was aber bedeutet "viel erreicht"? "Wenn wir glauben, dass die Rechte, die sich Schwule, Lesben und Transgender bis heute erkämpft haben, sicher seien, irren wir uns", benennt der Essayist Daniel Schreiber im Vorwort die Dialektik von sozialen Kämpfen, ihrer gelungenen oder noch fehlenden juristischen Absicherung und politischen und kulturellen Versuchen, diese Errungenschaften wieder einzuschränken oder zurückzunehmen. Der Untertitel von "Queer Wars" bringt es auf den Punkt: "Erfolge und Bedrohungen ­einer globalen Bewegung". Altman und Symons untersuchen gekonnt rechtliche, ökonomische, politische, kulturelle und lebensweltliche Strategien, die dem Schutz sexueller Orientierungen und Geschlechts­identitäten überall in der Welt zugutekommen könnten.

Dennis Altman/Jonathan Symons: Queer Wars. Aus dem Englischen von Hans Freundl. Wagenbach, Berlin 2017. 160 Seiten, 18 Euro.

Waffensammler und Reichsbürger

Dorfen, Oberbayern, 1988: Ein gut integrierter Jugoslawe will sich auf einer Polizeiwache seine konfiszierten Waffen zurückholen. Anschließend sind drei bayerische Polizisten tot, und ein Neonazi läuft Amok, um sich an Ausländern zu rächen. Fast 30 Jahre später nimmt der Münchener Sozialarbeiter und Schriftsteller Leonhard F. Seidl die Ereignisse von Dorfen zum Anlass, eine aktualisierte und literarische Spurensuche zu veröffentlichen. Das Ergebnis heißt "Fronten", ist ein politischer Kriminalroman und spielt im Oberbayern des Jahres 2016. Nun tötet ein bosnischer Waffensammler Polizisten, und ein junger Reichsbürger, der weder die Bundesrepublik Deutschland noch ihre Gesetze oder Beamten anerkennt, versucht wie einst jener Neonazi Rache zu nehmen – in einer Moschee. Anhand alter Akten, vieler Gespräche und einer der Gegenwart angepassten Handlung gelingen Seidl erhellende Psychogramme seiner Hauptfiguren. Familiäre Zwänge, Wahngebilde, Rückgriffe auf die Vergangenheit, selbstgewählte oder erzwungene gesellschaftliche Isolation – Seidls Figuren kommen uns beim Lesen erschreckend nahe. Und auch die dörfliche Atmosphäre in Oberbayern fängt er gekonnt ein. "Fronten" ist ein bissiges, bisweilen brutales Buch, dessen Autor ebenso bissig Partei ergreift: zugunsten der Menschlichkeit.

Leonhard F. Seidl: Fronten. Nautilus, Hamburg 2017. 160 Seiten, 16 Euro.

Hilfe als Ware

Humanitäre Organisationen helfen Menschen in Notlagen. Aber wem genau, wann, unter welchen Bedingungen und ­warum? Monika Krause, Wissenschaftlerin an der London School of Economics and Political Science, wendet sich mit den Mitteln der empirischen Organisationssoziologie den Entscheidungsprozessen in humanitären Hilfsorganisationen wie dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz und Ärzte ohne Grenzen zu. Sie analysiert deren Arbeit im Kontext von Geberstaaten und -Institutionen, organisationsspezifischen Grundlagen und Abläufen sowie dem Bedarf der Hilfsbedürftigen. Demnach produzieren Hilfsorganisationen überwiegend Projekte, die anschließend auf einem Projektmarkt gehandelt werden. So wird humanitäre Hilfe zur Ware, um die die Ärmsten der Welt konkurrieren. Im Ergebnis steht "eine fragmentierte Vernunft", denn nur jene Hilfe, die "projektierbar" ist, hat Chancen, als kurz-, mittel- oder langfristige Hilfsmaßnahme realisiert zu werden. "Das gute Projekt" ist kein einfach zu lesendes Buch. Es setzt vertiefte Kenntnisse in Soziologie voraus und zielt auf eine Leserschaft, die selbst in NGOs tätig ist, regelmäßig mit ihnen zusammenarbeitet oder sich wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigt. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, stößt auf ein anregendes, hilfreiches und kritisches Werk zur Theorie und ­Praxis der humanitären Hilfe.

Monika Krause: Das gute Projekt. Humanitäre Hilfsorganisationen und die Fragmentierung der Vernunft. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Hamburger Edition, Hamburg 2017. 272 Seiten, 32 Euro.

Weder schwarz noch weiß

"Starr-Starr, du machst alles, was sie sagen. Halt deine Hände so, dass man sie sieht. Mach keine plötzlichen Bewegungen. Red nur, wenn du was gefragt wirst." Starr ist gerade mal zwölf Jahre alt, als ihr Vater diese Sätze zu ihr sagt. Sätze, die ihr nur vier Jahre später das Leben retten, als sie auf dem Heimweg von einer Party von einer Polizeistreife angehalten wird. Khalil, der am Steuer des Autos sitzt, kennt diese Verhaltensregeln offenbar nicht. Und so muss die 16-Jährige mitansehen, wie ihr Freund von einem weißen Cop mit der Dienstnummer "Einhundertfünfzehn" erschossen wird – durch drei Schüsse in den Rücken. In ihrem Debütroman erzählt Angie Thomas eine erschütternde Geschichte zu einem brandaktuellen Thema: Polizeigewalt gegen Schwarze in den USA. Vielschichtig und niemals einseitig nimmt sie das Leben des Mädchens und ihrer Familie in den Blick, schildert Rassismus, Ghettoisierung, Drogenkriminalität, rivalisierende Banden. Die Grenzen zwischen Schwarz und Weiß, Arm und Reich weicht sie dabei ebenso gekonnt auf wie die Zuschreibungen von Gut und Böse: Starr wächst zwar in einem schwarzen Ghetto auf, besucht aber eine Privatschule im reichen Teil der Stadt und hat einen weißen Freund. Ihr Onkel ist ein Kollege von "Einhundertfünfzehn". Ein absolut lesenswertes Buch, auch für Erwachsene.

Angie Thomas: The Hate U Give. Aus dem Amerikanischen von Henriette Zeltner. cbt, München 2017. 512 Seiten, 17,99 Euro. Ab 14 Jahren.

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